- Foto: Jennifer Vidal Gobern
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Von der Zwangsuntersuchung zum Willkommen in der Gesundheitsversorgung
Das im Jahr 1953 in der BRD eingeführte Geschlechtskrankheitengesetz (GeschlKrG) regelte in § 4 die Pflicht für „Geschlechtskranke und solche Personen, die dringend verdächtig sind, geschlechtskrank zu sein und Geschlechtskrankheiten weiterzuverbreiten […]”1, Gesundheitsämtern regelmäßig eine Bescheinigung über eine Untersuchung auf sexuell übertragbare Infektionen wie Syphilis, Gonorrhoe und später auch HIV vorzulegen. Trotz der allgemeinen Formulierung im Gesetzestext waren von der Umsetzung der Untersuchungspflicht nur Menschen in der Sexarbeit und hier konkret nur weibliche Sexarbeiterinnen betroffen,2 deren Tätigkeit rechtlich als ‚Gewerbsunzucht‘ galt.
Die Soziologin Silvia Kontos kritisierte dieses Gesetz in ihrer Studie zur Öffnung der Sperrbezirke als einen staatlichen Versuch, gleich mehrere Kontrollaspekte miteinander zu verbinden, nämlich „den Gedanken des Gesundheitsschutzes, die Interessen von Männern an einem ungestörten, anonymen und gesundheitlich risikoarmen Zugriff auf Prostituierte und […] Zugriffmöglichkeiten auf ein >kriminogenes Milieu<“.3
Bis zur Einführung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), welches 2001 das GeschlKrG ablöste, wurden Sexarbeiterinnen dazu aufgefordert, sich regelmäßigen oralen, vaginalen und analen Abstrichen zu unterziehen. Als Nachweis über die erfolgten Untersuchungen hatten die Sexarbeiterinnen die umgangssprachlich als ‚Bockscheine’ bezeichneten Bescheinigungen mit sich zu führen und bei Kontrollen durch Polizei, Gesundheits- und Ordnungsämter vorzulegen. Die Bezeichnung stammte von den gynäkologischen Stühlen, auf denen die Sexarbeiterinnen für die Pflichtuntersuchungen ‚aufgebockt‘ wurden.
Die Häufigkeit der Untersuchungen war je nach Land und Kommune unterschiedlich geregelt. Wenn sich Sexarbeiterinnen in Bochum zur Arbeit beispielsweise in einem Bordell einmieteten, erhielten sie daraufhin vom städtischen Gesundheitsamt eine schriftliche Aufforderung, alle 14 Tage ein dermatologisches Gesundheitszeugnis vorzulegen und alle drei Monate eine Blutuntersuchung durchzuführen. Wenn die Sexarbeiterinnen dieser Pflicht nicht nachkamen, konnte nach dem Bundesseuchenschutzgesetz eine Fahndung durch die Polizei mit anschließender Zwangsuntersuchung4 angeordnet und ein Tätigkeitsverbot verhängt werden. Sexarbeiterinnen, die außerhalb der Öffnungszeiten von Gesundheitsämtern und Praxen bei Fahndungen oder Razzien aufgegriffen wurden, konnten bis zum nächsten Tag oder auch übers Wochenende in polizeilichen Gewahrsam genommen werden.5
AIDS-Krise der 1980er-Jahre etablierte gesetzliche Kondompflicht in der Sexarbeit
In den 1980er-Jahren verpflichteten die Gesundheitsämter der BRD unter Androhung eines Tätigkeitsverbots die Sexarbeiterinnen dazu, alle oralen, vaginalen und analen Praktiken ausschließlich mit Kondom vorzunehmen. Bei Nichteinhaltung drohten Bußgelder bis zu einer Höhe von 50.000 DM.
Die gewerbsunzüchtigen Sexarbeiterinnen standen unter dem Verdacht, mit ihrer Tätigkeit der Verbreitung von HIV Vorschub zu leisten und damit die öffentliche Gesundheit zu gefährden.
Sexarbeiterinnen mussten bis zu diesem Zeitpunkt zahlreiche verpflichtende oder unter staatlichem Zwang durchgesetzte Abstriche und Bluttests, Kondompflicht und Androhungen von Tätigkeitsverboten erdulden. Deshalb wurden Angebote der Gesundheitsversorgung speziell für Sexarbeiter*innen von diesen eher als Kontrolle und Überwachung wahrgenommen – und nicht als Unterstützungsstruktur der Gesundheitsversorgung6
Inwieweit die Gesundheit von Sexarbeiter*innen auch ein Thema der in den 1970er-Jahren entstandenen Frauengesundheitsbewegung war, muss noch erforscht werden.
Wandel von Untersuchungspflicht und Gewerbsunzucht zu Freiwilligkeit und Arbeit ...
