Wer hat Angst vor der Doppelaxt?

verfasst von
  • Linda Unger
veröffentlicht
Wie der Kuss zweier Frauen auf der Bochumer Kemnade für Unruhe sorgte, Frauen ergebnisoffen ihre Sexualität hinterfragten und damit das Wir-Gefühl der Frauenbewegung ins Wanken geriet – ein Blick in die Geschichte des Bochumer Lesbenzentrums in den 1970er Jahren.

Ist der Ruf erst ruiniert

Lesben waren und sind eine treibende Kraft der Frauenbewegung, wurden in ihr aber oft als ‚rufschädigend‘ bezeichnet und unsichtbar gemacht: Als sich 1977 zwei Frauen vor dem Stand der Frauenhausinitiative Bochum beim Ruhrgebietsfestival ‚Kemnade1 international‘ küssten, fanden Heteras2 dies abschreckend für potenzielle UnterstützerInnen. Lesben waren solidarisch, wenn es um Probleme von Heteras ging: Gewalt in Beziehungen mit Männern, Verhütung, Recht auf Abtreibung. Umgekehrt vermissten sie aber oft die Solidarität von Heteras. Deshalb gründeten Bochumer Lesben 1977 ein Lesbenzentrum, separat vom seit 1975 bestehenden Frauenzentrum. 
Schon 1976 fand sich im Bochumer Frauenzentrum eine Lesbengruppe, denn es gab unterschiedliche feministische Anliegen und Ziele – Frausein war kein gemeinsamer Nenner mehr. 

Rundbrief zur Eröffnung des Lesbenzetrums am 3.12.1977
Argumente zur Notwendigkeit der Gründung einer Lesbengruppe und Diskussionsvorschlag für die Lesbengruppe, 1976

Lesbisch, Hetera – Was heißt das überhaupt?

Die Frauen- und Lesbenbewegung setzte Normen und Werte, um einer heterosexistisch strukturierten Gesellschaft, in der Frauen um die Aufmerksamkeit von Männern zueinander in Konkurrenz treten, etwas entgegenzusetzen. Aus dieser Erkenntnis heraus hinterfragten auch Frauen aus der autonomen Bochumer Frauenbewegung ihre Sexualität. Es wurde viel experimentiert, es gab Kommunikationsprobleme und Missverständnisse. Frauen fühlten sich zu Frauen hingezogen, aber wie waren Signale zu deuten? ‚Ur-Lesben‘, also Frauen, die schon immer wussten, dass sie lesbisch sind, gab es vereinzelt, ‚Bewegungslesben‘ immer häufiger. Viele verliebten sich in eine Frau und trafen die Entscheidung für ein Leben als Lesbe, für andere blieb es eine Phase. Viele Heteras empfanden innerhalb des Frauenzentrums einen indirekten Druck, lesbisch zu werden. Gleichzeitig war jeder Frau klar, dass die Entscheidung, lesbisch zu leben, Konsequenzen in allen Lebensbereichen haben würde. 

Die Gründung ausschließlich lesbischer Zusammenhänge hatte praktische, politische und persönliche Gründe: In einer Gruppe von Frauen, die mit unterschiedlichen Ergebnissen ihre Sexualität hinterfragten, konnten Lesben nie sicher sein, welche Frau auf Annäherungen wie reagierte. Die allgemeine Offenheit hatte individuelle Grenzen. Wenn eine Hetera eine Lesbe zurückwies, war es schwer, dies nicht als generelle Ablehnung von Lesben aufzufassen – denn Lesben wurden in der Gesellschaft generell ausgegrenzt. Außerdem waren Lesben gelangweilt von den Diskussionen über Männer. Probleme von und mit Heteras nahmen einen großen Raum ein, deshalb brauchten Lesben einen eigenen Ort, an dem ihre Anliegen Priorität hatten. Doch im Frauenzentrum löste der Auszug der Lesben Unverständnis aus – war die Kritik an dem Kuss auf der Kemnade schließlich nicht von den Zentrumsfrauen gekommen. Und wenn im Prozess der Identitätsfindung alles im Fluss war, warum musste frau dann Grenzen ziehen und sich festlegen? 

Regeln brechen, Grenzen ziehen

Lesben erfuhren Ausgrenzung, weil sie die gesellschaftlich erwartete Frauenrolle komplett ablehnten. Eine Zeitzeugin: „Ich wollte als Kind ein Junge sein, weil ich Hosen tragen und eine Freundin haben wollte. Später lernte ich, dass ich das als Frau auch darf.“3 Weil ‚Frau‘ im Patriarchat immer im Verhältnis zu ‚Mann‘ definiert wurde, schrieb die französische Schriftstellerin und Theoretikerin Monique Wittig sogar: „Lesben sind keine Frauen.“4 Eine Frau, die ihre Entscheidungen nicht mehr von der Bestätigung durch Männer abhängig macht, die dadurch nicht mehr eingeschüchtert und kontrolliert wird – wozu ist die am Ende fähig? Lesbischsein war deshalb weitaus mehr als eine ‚sexuelle Orientierung‘, es hatte eine politische Dimension:

