Schichtwechsel

verfasst von
  • Linda Unger
veröffentlicht 23. November 2020
Wenn Töchter studieren, Ehefrauen demonstrieren und Migrantinnen streiken … Berührungspunkte von Arbeiterinnen, ihren Töchtern und anderen Nicht-Akademikerinnen mit der Bochumer Frauen- und Lesbenbewegung.

Bochum erhielt im Rahmen des Strukturwandels 1965 eine Hochschule: die Ruhr-Universität. Ein Studium in einer ArbeiterInnenstadt, mitten in einer Industrieregion? Das war für linke StudentInnen aus ganz Westdeutschland und Westberlin attraktiv! Nicht zuletzt studierten viele Töchter aus ArbeiterInnenfamilien an der ersten Universität des Ruhrgebiets.

Auch die Bochumer Frauenbewegung hat ihren Ursprung an der Ruhr-Universität. 1969 entstand der ‚Weiberrat im SDS‘ , 1971 die ‚Sozialistische Frauengruppe Bochum‘, die schließlich in die ‚Frauengruppe Bochum‘  überging. Die Frauen organisierten sich parteiunabhängig und unabhängig von Männern als autonome Gruppen. Sie waren wie die Studentenbewegung kapitalismuskritisch und international ausgerichtet, mit einem entscheidenden Unterschied: Sie taten die Anliegen von Frauen nicht als Nebenwiderspruch ab, sondern benannten das Patriarchat als Ursache für Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Die Situation von Frauen zu thematisieren, gar von ‚Patriarchat‘ zu sprechen, war in der Studentenbewegung als ‚bürgerlich‘ verschrien, selbst wenn Studentinnen aus der Arbeiterklasse dies einforderten.

Flugblatt Nr. 1 Arbeitsloses Geschlechtstier oder geschlechtsloses Arbeitstier, Bochum 1969

Die Idee, dass Frauen in allen sozialen Schichten und Klassen sowie in allen Ländern der Welt unterdrückt wurden und dass diese Unterdrückung von den Frauen selbst in einer autonomen Organisationsform bekämpft werden sollte, war neu. Frausein wurde ein gemeinsamer Nenner für eine neue Solidarität. Das ‚Persönliche‘ wurde zum ‚Politischen‘, die persönlich erfahrene Gewalt und Unterdrückung wurde als strukturelles Phänomen analysiert. Wie wurde in diesem feministischen Kontext mit dem nicht-bürgerlichen Hintergrund frauenbewegter Mitstreiterinnen umgegangen? 

Heutige Gespräche mit Aktivistinnen aus der autonomen Bochumer Frauen- und Lesbenbewegung der 1970er- und 80er- Jahre zeigen ähnliche biografische Erfahrungen: 
Aufmerksame Lehrerinnen empfahlen, kluge Mädchen in weiterführende Schulen zu schicken; Gefühle der doppelten Fremdheit, im familiären Kontext durch den abweichenden Bildungsweg, im akademischen Kontext durch andere finanzielle Voraussetzungen, Sprache, Gewohnheiten; die Überlegung, mit dem Studienabschluss Geld verdienen zu können, aber keine Karriere zu planen; die Motivation, die Gesellschaft und die eigene Lage besser zu verstehen, mit der eigenen Lohnarbeit zu einer gerechteren Gesellschaft beizutragen; eine Politisierung nicht nur durch theoretische Auseinandersetzung, sondern auch aus eigener Lebenserfahrung. Selbst mit der 1971 eingeführten Studierendenförderung BAföG war ein Studium für die Familien eine Belastung. Wer in Ausbildung war, konnte zu Hause wenigstens Kostgeld abgeben.

AG: Situation der Frau im Produktionsbereich, Bochum 1972

Die Frauen mit ArbeiterInnenhintergrund nahmen sich zu Recht als Minderheit wahr. Obwohl im Vergleich mit anderen Unis mehr ArbeiterInnenkinder an der Ruhr-Universität studierten, kam die Mehrheit der Studierenden aus der Mittelschicht.1 Dies spiegelte sich auch in der Bochumer Frauengruppe wider. Klassenunterdrückung wurde auch hier Anfang der 1970er-Jahre zwar theoretisch diskutiert , oder sie wurde in Bezug auf die ‚proletarischen Frauen als revolutionäres Subjekt‘ erörtert.  Der persönliche Lebenshintergrund wurde in Bezug auf das Frausein, weniger auf den Klassenhintergrund diskutiert. Die interviewten Frauen fühlten sich in der Frauen- und Lesbenbewegung weniger fremd und mehr zu Hause als in ihrer Familie oder im Uni-Zusammenhang. Die eigene Herkunft, Unsicherheiten, Selbstzweifel, auch Anklage – all das wurde durchaus privat in lesbischen Beziehungen thematisiert, in denen Klassenhintergründe aufeinanderprallten. In der Regel aber versuchten die ArbeiterInnentöchter dazuzugehören und nicht als ‚die anderen‘ aufzufallen. Sie problematisierten den eigenen Klassenhintergrund im Studium nicht, um sich nicht unterlegen zu fühlen. Tief saß die Erfahrung, ihre Meinung sei nicht gefragt, vor allem, wenn sie von der der bürgerlichen Kommilitoninnen abwich. Manche Mittelschichtfrau bewunderte kämpferische ArbeiterInnentöchter und sah die eigenen Privilegien kritisch. Dazu zählten Bildung, Zugang zu Ressourcen über Beziehungen, gewisse Umgangsformen, Sprache, vermeintliche Weltläufigkeit. 