Zu Beginn der 2000er-Jahre vollzog die damalige rot-grüne Bundesregierung im Bereich des Gesundheitsschutzes von Sexarbeiter*innen einen Paradigmenwechsel. Das Infektionsschutzgesetz von 2001 ersetzte die Pflicht- und Zwangsuntersuchungen von Sexarbeiterinnen durch freiwillige und anonyme Angebote in den Gesundheitsämtern, die auch heute noch allen Personen offenstehen, die dem Risiko sexuell übertragbarer Infektionen ausgesetzt sind. Bei erfolgten Risikokontakten können Blutuntersuchungen auf HIV, Syphilis und Hepatitis durchgeführt werden. In einigen Gesundheitsämtern sind auch Abstriche und Urintests möglich, um unter anderem auf Chlamydien und Gonorrhoe zu testen.
Ein Jahr später trat das Prostitutionsgesetz in Kraft, welches auch die gewerbsmäßige Sittenwidrigkeit der Sexarbeit abschaffte und diese als sozialversicherungsfähige Tätigkeit anerkannte, was der Möglichkeit einer rechtlichen Gleichstellung von Sexarbeiter*innen mit Arbeitnehmer*innen gleichkam.
… und zurück zur Meldepflicht bei Gesundheits- und Ordnungsämtern
Die Einführung des Prostituiertenschutzgesetzes 2017 wird unter Fachberatungsstellen für Sexarbeiter*innen und in der Sexarbeitsforschung hingegen als Schritt zurück in Richtung der Kriminalisierung von Sexarbeiter*innen bewertet.7
Seit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes sind Sexarbeiter*innen dazu verpflichtet, sich regelmäßig in Gesundheitsämtern beraten zu lassen und sich anschließend behördlich bei dem Ordnungsamt an ihrem Hauptarbeitsort als Sexarbeiter*in zu registrieren.
Unter Sexarbeiter*innen bildete sich im Rahmen der Einführung des Gesetzes Widerstand gegen die vorgesehenen Beratungs- und Registrierungspflichten. So bemängelte der Selbsthilfeverein der Hurenbewegung Hydra e.V., dass das Gesetz Sexarbeiter*innen in eine vermeintliche Opferrolle dränge. Ferner kritisierte der Verein, dass Gesundheitsberatungen und Registrierungen das deklarierte Ziel des Gesetzes, Betroffene von Menschenhandel zu identifizieren und zu schützen, wiederum nicht in dem Maße erfüllen könnten, wie es die Arbeit der Fachberatungsstellen für Sexarbeiter*innen tue. Durch den Zwangscharakter der Beratungen und Registrierungen, so Hydra, würde das Vertrauensverhältnis zwischen Sexarbeiter*innen und Hilfestrukturen vielmehr geschädigt und Sexarbeiter*innen würden für Unterstützungsangebote schlechter erreichbar sein.8
Auch der Berufsverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen e. V. empfahl stattdessen den Ausbau freiwilliger, anonymer und akzeptierender Angebote für Sexarbeiter*innen, da ihre Stigmatisierung durch Anmelde- und Beratungspflichten dazu führe, dass sie auch bei tatsächlich bestehenden Bedarfen eher davon absähen, Präventions- und Hilfsangebote anzunehmen. 9 Der Berufsverband wurde 2013 im Zuge des Protests der Sexarbeitsbewegung gegen die Einführung des ProstschG in Köln gegründet und setzt sich seitdem für die rechtliche, gesundheitliche und soziale Gleichstellung von Sexarbeiter*innen und die Entstigmatisierung und Entkriminalisierung von Sexarbeit ein.
Willkommensstrukturen in der Gesundheitsversorgung: der Rote Stöckelschuh
Die Angst vor oder die bereits gemachte Erfahrung von Ablehnung und Stigmatisierung, unter anderem durch Gesetze mit Untersuchungs- und Beratungspflichten, führt nachweislich dazu, dass Sexarbeiter*innen Unterstützungsangebote meiden. Auch und vor allem in der Gesundheitsversorgung.10
Um diesem Missstand zu begegnen, griff der Berufsverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen e. V. 2020 das Projekt der Gynäkologin Dr. Dorothee Kimmich-Laux auf, welche 2017 gynäkologische Praxen dazu einlud, mit einem Sticker im Eingangsbereich ihrer Praxen, der einen Roten Stöckelschuh zeigt, Sexarbeiter*innen ein Willkommen und einen akzeptierenden Umgang bei sich zu signalisieren. In der Folgezeit wurde das Projekt durch den Berufsverband erweitert, um auch den Bedürfnissen von Sexarbeiter*innen jenseits der sexuellen und reproduktiven Gesundheit Rechnung zu tragen. So umfasst eine 2020 eingerichtete Datenbank mit sexarbeiter*innenfreundlichen Adressen mittlerweile nicht nur gynäkologische, sondern auch allgemeinmedizinische, psychotherapeutische und infektiologische Praxen, Kliniken, Beratungsstellen, Anwält*innen, Steuerberatungskanzleien und Onlineangebote.
Darüber hinaus werden interessierte Fachkräfte der Gesundheits- und Sozialversorgung durch die Bildungsangebote des Projekts, wie zum Beispiel Fortbildungen, Vorträge und eine wachsende Literatur- und Mediendatenbank, für die Bedürfnisse und Lebensrealitäten von Sexarbeiter*innen sensibilisiert.
