Z-Forschung während und nach der NS-Zeit, Teil 1 – allgemeine Einordnung
Hinweis: Das Gendern der Selbstbezeichnungen Sinti/Sintizze und Roma/Romnja in der Form „Sinti*zze“ bzw. „Rom*nja“ (oder auch mit Doppelpunkt) wird von großen Teilen der Communitys der Minderheit abgelehnt, weil es zum einen als der Grammatik des Romanes widersprechend und zum anderen als neue Fremdbezeichnung angesehen wird. Aktuellen Empfehlungen mehrerer Selbstorganisationen folgend, benutze ich daher die Plural-Termini „Sinti“ und „Roma“ geschlechtsneutral.1 – Das Z-Wort, eine diffamierende Fremdbezeichnung, erscheint in diesem Text selbstverständlich nur als zitierter Quellenbegriff. In manchen neueren Publikationen wird das Wort, wo es zitiert werden muss, durchgestrichen, um die Distanzierung zu verdeutlichen. Hierauf habe ich verzichtet, um die Gewalthaltigkeit der Quellensprache sichtbar zu lassen.
Frauen als Täterinnen
Die frauen- und geschlechtergeschichtliche Forschung hat seit den 1980er-Jahren herausgearbeitet, dass Frauen im nationalsozialistischen Deutschland, sofern sie als „arisch“ galten, unterschiedliche Handlungs- und Karriereoptionen wahrnehmen konnten – zwar waren hohe Leitungs- und Entscheidungspositionen fast gänzlich Männern vorbehalten, dennoch gab es auch für Frauen die Möglichkeit, auf unterschiedlichen Ebenen Macht auszuüben und als Täterinnen von NS-Verbrechen zu agieren.2
Bei der Verfolgung der Sinti und Roma, die zur Ermordung Hunderttausender Menschen führte, zeigt sich dies sehr markant. Ein Grund hierfür ist, dass sich in Bezug auf die als „Zigeuner“ etikettierten Menschen biologistisch-rassistische und sozial stigmatisierende Zuschreibungen in besonderer Weise verschränkten (angeblich „rassisch“ bedingte „Asozialität“ und Kriminalität), weshalb unter anderem bestimmte frauenspezifische Berufsfelder in die Verfolgung der Minderheit involviert waren: Fürsorgerinnen3 etwa erstatteten denunziatorische Berichte über Sinti-Familien an Fürsorge- und Polizeibehörden.4 Ein solcher Bericht diente zum Beispiel der Hamburger Sozialverwaltung 1939 als Argumentationshilfe für die geplante Einrichtung eines Zwangslagers für Sinti und Roma, die jedoch nicht realisiert wurde, als sich nach Kriegsbeginn die Deportationen in das besetzte Polen abzeichneten.5 Beamtinnen der Weiblichen Kriminalpolizei (WKP) waren an der Einweisung jugendlicher Sinti und Roma in Jugend-Konzentrationslager (sogenannte „Jugendschutz-“ bzw. „Jugendverwahrlager“) sowie an Deportationen in Vernichtungslager beteiligt.6
Strukturelle Verfolgung
Eine zentrale Rolle in der Verfolgungs- und Mordpolitik gegenüber den Sinti und Roma spielte die Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle (RHF), die 1936 im Reichsgesundheitsamt in Berlin begründet wurde. Ihre Hauptaufgabe war die Erfassung und Beforschung der Sinti und Roma im Deutschen Reich, um Grundlagen für die „Lösung“ der sogenannten „Zigeunerfrage“ im Sinne des NS-Regimes zu liefern. Hierzu diente insbesondere der Aufbau eines „Zigeunersippenarchivs“. Arbeitsgruppen der RHF reisten durchs Reich, um Sinti und Roma zu erfassen, ihre Familienverhältnisse auszuforschen und sie rassenanthropologisch zu untersuchen. Auskünfte wurden durch Drohungen mit KZ-Haft und Anwendung körperlicher Gewalt erzwungen oder durch Täuschung über den Zweck der Fragen, kleine Geschenke sowie die Anwendung angeeigneter Romanes-Kenntnisse erschlichen. Vielen Überlebenden blieben diese Befragungen nachdrücklich in Erinnerung.7 Daraus gingen umfangreiche Genealogien hervor, auf deren Grundlage insgesamt über 20.000 „gutachtliche Äußerungen“ über die „rassische“ Zuordnung von Personen erstellt wurden, von „Z“ („Vollzigeuner“) über „ZM“ („Zigeunermischling“) bis „NZ“ („Nichtzigeuner“). Die Einstufungen der RHF bildeten eine zentrale Grundlage für Maßnahmen wie Zwangssterilisationen und Deportationen in Konzentrations- und Vernichtungslager. Im Rahmen seiner engen Zusammenarbeit mit dem Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) machte der Leiter der RHF, der Psychiater und Kriminalbiologe Robert Ritter (1901–1951), diverse Vorschläge für eine „Lösung“ der „Zigeunerfrage“, die in die Maßnahmen des NS-Regimes einflossen.8
