Weibliche Genitalverstümmelung: Ein Thema der Neuen Frauenbewegung - bis heute

verfasst von
  • TERRE DES FEMMES e.V.
veröffentlicht 13. September 2018
Traditionsbedingtes Tabu, geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen, gravierende Menschenrechtsverletzung – weibliche Genitalverstümmelung ist seit den 1980er Jahren Thema der Neuen Frauenbewegung. Weltweit wird heute gegen diese frauenfeindliche Praxis gekämpft.

Die weibliche Genitalverstümmelung, im internationalen Kontext als Female Genital Mutilation (FGM) bezeichnet, gehört zu den schwersten Formen von geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzungen an Mädchen und Frauen weltweit. Mitunter ist die Doppelbezeichnung FGM/C geläufig – das „C“ steht für Female Genital Cutting (FGC), d. h. weibliche Genitalbeschneidung. In der Praxis hat sich eine kontextbezogene Bezeichnung etabliert: in der politischen Aufklärungsarbeit ist von Genitalverstümmelung bzw. FGM, im Umgang mit Betroffenen dagegen von „Beschneidung“ bzw. FGC die Rede.1

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Vereinten Nationen (UN) „umfasst FGM alle Praktiken, bei denen das äußere weibliche Genital teilweise oder vollständig entfernt wird sowie andere medizinisch nicht begründete Verletzungen am weiblichen Genital“.2 Dazu unterscheidet die WHO vier Typen, die sich nach dem Schweregrad richten.3 Typ I umfasst die Klitoridektomie, die teilweise oder vollständige Entfernung des äußerlich sichtbaren Teils der Klitoris und/oder der Klitorisvorhaut. Bei Typ II, der Exzision, werden der äußerlich sichtbare Teil der Klitoris sowie die inneren Schamlippen (labia minora) teilweise oder vollständig entfernt, mitunter auch die äußeren Schamlippen (labia majora) verstümmelt. Die schwerwiegendste Form weiblicher Genitalverstümmelung ist Typ III, die Infibulation. Bei diesem Eingriff wird das gesamte äußere weibliche Genital (Klitoris/-vorhaut, Schamlippen) entfernt und die Wunde bis auf eine kleine Öffnung zugenäht, durch die Menstruationsblut und Urin noch abfließen können sollen. Typ IV schließlich beinhaltet jegliche weitere medizinisch nicht begründeten ‚Behandlungen‘ weiblicher Genitalien – etwa durch Einschneiden, Stechen, Ätzen, Kratzen oder Schaben.

 

Die Folgen

Die WHO fasst die kurz- und langfristigen Folgen von FGM in aller Kürze so: „no health benefits, only harm“ – keinerlei gesundheitliche Vorteile, ausschließlich Schädigung und Leid.4 So beschreiben es auch Betroffene wie z.B. Mamouna Quedrago aus Burkina Faso.5

Zu den Schädigungen des Eingriffs, der in der Regel ohne Betäubung vorgenommen wird, gehören laut WHO u. a.:6 extreme Schmerzen, die stark traumatisierend wirken, starke Blutungen bzw. hoher Blutverlust bis hin zum Tod, Schwellungen, Wucherungen und Entzündungen des Genitalgewebes einschl. Abszess- und Fistelbildung, Schwierigkeiten beim Urinieren und Menstruieren.

Zu den möglichen langzeitlichen Folgen gehören je nach FGM-Typ z. B. sexuelle Probleme wie Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, erhöhte Risiken für Geburtskomplikationen und psychologische Probleme.

Ausbildung für die Aufklärung über FGM: ein Interview mit einer Animatrice in Burkina Faso.

 

Weibliche Genitalverstümmelung: Motive und Hintergründe

Allen vier Varianten von FGM liegt die Intention zugrunde, weibliche – insbesondere voreheliche – Sexualität zu kontrollieren bzw. zu unterdrücken. In patriarchalen Strukturen begründet, dient FGM zu deren Aufrechterhaltung und Zementierung.7
Die ‚sexuelle‘ Reinheit, erlangt durch den Akt der Beschneidung, gilt vielen praktizierenden Communities als Garant für Keuschheit und für Treue zum (späteren) Ehemann. Mädchen, bei denen die ‚Jungfräulichkeit‘ durch diese Prozedur als ‚gesichert‘ gilt, erzielen einen höheren Brautpreis.8

Auch religiös-spirituelle Vorschriften, ästhetische Vorstellungen oder medizinische Hygienemythen zur vermeintlichen Unreinheit des unbeschnittenen weiblichen Genitals, werden als Begründungen in verschiedenen Gesellschaften vorgebracht.
Zwar schreibt keine der monotheistischen Religionen in ihren Schriften eine weibliche ‚Beschneidung‘ vor, dennoch praktizieren teils MuslimInnen und auch ChristInnen FGM in Ländern und Gesellschaften, in denen diese Praxis traditionell verankert ist.

