Wir wollten nicht mehr auf die Revolution warten - Die Bochumer Frauen- und Lesbenbewegung in den 1970er-Jahren

verfasst von
  • Linda Unger
veröffentlicht
In den 1970er-Jahren war das Ruhrgebiet eine Region im Umbruch, geprägt durch das Ende des Kohlebergbaus. Frauen, die alles verändern wollten, organisierten sich in einem Kontext, in dem sich gerade alles veränderte – in dem Wandel nicht nur möglich erschien, sondern unvermeidlich zum Alltag gehörte.

1965, inmitten von Zechensterben und Rezession, fand in Bochum eine soziale, kulturelle und wirtschaftliche Weichenstellung statt: Die Ruhr-Universität nahm ihren Lehrbetrieb auf. Sie zog vor allem viele linke StudentInnen an, die sich mit der Arbeiterschaft solidarisieren wollten. Mehr Mädchen aus Arbeiterfamilien machten Abitur und durften in der naheliegenden Universität studieren. Frauen, die sonst wenig miteinander zu tun hatten, trafen aufeinander: Töchter aus bürgerlichen Familien, Frauen aus der Arbeiterschicht, Migrantinnen. Gab es Berührungspunkte, Begegnungen, Gelegenheiten, voneinander zu lernen? 

Frauengruppe Bochum – Autonomie statt Nebenwiderspruch

Wie in vielen anderen Städten entstand auch an der Bochumer Ruhr-Uni im Jahr 1969 ein Weiberrat im Sozialistischen Studentenbund (SDS).  Auch die Studentinnen, die zwei Jahre später die ‚Sozialistische Frauengruppe Bochum‘ ins Leben riefen, waren zunächst in der linken Szene aktiv. Doch dort war die Frauenfrage ein Nebenwiderspruch, welcher mit dem Ende des Kapitalismus automatisch gelöst sein sollte. Die ‚Sozialistische Frauengruppe Bochum‘ gründete sich als autonome Frauengruppe – unabhängig von Parteien und von Männern und nannte sich bald einfach ‚Frauengruppe Bochum‘. „Wir wollten nicht mehr auf die Revolution warten“, berichtet eine Zeitzeugin.1 In der überwiegend studentischen Gruppe begegneten sich Frauen aus verschiedenen Milieus, der gemeinsame Nenner ,Frau‘ wurde wichtiger als Klassenunterschiede. 

Die Frauengruppe traf sich zunächst in einer Wohngemeinschaft in der Nachbarstadt Witten. Um sichtbarer zu werden, gab es ab 1974 wöchentliche Treffen in einem Raum an der Ruhr-Uni. Aber die Verortung an der Universität reichte den Frauen nicht. Sie mieteten ein innenstadtnahes Ladenlokal in der Schmidtstraße 12 an, das am 8. März 1975 als ‚Frauenladen‘ eröffnet wurde. Den Kern bildeten rund 40 Frauen. Rasch entwickelten sich Stadtteilgruppen sowie Untergruppen mit verschiedenen Schwerpunktthemen: § 218, Gewalt gegen Frauen, Lohn für Hausarbeit, ab 1976 eine Lesbengruppe, eine Frauenhausinitiative und später eine Initiative für ein feministisches Frauengesundheitszentrum. Zentral war das wöchentliche Plenum, auf dem Grundsatzdiskussionen geführt, Aktionen geplant und Organisatorisches abgesprochen wurde. 

Flugblatt zur Eröffnung des Frauenladens der Frauengruppe Bochum am 8.3.1975
Flugblatt zu Informationstagen im Frauenladen Bochum vom 29.2. bis 4.10.1975

frauen erhebt euch, und die welt erlebt euch!