Unter den von ihm ausgewählten Mitarbeiter*innen der RHF ist ein bemerkenswert hoher Frauenanteil festzustellen, und zwar – anders als in anderen Institutionen – nicht erst notgedrungen während des Krieges, sondern bereits ab der Gründung.9 Von den acht Wissenschaftler*innen, die nachgewiesenermaßen an der RHF arbeiteten, waren drei Frauen: Eva Justin (1909–1966), Sophie Ehrhardt (1902–1990) und Ruth Hesse, verheiratete Kellermann (1913–1999). Daneben gab es zahlreiche genealogische und technische Assistentinnen, die auch an den Begutachtungen beteiligt waren und ohne die die massenhafte Erfassung nicht möglich gewesen wäre – soweit bekannt, durchweg Frauen. Von mehreren ist bekannt, dass sie ausgebildete Fürsorgerinnen waren.10 Robert Ritter warb gezielt Mitarbeiterinnen aus dieser Berufsgruppe an.11 Ferner gab es mindestens zwei Fotografinnen sowie weibliches Büropersonal, das einem männlichen Büroleiter unterstand. Nachdem die RHF zunächst mit drei Mitarbeiter*innen begonnen hatte, sollen dort Anfang der 1940er–Jahre ca. 12 bis 16 Personen beschäftigt gewesen sein.12
Teil 2 dieses Essays beleuchtet die Biografien und Tätigkeiten von Eva Justin, Sophie Ehrhardt und Ruth Kellermann näher.
- Michelsen, Jakob
- Digitales Deutsches Frauenarchiv
- CC BY-SA 4.0
Fußnoten
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1
Beschluss der Mitgliederversammlung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma – „Über die Kontroverse zum Gendern der Selbstbezeichnung Sinti und Roma“, 18.10.2024, Zugriff am 2.2.2025 unter https://zentralrat.sintiundroma.de/wp-content/uploads/2024/10/stellungnahme-kontroverse-zum-gendern-der-selbstbezeichnung.pdf.
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2
Ebbinghaus, Angelika (Hg.): Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des Nationalsozialismus, Nördlingen 1987; Schubert-Lehnhardt, Viola / Korch, Sylvia (Hg.): Frauen als Täterinnen und Mittäterinnen im Nationalsozialismus. Gestaltungsspielräume und Handlungsmöglichkeiten, Halle 2006; Steinbacher, Sybille (Hg.): Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft, Göttingen 2007; Kompisch, Kathrin: Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus, Köln/Weimar/Wien 2008; Krauss, Marita (Hg.): Sie waren dabei. Mitläuferinnen, Nutznießerinnen, Täterinnen im Nationalsozialismus, Göttingen 2008; Steinbacher, Sybille: Differenz der Geschlechter? Chancen und Schranken für die „Volksgenossinnen“, in: Bajohr, Frank / Wildt, Michael (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009, S. 94–104.
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3
Toppe, Sabine, 21.11.2022: Mitläuferinnen, Nutznießerinnen und Täterinnen – die Beteiligung von Fürsorgerinnen im Nationalsozialismus, Zugriff am 10.9.2023 unter https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/mitlaeuferinnen-nutzniesserinnen-und-taeterinnen.
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4
Staatsarchiv Hamburg (im Folgenden: StAHH), 354-5 I, 359 b, Bl. 6 und 11–12.
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5
StAHH, 351-10 I, AF 83.73, Bl. 10–11. Zu den Planungen für das Hamburger „Zigeunerlager“: Lohalm, Uwe: Diskriminierung und Ausgrenzung „zigeunerischer Personen“ in Hamburg 1933 bis 1939, in: Wünsche, Viviane et al.: Die nationalsozialistische Verfolgung Hamburger Roma und Sinti. Fünf Beiträge, Hamburg 2006, S. 31–60, hier S. 52–60; Prehn, Ulrich: „… dass Hamburg mit als erste Stadt an den Abtransport herangeht“. Die nationalsozialistische Verfolgung der Sinti und Roma in Hamburg, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 14), Bremen 2012, S. 35–54, hier S. 41–42; Weiß, Arnold et al.: Zwei Welten. Sinti und Roma – Schritte zur Anerkennung als NS-Verfolgte und antiziganistische Kontinuität. Hg. vom Landesverein der Sinti in Hamburg e. V., Berlin 2022, S. 30–34.