- Hacke, Deborah
- Digitales Deutsches Frauenarchiv
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Fußnoten
- 1 § 4 Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (GeschlKrG).
- 2 Weppert, Andrea: Beratung von Prostituierten unter veränderten gesetzlichen Voraussetzungen. Ein Bericht aus dem Gesundheitsamt Nürnberg, in: Kavemann, Barbara/Rabe, Heike (Hg.): Das Prostitutionsgesetz. Aktuelle Forschungsergebnisse, Umsetzung und Weiterentwicklung. Opladen & Farmington Hills 2009, S. 253–263.
- 3 Kontos, Silvia: Öffnung der Sperrbezirke. Zum Wandel von Theorien und Politik der Prostitution, Sulzbach/Taunus 2009, S. 357.
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4
Flügge, Sibylla: Kontrolle der Sexarbeit durch „Bockscheine“ – Fragen der Verhältnismäßigkeit. Vortrag bei der Fachtagung: Forschung zur Sexarbeit und STI-Forschung der Deutschen Gesellschaft Sexuell übertragbare Krankheiten (DSTIG), 7. – 8.11.2013 in Köln.
- 5 Winter, Doris: Arbeitsbedingungen in der Prostitution im Wandel von Zeit und Gesetz, in: Kavemann, Barbara/Rabe, Heike (Hg.): Das Prostitutionsgesetz: Aktuelle Forschungsergebnisse, Umsetzung und Weiterentwicklung, Opladen & Farmington Hills 2009, S. 221–229.
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6
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz – ProstG), Berlin 2007.
- 7 Steffan, Elfriede: Regulierung der Prostitution in Deutschland seit den 1980er-Jahren: Ein Schritt vor und zwei Schritte zurück?, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 33. Jg., 2020, H. 4, S. 214‒220.
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8
Hydra e. V., 2015: Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eines Gesetzes zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (ProstSchG-RefE), Zugriff am 2.9.2024, unter: https://bsd-ev.info/wp-content/uploads/2019/02/Stellungnahme-Gesetzesentwurf-HYDRA-10-9-2015.pdf.
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9
Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen, 2015: Stellungnahme des Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen e. V. zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eines Gesetzes zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen, Zugriff am 2.9.2024, unter: https://www.berufsverband-sexarbeit.de/index.php/2015/09/11/stellungnahme-des-besd-zum-referentenentwurf-eines-prostituiertenschutzgesetzes/.
- 10 Benoit, Cecilia/Ouellet, Nadia/Jansson, Mikael: Unmet health care needs among sex workers in five census metropolitan areas of Canada, in: Can J Public Health, Vol. 107, 2016, H. 3, S. 266‒271.
Ausgewählte Publikationen
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Weppert, Andrea: Beratung von Prostituierten unter veränderten gesetzlichen Voraussetzungen. Ein Bericht aus dem Gesundheitsamt Nürnberg, in: Kavemann, Barbara/Rabe, Heike (Hg.): Das Prostitutionsgesetz. Aktuelle Forschungsergebnisse, Umsetzung und Weiterentwicklung. Opladen & Farmington Hills 2009, S. 253–263.
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Kontos, Silvia: Öffnung der Sperrbezirke. Zum Wandel von Theorien und Politik der Prostitution, Sulzbach/Taunus 2009.
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Winter, Doris: Arbeitsbedingungen in der Prostitution im Wandel von Zeit und Gesetz, in: Kavemann, Barbara/Rabe, Heike (Hg.): Das Prostitutionsgesetz: Aktuelle Forschungsergebnisse, Umsetzung und Weiterentwicklung, Opladen & Farmington Hills 2009, S. 221–229.
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Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz – ProstG), Berlin 2007.
-
Steffan, Elfriede: Regulierung der Prostitution in Deutschland seit den 1980er-Jahren: Ein Schritt vor und zwei Schritte zurück?, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 33. Jg., 2020, H. 4, S. 214‒220.
-
Benoit, Cecilia/Ouellet, Nadia/Jansson, Mikael: Unmet health care needs among sex workers in five census metropolitan areas of Canada, in: Can J Public Health, Vol. 107, 2016, H. 3, S. 266‒271.
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Heinz-Trossen, Alfons: Prostitution und Gesundheitspolitik. Prostituiertenbetreuung als pädagogischer Auftrag des Gesetzgebers an die Gesundheitsämter, Frankfurt a.M. 1993.
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Wright, Michael T. : Prostitution, Prävention und Gesundheitsförderung, Teil 1: Männer, Berlin 2003.
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Wright, Michael T. : Prostitution, Prävention und Gesundheitsförderung, Teil 2: Frauen, Berlin 2005.
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Brückner, Margrit: Gewalt in der Prostitution. Untersuchung zu Sicherheit, Gesundheit und sozialen Hilfen, in: Kavemann, Barbara/Rabe, Heike (Hg.): Das Prostitutionsgesetz. Aktuelle Forschungsergebnisse, Umsetzung und Weiterentwicklung, Opladen 2009, S. 153‒166.