Grundlegend für das Denken und Handeln der Frauengruppe war eine Politik der Subjektivität. Die Suche nach einer feministischen Theorie, die das eigene Leben als Frau in dieser Gesellschaft erklärt, war allgegenwärtig. Die Frauen entwickelten ihre Patriarchatskritik ‚von unten‘ und ihre politischen Widerstandsaktionen gegen Männergewalt auf allen Ebenen gingen Hand in Hand mit der Bildung einer feministischen Theorie. Aktionen auf der Straße machten die Aktivistinnen sichtbar und riefen andere Frauen zum Mitmachen auf. Dies geschah – ohne Internet, Social Media und Smartphones – auch über selbst hergestellte Aufkleber, Flugblätter und Plakate. Frauen/Lesbenzeichen, Parolen und Sprüche wurden an Wände gesprüht.

Plakat der Frauengruppe Bochum "Aktionstage im Frauenladen"
Flugblatt zur Informationsveranstaltung im Vorfeld des BVG-Urteils zum § 218 / Fristenlösung (25.2.1975) im "neuen Frauenzentrum" am 19.2.1975

Daneben studierten die Frauen kritisch gegenüber patriarchal geprägter Wissenschaft. Sie verfügten über Freiräume, die heute durch Bologna-Gesetze und Hartz-IV-Sanktionen stark eingeschränkt sind. Diese Freiräume füllten sie mit dem Kampf für ihre Befreiung. Sie entwickelten 1975 ein autonom organisiertes Frauenseminar, hinterfragten Strukturen an den Universitäten und den akademischen Sprachgebrauch. Die Protestkultur der ArbeiterInnenschicht wirkte auch in der Frauenbewegung weiter. Die Frauen aus der Schmidtstraße 12 stellten sich zu Beginn der Frühschicht mit Flugblättern, die den § 218 und Gewalt gegen Frauen anprangerten, vor Bochumer Betriebe wie Radio Graetz oder die Kabelwerke Reinshagen, in denen überwiegend Frauen arbeiteten. 

Zusätzlich zu ihrem Aktivismus vor Ort reisten die Frauen zu internationalen und nationalen Frauenkongressen. 1974 organisierten sie einen solchen auch in Bochum. 

Auch dass Frauen mit Frauen feierten und tanzten, war ein revolutionärer Akt. Highlights waren die Frauenfeste mit den Auftritten der Flying Lesbians – damals Lilith – aus West-Berlin und Jam Today aus London. „frauen erhebt euch, und die welt erlebt euch“2 brachten die Flying Lesbians 1975 die Stimmung auf den Punkt.

Plakat der Frauengruppe Bochum zum 1. Frauenfest im Ruhrgebiet
Plakat der Frauengruppe Bochum zum 2. Frauenfest

Die Feministin von nebenan

Die Selbstbezeichnung als Feministin war damals eine Provokation, das F-Wort galt als Diffamierung. Zeitungsberichte stellten feministische Aktivitäten oft verzerrt dar. Im aufgeheizten Klima des Herbstes 1977 wurden Feministinnen in die Nähe von ‚Terroristinnen‘ gerückt. Kriminalisierung war allgegenwärtig. Das Verteilen von Flugblättern auf dem Wochenmarkt war üblich, aber verboten – eine Aktivistin wurde deshalb festgenommen. 

Ein Ziel war es, Hausfrauen in der Nachbarschaft des Frauenzentrums kennenzulernen, über deren Leben und Alltag die Studentinnen wenig wussten. Die Frauengruppe entwickelte einen Fragebogen, mit dem sie ihre Nachbarinnen besuchten. Auch wenn viele Hausfrauen nicht an Demos und Protestaktionen teilnahmen, sahen sie, dass dort auch ihre Interessen vertreten wurden, zum Beispiel beim Thema Abtreibung.

In Bergbau und in der Schwerindustrie verloren immer mehr Männer ihre Arbeit, dies veränderte die Dynamik in vielen Familien. Die Feministinnen waren beeindruckt von dem Selbstbewusstsein der Arbeiterfrauen, von denen sich einige in der Opelfrauengruppe organisierten: Meist waren sie es, die das Geld verwalteten, etwas dazuverdienten und unbezahlt arbeiteten. So entstand in der Bochumer Frauenbewegung der Slogan: ‚Gleichen Lohn für Mann und Frau - Nein! Frauen arbeiten mehr, Frauen müssen mehr verdienen!‘ 

Austausch mit Migrantinnen gab es beim ‚Ausländerfest‘ auf der Burg Kemnade im Süden Bochums und durch die Solidarität mit iranischen Exilantinnen oder mit Chileninnen, die vor der Pinochet-Diktatur geflohen waren, sowie durch die Ferienjobs, die frau in Fabriken ausübte. 