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6
Meier, Verena: Täterinnen der Weiblichen Kriminalpolizei bei der NS-Verfolgung von Sinti*ze und Romn*ja, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 33. Jg., 2022, H. 3, S. 144–166, hier S. 158–162.
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7
Zahlreiche Belege werden genannt in Weiß et al.: Zwei Welten, S. 220–221, Anm. 37, und S. 222–223, Anm. 46.
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8
Hohmann, Joachim S.: Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie. „Zigeunerforschung“ im Nationalsozialismus und in Westdeutschland im Zeichen des Rassismus, Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1991 (trotz unzulänglicher Quellennachweise und einzelner Fehler immer noch wichtig wegen des umfangreichen Materials); Zimmermann, Michael: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996, S. 126–162; Rose, Romani (Hg.): „Den Rauch hatten wir täglich vor Augen“. Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma, Heidelberg 1999, S. 51–62; Luchterhandt, Martin: Der Weg nach Birkenau. Entstehung und Verlauf der nationalsozialistischen Verfolgung der ‚Zigeuner‘, Lübeck 2000, S. 123–137, 172–183, 206–242, 259–265 und 310–319; Danckwortt, Barbara: Wissenschaft oder Pseudowissenschaft? Die „Rassenhygienische Forschungsstelle“ am Reichsgesundheitsamt, in: Hahn, Judith et al. (Hg.): Medizin im Nationalsozialismus und das System der Konzentrationslager. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums, Frankfurt a. M. 2005, S. 140–164; mehrere Beiträge in Zimmermann, Michael (Hg.): Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007; Rose, Romani (Hg.): Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma. Katalog zur ständigen Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz, Heidelberg 22010, S. 32–37; Schmidt-Degenhard, Tobias: Vermessen und Vernichten. Der NS-„Zigeunerforscher“ Robert Ritter, Stuttgart 2012.
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9
Die Informationen zur Zusammensetzung des RHF-Personals wurden entnommen aus: Hohmann: Robert Ritter; Luchterhandt: Der Weg nach Birkenau; Schmidt-Degenhard: Vermessen und Vernichten; Opfermann, Ulrich F., 29.10.2021: Zum Umgang der deutschen Justiz mit an der Roma-Minderheit begangenen NS-Verbrechen nach 1945. Das Sammelverfahren zum „Zigeunerkomplex“ (1958–1970), Zugriff am 10.9.2023 unter https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/heimat-integration/antiziganismus/opfermann-nsg-verfahren.html; Opfermann, Ulrich Friedrich: „Stets korrekt und human“. Der Umgang der westdeutschen Justiz mit dem NS-Völkermord an den Sinti und Roma, Heidelberg 2023, S. 249–412, Zugriff am 2.2.2025 unter: https://heiup.uni-heidelberg.de/catalog/book/949.
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10
Für genauere quantitative Angaben fehlt es bisher an detaillierten Untersuchungen, zumal auch die personellen Verflechtungen mit dem Kriminalbiologischen Institut der Sicherheitspolizei, dessen Leitung Ritter 1941 zusätzlich übernahm, zum Teil unklar sind.
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11
Luchterhandt: Der Weg nach Birkenau, S. 131; Hohmann: Robert Ritter, S. 544.
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12
Luchterhandt: Der Weg nach Birkenau, S. 126–127; Hohmann: Robert Ritter, S. 541–542.
Ausgewählte Publikationen
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KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, H. 14, Bremen 2012.
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Lotto-Kusche, Sebastian: Der Völkermord an den Sinti und Roma und die Bundesrepublik. Der lange Weg zur Anerkennung 1949–1990, Berlin/Boston 2022.
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Luchterhandt, Martin: Der Weg nach Birkenau. Entstehung und Verlauf der nationalsozialistischen Verfolgung der ‚Zigeuner‘, Lübeck 2000.
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Mengersen, Oliver von (Hg.): Sinti und Roma. Eine deutsche Minderheit zwischen Diskriminierung und Emanzipation, Bonn/München 2015.
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Rose, Romani (Hg.): Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma. Katalog zur ständigen Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz, Heidelberg 22010.
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Schmidt-Degenhard, Tobias: Vermessen und Vernichten. Der NS-„Zigeunerforscher“ Robert Ritter, Stuttgart 2012.
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Weiß, Arnold et al.: Zwei Welten. Sinti und Roma – Schritte zur Anerkennung als NS-Verfolgte und antiziganistische Kontinuität. Hg. vom Landesverein der Sinti in Hamburg e. V., Berlin 2022.
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Zimmermann, Michael: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996.
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Zimmermann, Michael (Hg.): Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007.