Verbreitung von FGM

Nach konservativen Schätzungen sind weltweit mindestens 200 Millionen Mädchen und Frauen betroffen.9 FGM konzentriert sich stark auf den afrikanischen Kontinent, insbesondere den subsaharischen Teil. Auch auf der arabischen Halbinsel (Oman, Jemen) oder in Nahost-Ländern wie dem Irak (unter der kurdischen Minderheit im Norden des Landes) und in Teilen Irans wird FGM praktiziert.10

Bis nach Südostasien ist FGM in unterschiedlichem Ausmaß verbreitet.11
Im Rahmen von Migration ist weibliche Genitalverstümmelung auch in westlichen Ländern zum Thema geworden. Für Deutschland gibt die Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES (TDF) seit 1998 jedes Jahr eine Dunkelzifferstatistik heraus, deren Risikoberechnung auf Daten des Statistischen Bundesamtes sowie von UNICEF und dem Population Reference Bureau beruht. Demnach sind in Deutschland aktuell bis zu 58.000 Mädchen und Frauen von FGM betroffen und rund 13.300 gefährdet.12

Weibliche Genitalverstümmelung: Ein feministisches Thema der Neuen Frauenbewegung – bis heute

Ein selbstkritischer Artikel der Pädagogin Ulla Thiem über weibliche Genitalverstümmelung

Das Problem der weiblichen Genitalverstümmelung ist unter FeministInnen und FrauenrechtsaktivistInnen der Neuen Frauenbewegung ungefähr seit den 1980er Jahren bekannt und politisches Kampagnenthema gegen Gewalt an Frauen. Erste schriftliche Berichte, die auch im Westen gelesen wurden, stammen häufig von selbst betroffenen Frauen – wie etwa der ägyptischen Ärztin und Frauenrechtsaktivistin Nawal el-Saadawi, die ihre eigene Verstümmelung im Kindesalter in ihren feministischen Monographien verarbeitete.

FrauenrechtlerInnen verschiedener Länder thematisieren seither diese zuvor weitgehend unbekannte beziehungsweise tabuisierte Praxis in politischen Kampagnen zur Abschaffung von FGM.

Selbstkritische Reflexionen wie die „Gedanken einer weißen, unbeschnittenen Pädagogin mit deutschem Pass“ 13 sind dabei vor dem Kontext der innerfeministischen Debatten um Standortbestimmungsfragen einzuordnen. Letztere beziehen sich auf zu kritisierende Phänomene, die aus anderen als der eigenen Herkunftsgesellschaften oder -kulturen rühren, und sind seither Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen. Seit erste Aktivistinnen und Organisationen der Neuen Frauenbewegung sich kampagnenpolitisch mit dem Phänomen Genitalverstümmelung aus (zunächst) radikalfeministischer Anti-Gewalt- und (später) menschen-/frauenrechtlicher Perspektive zu befassen begannen und erste Aktionen mit dem Ziel der weltweiten Überwindung von FGM starteten, artikulierten Stimmen aus der Bewegung grundsätzliche Einwände: Den vorgebrachten Universalismus der Menschen- und Frauenrechte kritisierten Teile der Bewegung als in der Tradition des Kolonialismus stehende Bevormundung‚ Einmischung ‚westlicher‘ Frauen gegenüber dem partikularen Recht auf Selbstbestimmung einst unterdrückter Ethnien oder Kulturen.

Aufklärung, Sensibilisierung und Prävention

Dank jahrzehntelanger Bemühungen von Menschenrechts- und Frauenrechtsorganisationen gilt FGM heute in den meisten Ländern als Straftat.14

Neben der strafrechtlichen Verfolgung bedarf es vielschichtiger Bemühungen, um diese tiefverwurzelte Praktik langfristig zu ächten und zu verbannen.
Projekte und Initiativen, die sich vor Ort der Prävention und Abschaffung von FGM widmen, leisten gezielte Aufklärungs-, Sensibilisierungs- und Bildungsarbeit. Sie helfen Betroffenen unter anderem durch Zugang zu medizinischen und psychosozialen Leistungen, schaffen Berufs- und Einkommensalternativen für ehemalige BeschneiderInnen oder bilden diese und andere Gemeinschaftsmitglieder aus, um in ihren Communitys aufzuklären. Auf dem afrikanischen Kontinent selbst sind solche Ansätze bereits seit den 1980er Jahren vorhanden. Das Inter-African Commitee on Traditional Practices Affecting the Health of Women and Children (IAC) – interafrikanisches Komitee zu traditionellen Praktiken, die die Gesundheit von Frauen und Kindern betreffen – ist eine solche, nichtstaatliche Organisation.15

INTEGRA – das Deutsche Netzwerk zur Überwindung weiblicher Genitalverstümmelung bündelt die Arbeitsweisen- und -gebiete der einzelnen Einrichtungen synergetisch auf nationaler Ebene.16

In dem von der EU geförderten Programm CHANGE Plus wurden sogenannte CHANGE-Agents aus afrikanischen Diasporagemeinden in EU-Ländern ausgebildet, die in ihren Herkunfts-Communities einen Wandel fördern sollen.17

 

Die ehrenamtliche Projektbetreuerin Ulla Barreto aus Dortmund berichtet von ihrem Besuch beim Projekt CAFGEM in Kenia (früher Kilifi-Kenia)
Bericht über die internationale Konferenz in Addis Abeba gegen die weibliche Genitalverstümmelung

Der gesellschaftspolitische Kampf für die nachhaltige Überwindung der patriarchalen Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung hat damit seinen Ursprung in der Frauenbewegung und im Feminismus, stellt heute jedoch eine globale menschenrechtliche Herausforderung dar, an der viele AkteurInnen auf unterschiedlichen Ebenen beteiligt sind.