Opfer sein

Der Begriff ‚Opfer‘ war in den 1970er-Jahren eine Analysekategorie, um patriarchale Machtverhältnisse besser zu verstehen und die üblichen Schuldzuweisungen an Frauen seitens der Gesellschaft abzuwehren. Sich selbst im Unterdrückungsverhältnis zu Männern als Opfer zu bezeichnen, bedeutete einen Erkenntnisgewinn über die eigene Lage als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft. ‚Opfer‘ wurde insofern als positive Kategorie benutzt, zumal der Widerstand gegen die Opferrolle unmittelbar mitgedacht wurde. 

Viele Frauen trampten zur Ruhr-Uni, häufig wurden Anhalterinnen vergewaltigt. Die Bochumer Frauengruppe „Frauen gegen Gewalt gegen Frauen“ entwickelte die Aktion ‚Frauen nehmen Frauen mit‘. Ein roter Aufkleber am Auto, der ‚Rote Punkt‘ in ein Frauenzeichen transformiert, wurde zum Kennzeichen für Anhalterinnen und wurde bald in der ganzen BRD verwendet.

Flugblatt mit Aufkleber (Roter Punkt) zur "Rote Punkt Aktion für Frauen nehmen Frauen mit", mit Hinweis zum Ausschneiden des Roten Punkts

Zu einer bundesweiten Protestform gegen Männergewalt entwickelten sich die Walpurgisnacht-Demos, die immer am 30. April stattfanden: Unter dem Motto ‚Frauen, wir erobern uns die Nacht zurück‘ trafen sich 1977 erstmals rund 100 Frauen aus Bochum und Umgebung in der Innenstadt und veranstalteten von dort aus einen Fackelzug durch ein Kneipenviertel. Am Ende tanzten sie – in bester Hexen-Walpurgisnacht-Tradition – um ein Feuer und verbrannten BHs.

Bei der zweiten Walpurgisnacht-Demo mit 200 bis 300 Frauen ein Jahr später war deutlich mehr Polizei anwesend. Es kam zu willkürlichen Festnahmen und später zum Prozess, dessen Einstellung Anwältinnen erreichten. Bei jeder Demonstration trug frau die Telefonnummer einer Anwältin bei sich. Prozesse wurden damals (frauen)politisch genutzt, mit diesem Prozess wurde Gewalt gegen Frauen zu einem öffentlichen Thema gemacht – keine der Angeklagten sagte zur Sache aus, sondern äußerte sich politisch. Geldstrafen zahlten alle gemeinsam. 

Aufkleber zur Walpurgisnacht "Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen"

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum § 218 im Februar 1975, mit dem die Fristenregelung abgelehnt wurde, war eine Entscheidung gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Die Frauengruppe zog daraufhin in einem ‚volkstümlichen spontanen Umzug‘ – der bei der Stadt nicht angemeldet werden musste – mit Akkordeon, Gesang, Flugblättern und der Attrappe einer bei einer Abtreibung gestorbenen Frau durch die Haupteinkaufsstraße, um für die völlige Abschaffung des § 218 zu demonstrieren. 

