Warum und zu welchem Ende gibt es Frauen-, Lesben-, Genderbibliotheken?

verfasst von
  • Dr. phil. Karin Aleksander
veröffentlicht 21. August 2019
Frauen-, Lesben- und Genderbibliotheken entstanden, weil die Interessen dieser sozialen Gruppen in einer männlich (weiß/hetero) dominierten Gesellschaft nicht berücksichtigt wurden. Bis heute ist das interdisziplinäre Thema Frauenbewegung(en) und Bücher/Bibliotheken generell wenig bearbeitet.

Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt

Marie von Ebner-Eschenbachs (1830–1916) Aphorismus illustriert den Zusammenhang zwischen Bildung und politischer Bewusstwerdung der Frauenfrage, der bis heute aktuell ist. Bereits Bibel und Märchen zeigen für die, die Lesen (und Denken) gelernt haben, ein zu hinterfragendes Frauen- und Geschlechterbild. Frauen selbst meldeten sich früh mit politischen Schriften zu Wort. Zum Beispiel wurde Mary Wollstonecrafts (1759–1797) Buch über die Rettung der Rechte des Weibes sofort 1792 ins Deutsche übersetzt. Damen- oder Frauenbibliotheken gab es bereits seit Jahrhunderten (auch wenn sie in Werken zur Bibliotheksgeschichte kaum erwähnt werden). Wie in den Frauenklöstern der Neuzeit waren sie nur speziellen Gruppen von Frauen vorbehalten und ließen sie teilhaben am gesammelten Wissen der Zeit, das mehrheitlich männlich war. Genau deshalb schufen sich Frauen eigene Bibliotheken (und andere Gedächtnisinstitutionen): Publikationen von Frauen und zu Frauen interessierende Themen wurden nirgendwo kontinuierlich gesammelt. Wurden sie gesammelt, zum Beispiel nach dem Pflichtabgabegesetz an Bibliotheken, waren sie in den androzentrischen Klassifikationen und Systematiken nicht auffindbar.

Erste Frauenbewegung

Mitte des 19. Jahrhunderts gründeten Aktivistinnen ihre ersten Frauenbibliotheken. Schon 1866 öffnete der Leipziger Frauenbildungsverein seine Bibliothek für Frauen zur unentgeltlichen Benutzung für die Arbeiterinnen und Schülerinnen seiner Sonntagsschule. Der Berliner Verein Frauenwohl verkündete 1895 im Aufruf zur Gründung einer Bibliothek der Frauenfrage das Ziel, alles für die tägliche Bildungsarbeit und die Zukunft zu sammeln, was die „mächtig anwachsende Bewegung erzeugt“ und „Deutschland und das Ausland an bedeutenden Leistungen auf dem Gebiet der Frauenfrage hervorgebracht haben“.1

Mit dem Aufschwung der aus den USA und Großbritannien kommenden Lesehallenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden auch deutschlandweit Frauenbibliotheken von Vereinen und Organisationen. 1909 besaßen von den 4.212 Ortsvereinen des Bundes Deutscher Frauenvereine 490 eine eigene Bibliothek oder Lesehalle. Sie gaben Kataloge ihrer Sammlungen heraus und schufen Räume, in denen Frauen unter sich waren. Viele dieser Bibliotheken existierten aus finanziellen Gründen nur kurz; selten wurde ihr Bestand an andere übergeben, wie zum Beispiel vom Verein Frauenwohl an die Berliner Stadtbibliothek.

Marie Lischnewska (1854–1938) und Minna Cauer (1841–1922) vom Verein Frauenwohl hatten auch recherchiert: „Ein um mehrere Jahrhunderte zurückreichendes Material liegt zerstreut in den staatlichen Bibliotheken.“2  Dieses Material in der Preußischen Staatsbibliothek verarbeiteten Agnes von Zahn-Harnack, Hans Sveistrup und viele Mithelfende in der Bibliografie Die Frauenfrage in Deutschland3 , deren erster Band noch 1934 erschien. Sie bot mit ihren über 7.000 Titeln erstmals einen nahezu vollständigen Überblick über die deutsche Literatur zur Frauenfrage und Frauenbewegung zwischen 1790 und 1930.

Während der faschistischen Herrschaft in Deutschland riss durch die Selbstauflösung der meisten Frauenorganisationen auch das Band zu den Vordenkerinnen der Ersten Frauenbewegung ab. Es wurde in der Zweiten Frauenbewegung erst spät wieder geknüpft.