Stand: 13. September 2018
Verfasst von
TERRE DES FEMMES e.V.
Empfohlene Zitierweise
TERRE DES FEMMES e.V. (2021): Weibliche Genitalverstümmelung: Ein Thema der Neuen Frauenbewegung - bis heute, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/weibliche-genitalverstuemmelung-ein-thema-der-neuen-frauenbewegung-bis-heute
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Fußnoten

  • 1TERRE DES FEMMES (TDF): Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung (FGM = Female Genital Mutilation), i.A.v. Frau Feleknas Uca, Mitglied des Europäischen Parlaments, Tübingen 2005, S. 3.
  • 2WHO: Female genital mutilation – Fact sheet N°241, updated February 2017, Zugriff am 4.10.2017 unter http://who.int/mediacentre/factsheets/fs241/en/.
  • 3Ebenda.
  • 4Ebenda.
  • 5Bouedibela-Barro, Regine: Aufklärung über FGM. Interview mit einer Animatrice, in: Menschenrechte für die Frau, 2006, H. 3, S. 16–18.
  • 6WHO: Female genital mutilation – Fact sheet N°241, updated February 2017, Zugriff am 4.10.2017 unter http://who.int/mediacentre/factsheets/fs241/en/.
  • 7TERRE DES FEMMES: Beweggründe und Risiken, Zugriff am 4.10.2017 unter https://www.frauenrechte.de/online/index.php/themen-und-aktionen/weibliche-genitalverstuemmelung2/allgemeine-informationen/beweggruende-und-risiken.
  • 8Barreto, Ulla: KILIFI-KENIA (Projektbericht), in: Menschenrechte für die Frau, 2001, H. 4, S. 13 f.
  • 9UNICEF, 2016: Female Genital Mutilation and Cutting. Current Status and Progress: At least 200 million girls and women alive today living in 30 countries have undergone FGM/C, Zugriff am 14.11.2017 unter https://data.unicef.org/topic/child-protection/female-genital-mutilation-and-cutting/#.
  • 10UNICEF: Female Genital Mutilation/Cutting. A statistical overview and exploration of the dynamics of change, 2013; UNICEF Data: Iraq. Statistical Profile on Female Genital Mutilation/Cutting, Zugriff am 3.10.2017 unter http://data.unicef.org/wp-content/uploads/country_profiles/Iraq/FGMC_IRQ.pdf; Böhmecke, Myria et al.: STOP harmful traditional practices. Patriarchale Gewalt verhindern, Eine Informations- und Präventionsbroschüre, 2017, S. 9.
  • 11TERRE DES FEMMES: Weibliche Genitalverstümmelung: kein „afrikanisches“ Problem (interaktive Länderkarte und Daten), Zugriff am 3.10.2017 unter https://www.frauenrechte.de/online/index.php/themen-und-aktionen/weibliche-genitalverstuemmelung2/allgemeine-informationen/fgm-in-asien.
  • 12TERRE DES FEMMES (TDF): Dunkelzifferstatistik zu weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland, 2017 (PDF).
  • 13Thiem, Ulla: Gedanken einer weißen, unbeschnittenen Pädagogin mit deutschem Pass, in: Menschenrechte für die Frau, 2002, H. 4, S. 12–15.
  • 14UNICEF: Female Genital Mutilation/Cutting. A statistical overview and exploration of the dynamics of change, 2013, S. 8 f.
  • 15Evangelische Frauenhilfe Westfalen Materialdienst: Weibliche genitale Verstümmelung. Inter-African Committee on traditional practices affecting the health of women and children. Ein Bericht über die Arbeit des Inter-African Committee on Traditional Practices Affecting the Health of Women and Children, in: Menschenrechte für die Frau, 1992, H. 1, S. 22–24; vgl. IAC (Selbstdarstellung), Zugriff am 16.11.2017 unter http://iac-ciaf.net/
  • 16INTEGRA (Selbstdarstellung), Zugriff am 14.11.2017 unter https://www.netzwerk-integra.de/was-wir-wollen/.
  • 17CHANGE-Agent Plus (online), Zugriff am 8.11.2017 unter http://www.change-agent.eu/ ; https://frauenrechte.de/online/index.php/themen-und-aktionen/weibliche-genitalverstuemmelung2/change-plus.