Aufkleber "Lesbenzentrum Bochum"

Die lesbische Avantgarde

Innerhalb der Frauengruppe entstand ein Konflikt zwischen heterosexuellen Frauen und Lesben. Die jeweils unterschiedlichen Lebensentwürfe, Diskriminierungserfahrungen oder Auslegungen des Begriffs ‚autonom‘ führten dazu, dass Lesben mit ausschließlich Lesben politisch arbeiten wollten. Viele Frauen wurden in der Frauenbewegung lesbisch. Es ging ihnen nicht um Lesbischsein als ‚sexuelle Orientierung‘, sondern darum, aus ihrem Leben als Lesben eine politische Perspektive abzuleiten. Sie wollten eine Alternative zum Heteraleben im Patriarchat auf allen Ebenen entwickeln, sie wollten ihre Energie und ihr Engagement Frauen zur Verfügung stellen und mit ihnen Lebens- und Gesellschaftsentwürfe entwickeln. Viele ‚Heteras‘ wiederum fühlten sich unter Druck gesetzt, weil für ihr Begehren und Teile ihrer Lebenswelt Männer weiterhin eine Rolle spielten.

Auslöser für die Gründung eines eigenen Lesbenzentrums war ein besonderer Vorfall: Nachdem sich beim Fest Kemnade International zwei Frauen vor dem Stand der Frauenhausinitiative küssten und einige aus dieser Gruppe daran Anstoß nahmen, reichte es den Lesben. Sie hatten Heteras bei Themen wie dem § 218 oder Männergewalt in Beziehungen immer unterstützt und waren von dem sich nun zeigenden Mangel an Solidarität enttäuscht. So gründeten sie im Herbst 1977 das Lesbenzentrum in der Goldhammer Straße, dessen Fenster mit der Aufschrift ‚Lesbenzentrum‘ prompt von Unbekannten eingeschlagen wurde. Die Lesbengruppe bat daraufhin um Spenden mit dem Betreff ‚Scherben bringen Glück‘. Trotz aller Anfeindungen und Widerstände nutzten die Frauen das Lesbenzentrum gut zwei Jahre lang. Als im Frauenzentrum 1978 ein Frauenbuchladen entstand, engagierten sich dort Heteras und Lesben gemeinsam.

Das nächste Kapitel

Mit der Berufstätigkeit, dem Umzug in andere Städte und dem Engagement jüngerer Frauen änderten sich Organisationsformen und Themen. Feministinnen wurden im Ökologiebereich aktiv, demonstrierten gegen AKWs, führten Diskussionen zur Lage der Frauen in aller Welt und ihrem Verhältnis zueinander und zum Machtverhältnis zwischen Frauen der ‚Ersten Welt‘ zu Frauen der ‚Dritten Welt‘. Die Frauenbewegung brachte die Frauenforschung in die Universitäten und der Frauenbuchladen blieb fast drei Jahrzehnte lang ein überregionaler Begegnungsort für viele feministische Gruppen und einzelne Frauen.

Bochum, dessen Strukturwandel und Identitätsfindung bis heute andauern, hat die längste Kontinuität feministischer Archive in der Region, mit dem Madonna-Archiv, dem Frauenarchiv, das 1978 an der RUB gegründet wurde (heute: Lieselle) und seit 1995 dem Frauenarchiv ausZeiten, in dem die Nachlässe der Bochumer Frauenbewegung ab 1969 aufbewahrt werden.

Veröffentlicht: 09. April 2019
Verfasst von
Linda Unger

geb. 1978. Magistra in British Cultural Studies, Neuerer Geschichte und Philosophie. Feministische Aktivistin, Buchhändlerin, Coach. Sie ist seit 2007 im Frauenarchiv ausZeiten engagiert und leitet seit 2008 den Bochumer Frauenstadtrundgang.

Empfohlene Zitierweise
Linda Unger (2024): Wir wollten nicht mehr auf die Revolution warten - Die Bochumer Frauen- und Lesbenbewegung in den 1970er-Jahren, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/wir-wollten-nicht-mehr-auf-die-revolution-warten-die-bochumer-frauen-und-lesbenbewegung
Zuletzt besucht am: 14.10.2024

Fußnoten

  1. 1 Rita Kronauer im Interview mit Linda Unger, Bochum, 5.7.2018.
  2. 2 Flying Lesbians: frauen, erhebt euch!, auf der LP: Flying Lesbians, West-Berlin, Dezember 1975.

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