Konzeption der Bibliographie "Die Frauenfrage in Deutschland" von Hans Sveistrup, 1930

Zweite Frauenbewegung

Werbeplakat von 21 Frauenarchiven, -bibliotheken, 1989

Nach dem Beispiel von Aktivistinnen in den USA und Westeuropa wurden Ende der 1970er-Jahre auch in der BRD autonome Frauenbibliotheken gegründet. In der Zeit der Projektebewegung waren Frauenverlage, -buchläden und  zeitschriften entstanden. Von 1968 bis 1973 erschienen zum Beispiel 205 Bücher und Buchartikel zu Themen der Frauenbewegung,4  von 1970 bis 1980 existierten bereits 383 Lesben-/Frauenzeitschriften.5  1977 wurde das Archiv zur Neuen Frauenbewegung als erste Spezialbibliothek für Frauenforschung an der Universität Dortmund mit dem Ziel eröffnet, Literatur aus den Bereichen Frauenbewegung, feministische Wissenschaftstheorie und Frauengeschichte zu sammeln. Die meisten neuen Frauen-/Lesbenbibliotheken und -archive entstanden aber bewusst außerhalb der staatlichen Strukturen. Der Disput um Autonomie versus Institution spaltete die Lager und kulminierte in den 1980er-Jahren mit der Institutionalisierung der Frauenforschung an den Hochschulen. Ab Mitte der 1990er-Jahre wurden durch die erstmals etablierten Studiengänge für Geschlechterforschung die Universitätsbibliotheken in die Pflicht gesetzt, die Literatur für die Studierenden bereitzustellen.

In der DDR wurden Werke von Klassikerinnen der proletarischen, aber auch der bürgerlichen Frauenbewegung in Bibliotheken bewahrt und neu aufgelegt. Initiativgruppen der nichtstaatlichen Frauenbewegung schufen sich in den 1980er-Jahren eigene Bibliotheken. Bereits im April 1990 startete die Genderbibliothek am Zentrum für interdisziplinäre Frauenforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin, gegründet am 8. Dezember 1989. In den neuen Bundesländern entstanden Lesben-/Frauenbibliotheken in regionalen Frauenzentren, an Universitäten (Greifswald) und die MONALiesA in Leipzig.

Aufgaben und Ziele für die Frauen-, Lesben- und Genderbibliotheken 

Es ging und geht darum, die Literatur der eigenen Gruppe/Bewegung, von und über Lesben/Frauen, zu bewahren, neue Bewegungs- und Forschungsliteratur, auch regional, zu sammeln, sie mit eigenen Klassifikationen, Thesauri und Suchworten recherchierbar zu machen und vor allem Räume zu schaffen, um Bildung und Bewusstseinsentwicklung der Nutzer_innen durch Studium, Kultur und Weiterbildung zu fördern.
Hier zeigen sich Besonderheiten gegenüber traditionellen Bibliotheken:
Erstens sind die Grenzen zwischen Bibliothek, Archiv und Dokumentation in vielen Einrichtungen fließend. Meist archivieren die Bibliotheken ihre eigenen Unterlagen oder übernehmen solche von Aktivistinnen und emeritierten Wissenschaftlerinnen. Viele sammeln sehr unterschiedliche Dokumenttypen (Videos, CD-ROMs, Audios, Webseiten, Plakate, Objekte) und vor allem Graue Literatur (Konferenzunterlagen, Forschungsberichte, Publikationen von Projekten und Organisationen). Die Sammlungen orientieren sich meist an den Interessen der Lesenden, werden gezielt um historische Ausgaben erweitert und bewusst ‚archiviert‘, das heißt nicht ausgesondert.
Zweitens beraten die Mitarbeiter_innen die Nutzer_innen auf hohem Niveau. Gespräche über das Anliegen ihrer Literatursuche, Hilfe zur Selbsthilfe mit Literaturrecherchekursen, Anregungen, um ein Thema zu finden, Hinweise auf die historische Dimension aktueller Diskurse oder andere Quellen aus anderen Netzwerken gehören zum Tagesgeschäft. Immer mehr ändern Digitalisierungsvorhaben alte Arbeitsroutinen und Suchstrategien. Ebenso erweitern Frauenbibliotheken ihre Zusammenarbeit mit regionalen, staatlichen und internationalen Einrichtungen.

Netzwerken mit i.d.a.

Zum Austausch über diese Aufgaben trafen sich die Frauen-/Lesbeneinrichtungen schon ab 1983. Sie gründeten 1994 den i.d.a.- Dachverband der deutschsprachigen Lesben-/Frauenarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen und so ein internationales Netzwerk mit circa 40 Einrichtungen aus Deutschland, Österreich, Luxemburg, der Schweiz und Italien. Viele sind zudem international vernetzt, vor allem mit dem Women’s Information Network Europe (WINE). 

Mit dem Dachverband professionalisierte sich die Arbeit in vielen Einrichtungen. Immer mehr bibliothekarisch ausgebildete Fachkräfte arbeiten heute mit vielen Ehrenamtlichen zusammen, die wegen der Fülle der Einzelaufgaben und der meist prekären finanziellen Situation der Einrichtungen unentbehrliche Mitarbeiter_innen sind. 