Flugblatt "Wer hat Angst vor Lesben?!?", 1977

„In dem Maße, in dem es Lesben gelingt, die übliche Frauenrolle zu durchbrechen, erfahren sie die Sanktion der Gesellschaft, indem man sie ausschließlich auf die Sexualität reduziert und damit ihren Lebenszusammenhang negiert. Die ausschließliche Definition über Sexualität verweigert uns die Problematisierung unseres Privatbereichs als Teil der politischen Praxis und ist Ausdruck der Kontrolle und der Herrschaftsausübung durch das patriarchale System. Solange Sexualität dazu benutzt wird, den Lebenszusammenhang einer Frau zu negieren, verbleibt sie in der Verfügungsgewalt der Männer.“5

Der heutige Begriff der ‚sexuellen Orientierung‘ kommt demnach einer Entpolitisierung gleich, die die heterosexistischen Machtverhältnisse fortschreibt. Weiter im Zitat:

„Frauen lassen sich beherrschen, indem sie diese Diffamierungen ungefragt hinnehmen, dies findet in der Angst vor Lesben ihren Ausdruck. Die Angst vor Lesben bedeutet also nichts anderes als die Annahme der Situation, über sich verfügen zu lassen – die gesellschaftlichen Machtverhältnisse im eigenen Verhalten zu festigen. Gerade weil bei organisierten Lesben der Lebenszusammenhang zur politischen Praxis geworden ist, indem sie Privates und Öffentliches nicht mehr auseinanderdividieren können, werden sie zur Bedrohung dieser Machtverhältnisse.“ 

Verein zur Förderung der Interessen alleinstehender Frauen

Lesben stellten demnach also eine ‚Bedrohung der Machtverhältnisse‘ dar. Die Folgen waren schwere Anfeindungen wie Hetze in der (Boulevard-)Presse, die Unmöglichkeit, eine Kontaktanzeige in der Zeitung aufzugeben oder ständiger Druck zur Anpassung. Die Beschimpfungen als hässlich, krank und pervers, die Gewalt und das Absprechen ihrer Existenzberechtigung führten bei vielen Lesben zu Isolation. In diesem Klima war eine Lesbengruppe, ein Lesbenzentrum lebensverändernd und lebensrettend. Im März 1977 stand das Thema Lesben auf der Tagesordnung des westdeutschlandweiten Frauenkongresses in München. Eine Arbeitsgruppe startete dort den Aufruf, Materialien zur Dokumentation von Diskriminierungen, die Lesben erfahren haben, einzureichen. Die Lesbengruppe im Frauenzentrum übernahm die Zusammenstellung der Beiträge, regte aber an, auch „positive Erfahrungen“ zu sammeln, „z.B. Fälle, in denen Lesben sich durchsetzen konnten“.6

Während die Bochumer Lesben ihre Gruppe als ‚Verein zur Förderung der Interessen alleinstehender Frauen‘ ins Vereinsregister eintragen ließen, schrieben sie offen ‚Lesbenzentrum‘ an die Scheibe ihres neuen Ortes. Die Folge war ein Anschlag auf das Zentrum, bevor es überhaupt richtig eröffnet war. 

Die Anzahl der Frauen im neuen Zentrum stieg schnell von 6 auf 25. Eine Anfrage der Telefonseelsorge an die Bochumer Lesbengruppe mit der Bitte um eine Publikationsliste, um bessere Unterstützung für Lesben und Schwule bieten zu können, zeigt, dass Teile der Gesellschaft umdachten und sensibler wurden. 

Heteras wurden im Bochumer Lesbenzentrum nicht völlig außen vor gelassen. Es gab regelmäßig Frauendiskos, zu denen sowohl Lesben als auch Heteras willkommen waren, und auf Demos ging frau auch weiterhin selbstverständlich gemeinsam. Die Situation bisexueller Frauen wurde kaum thematisiert, sie wurden wahlweise als Nutznießerinnen heterosexueller Privilegien betrachtet oder als Teil des „lesbischen Kontinuums“, als „eine Skala frauenbezogener Erfahrungen, quer durch das Leben jeder einzelnen Frau und quer durch die Geschichte hindurch“7 betrachtet, die eine ursprüngliche tiefe Nähe zwischen Frauen annimmt, die zur Sicherung männlicher Macht unterdrückt wird und dennoch existiert.

Am Ende der Anfang

Die Schließung des Lesbenzentrums 1980 wurde teils als „Niedergang“8 empfunden, teils als normale Entwicklung. Die Gründe waren vielfältig: Der Rückzug von Frauen, die eine Partnerin gefunden hatten und nun mehr Zeit in ihrer Beziehung verbrachten, oder beginnende Berufstätigkeit, die weniger Freiräume für Aktivitäten im Zentrum ließ. Hinzu kommt: Wer damals ein Interesse oder ein Problem hatte, suchte gleichgesinnte Frauen für eine Gruppe. Dort wurden Themen diskutiert, Probleme gemeinsam bearbeitet, Aktionen durchgeführt. Oft trennte sich die Gruppe nach einiger Zeit wieder, um sich anderen Themen zuzuwenden. Insofern war die Schließung eines Zentrums kein grundsätzliches Scheitern. 