Ergebnisse der wachsenden Fachkompetenz sind Thesauri und kontrollierte Schlagwortlisten, die Teilnahme vieler Einrichtungen an der Zeitschriftendatenbank der Staatsbibliothek zu Berlin seit 2002 und der gemeinsame META-Katalog, der seit 2015 besteht. Mit dem Digitalen Deutschen Frauenarchiv (2018) ist erstmals ein Portal zur Frauenbewegungsgeschichte online gegangen, das auf dem META-Katalog basiert. Dieser Katalog ist das Abbild der gesammelten Bibliotheks- und Archivschätze zur Frauen- /Lesbenbewegung und Geschlechterforschung. Er setzt damit Agnes von Zahn-Harnacks Bibliografie zur Frauenfrage in Deutschland in gewisser Weise online fort, die bis 1977 vom Deutschen Akademikerinnenbund und bis 1985 vom Institut Frau und Gesellschaft gedruckt herausgegeben worden war.

Scharff, Susanne: Das 17. Treffen der deutschsprachigen Frauenbibliotheken und -archive in Tübingen. Frauenblätter. Informationen der Fraueninitiative Leipzig. Leipzig: Fraueninitiative Leipzig im Unabhängigen Frauenverband, 1992, S. Seite 3.
Selbstlos bis zur Selbstaufgabe?. Frauenblätter. Informationen der Fraueninitiative Leipzig. Leipzig: Fraueninitiative Leipzig im Unabhängigen Frauenverband, 1992, S. Seite 8.

Androzentrismuskritik

Ein offenes Feld bleibt die Kritik an den androzentrischen Strukturen von Systematiken und Klassifikationen in den traditionellen Bibliotheken. Zwar stehen die Publikationen der Geschlechterforschung inzwischen auch dort im Bestand – weil viele inzwischen in renommierten Verlagen erscheinen –, aber meist nicht vollständig, vor allem inhaltlich nicht fachgerecht verschlagwortet und ohne entsprechende Notationen in den Klassifikationen. So können inhaltliche Recherchen erfolglos bleiben, obwohl die Titel möglicherweise im Bestand sind.

Viele i.d.a.-Spezialistinnen sind in bibliothekarischen Fachverbänden und Arbeitsgemeinschaften aktiv und fordern, zum Teil erfolgreich, Änderungen ein.

Zukunft

Aktuell bleiben die Frauen-/Lesben-/Genderbibliotheken als bewegungspolitische Räume und Forschungsinfrastruktur für feministische Wissensvermittlung notwendig. Dafür arbeitet der i.d.a.-Dachverband erfolgreich mit Digitalisierungsprojekten der Geschlechterforschung zusammen, die 2017 das weltweit erste Repositorium GenderOpen startete. 

So wie Kopernikus den Geozentrismus und Darwin den Artenzentrismus erschütterte, so ist es Aufgabe der Frauenbewegung und Geschlechterforschung, den Androzentrismus in Denken, Wissenschaft und Gesellschaft zu erschüttern.6

Stand: 21. August 2019
Verfasst von
Dr. phil. Karin Aleksander

wissenschaftliche Bibliothekarin (MLS - Master of Library Science)
geb. 1953, Philosophiestudium, Promotion, Fernstudium Bibliothekswissenschaft, Aufbau und Leitung der Genderbibliothek am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin; Arbeitsthemen: Androzentrismus in Verschlagwortung und Klassifikationen; Geschlechterverhältnisse in der DDR.

Empfohlene Zitierweise
Dr. phil. Karin Aleksander (2022): Warum und zu welchem Ende gibt es Frauen-, Lesben-, Genderbibliotheken?, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/warum-und-zu-welchem-ende-gibt-es-frauen-lesben-genderbibliotheken
Zuletzt besucht am: 24.04.2024

Fußnoten

  • 1Lischnewska, Marie: Die Bibliothek der Frauenfrage, in: Die Frauenbewegung, 2. Jg.,1896, H. 10, S. 96.
  • 2Lischnewska, Marie: Die Bibliothek der Frauenfrage, in: Die Frauenbewegung, 2. Jg.,1896, H. 10, S. 96.
  • 3Sveistrup, Hans / Zahn-Harnack, Agnes (Hg.): Die Frauenfrage in Deutschland. Strömungen und Gegenströmungen 1790–1930, Burg 1934.
  • 4Nave-Herz, Florence et al.: Die Ziele der Frauenbewegung. Eine Inhaltsanalyse der Emanzipationsliteratur von 1968 bis 1973, in: Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ vom 13.12.1975.
  • 5Schulz, Kristina: Der lange Atem der Provokation, Frankfurt a.M. 2002, S. 215.
  • 6Minnich, Elizabeth: Liberal Arts and Civic Arts. Education for the Free Man?, in: Liberal Education. 68. Jg., 1982, H. 4, S. 311. (311-322).

Ausgewählte Publikationen