Frauenbuchladen Protokoll-Buch

Lesbisch-feministische Aktivitäten wurden in verschiedenen Bochumer Zusammenhängen fortgesetzt: Im Frauenbuchladen, seit 1978 im Frauenzentrum in der Schmidtstraße, arbeiteten Lesben und Heteras zusammen. Lesbenliteratur gehörte selbstverständlich zum Sortiment. Das gemeinsame Interesse überwog, Differenzen wurden anerkannt, aber auch weiterhin diskutiert.

An der Ruhr-Universität wurde 1980 ein neuer Aufruf an Lesben zur Gründung einer Gruppe gestartet, und 1983 entstand einen weitere neue Lesbengruppe. 

Flyer "Unilesben . wo seid ihr? Kommt aus Euren Löchern", 1980
Überlegungen zur Lesbengruppe, 1983

Separatismus kann helfen

In den 1980er-Jahren wurde die Lesben-Hetera-Debatte vor allem auf sprachlicher Ebene sichtbar. Ob es ‚Frauen und Lesben‘, ‚Frauen/Lesben‘ oder ‚Lesben und andere Frauen‘ hieß: Lesben waren in Frauenzusammenhängen nicht mehr unsichtbar.9
1989 kam es in Berlin erneut zu einem Bruch zwischen Heteras und Lesben: Der Begriff ‚Lesbe‘ wurde von einem Demonstrationsaufruf zum 8. März gestrichen mit der Begründung, Migrantinnen würden so von der Teilnahme abgeschreckt. Daraufhin bildeten lesbische Separatistinnen eine eigene Gruppe für politische Arbeit. So war es wohl kein Zufall, dass im selben Jahr ein überregionales Separatistinnentreffen stattfand – in Bochum.10

Die Beispiele aus Bochum und Berlin zeigen: Innerhalb der Frauenbewegung sind Konflikte normal. Ein temporärer oder punktueller Separatismus ist hilfreich und produktiv, weil er letztlich auch die gesamte Bewegung in ihren gemeinsamen Zielen weiterbringt.

Papier für das oder vom Lesbentreffen Februar 1983 zum Thema "Lesbenpolitik"
Veröffentlicht: 28. Juli 2021
Verfasst von
Linda Unger

geb. 1978. Magistra in British Cultural Studies, Neuerer Geschichte und Philosophie. Sie schreibt, postet, singt, coacht und verkauft Bücher. Seit 2007 ist sie im Frauenarchiv ausZeiten engagiert und leitet seit 2008 den Bochumer Frauenstadtrundgang.

Empfohlene Zitierweise
Linda Unger (2024): Wer hat Angst vor der Doppelaxt?, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/wer-hat-angst-vor-der-doppelaxt
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Fußnoten

  1. 1 Wasserschloss im Hattinger Stadtteil Blankenstein, seit 1921 im Besitz der Stadt Bochum.
  2. 2 Im Folgenden als Kurzbezeichnung für heterosexuell lebende bzw. sich selbst als heterosexuell bezeichnende Frauen verwendet.
  3. 3 Gespräch mit Zeitzeugin BF am 10. April 2019, Bochum, S. 1.
  4. 4 Wittig, Monique: Keynote-Rede “The Straight Mind”, Barnard College, New York 1979, Zugriff am 15.03.2021 unter http://sfonline.barnard.edu/sfxxx/sf06.htm, zitiert nach Wittig, Monique: The Straight Mind and Other Essays, Boston 1992, S. 32.
  5. 5 Ina Kuckuc (im Dokument als Ina Kuckuck), Pseudonym von Kokula, Ilse: Der Kampf gegen Unterdrückung, München 1975, S. 15.
  6. 6 Lesbengruppe Bochum: Rundschreiben mit Rückblick auf die Konferenz in München, Bochum 1977, S. 2, Signatur NL-LZBO I, 64.
  7. 7 Rich, Adrienne: Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz, in: Schultz, Dagmar (Hg.): Adrienne Rich und Audre Lorde. Macht und Sinnlichkeit. Ausgewählte Texte, übersetzt von Renate Stendhal, Berlin 1993, S. 158.
  8. 8 Unbekannte Autorin, Nachlass Bochumer Lesbenzentrum, Signatur NL-LZ BO I, 98, Digitalisat: https://www.meta-katalog.eu/Record/24026auszeiten.
  9. 9 Hauser, Margit, 27.6.2019: Centering/Recovering Lesbian Histories and Memories, Zugriff am 15.03.2021 unter https://queeralmsberlin2019.de/centering-recovering-lesbian-histories-memories-1/
  10. 10 Witte, Martina: Lesbische Separatistinnen in der autonomen Szene, aus: Dennert, Gabriele / Leidinger, Christiane /  Rauchut, Franziska (Hg.): In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007, S. 317-318, hier S. 317.

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