Eigene lesbische Organisationsstrukturen bildeten sich erst Ende der 1980er-Jahre mit Gruppen wie den ‚Prolo-Lesben‘, die sich gegen bildungsbürgerliche Dominanz in der Frauenbewegung wehrten. 1994 wurde die Klassenfrage in der radikalfeministischen Lesbenzeitschrift  IHRSINN aus Bochum thematisiert, in deren Redaktion mehrere ArbeiterInnentöchter arbeiteten.2

Cover der Zeitschrift IHRSINN, Bochum 1994

Wie sah vor diesem Hintergrund der unausgesprochenen Gedanken und Gefühle unter den Studentinnen der Kontakt zu nicht bürgerlichen, nicht akademisch gebildeten Frauen außerhalb der Universität aus? 

Arbeiterinnen, Hausfrauen – Feministinnen?

Im Frauenzentrum Bochum gab es Mitte der 1970er-Jahre intensive Bemühungen, auch Nicht-Akademikerinnen anzusprechen, zum Beispiel durch das Verteilen feministischer Flugblätter auf dem Wochenmarkt und vor Betrieben sowie mithilfe von Fragebogen-Interviews mit Hausfrauen. Alle Frauen sollten für Feminismus und die Frauenbewegung begeistert werden und ihre eigene Lebenssituation besser reflektieren. 

Ins Bochumer Frauenzentrum kamen auch Hausfrauen, Angestellte und Auszubildende. Abendliche Gesprächsgruppen waren mit ihrem Alltag kaum vereinbar, deshalb gab es ein Nachmittagscafé. Gespräche mit den eigenen Müttern oder mit Fabrikarbeiterinnen, die Studentinnen während ihrer Ferienjobs kennenlernten, eröffneten neue Horizonte. 
Parallel zu den autonomen Frauengruppen begannen sich Frauen der ArbeiterInnenklasse im Zuge des Arbeitskampfes ihrer Männer und durch die allgemein politisierte Stimmung zu engagieren.3  Eine damalige Studentin aus der Bochumer Frauengruppe – selbst Bauerntochter – stellt dazu fest: „Da sind die von selber drauf gekommen und nicht, weil wir Flugblätter verteilt haben.“4

Ein Beispiel war der wilde Streik der Arbeiterinnen bei der Firma Pierburg in Neuss 19735 : Die ‚ausländischen Arbeiterinnen‘ dort wurden als billige Arbeitskräfte eingesetzt, sie ersetzten die DDR-Frauen, die vor ihnen als billige Arbeitskräfte gedient hatten, weil Männer zu teuer geworden waren. Diese wilden Streiks und die öffentlichen Protestaktionen von Arbeiterinnen oder Ehefrauen von Arbeitern machten Schlagzeilen: (Zementwerk Erwitte 1977, Fotolabor Heinze in Gelsenkirchen 1980, Hoesch in Dortmund 1981,6  Fernsehwerk Graetz in Bochum 1981). Die Frauen forderten mit Erfolg eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Viele Migrantinnen brachten aus ihren Herkunftsländern politisches Wissen und Praxis mit und ermutigten in einigen Fällen ihre deutschen Kolleginnen zum Streik7 . Auch wenn zur autonomen Frauenbewegung relativ wenige Kontakte bestanden, gab es gemeinsame Ziele: den Kampf gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung, gegen männliche Gewalt und für das Recht auf Abtreibung. Selbst politisch aktiv zu sein, außerhalb von Haus und Familie, führte auch dazu, traditionelle Geschlechterrollen zu hinterfragen.

Frauenzeitung : Frauen gemeinsam sind stark ; zwischen Kochtopf und Maloche, 1976

Ein ‚Wir‘ aus zwei Welten: Die Opel-Frauengruppe

Bochumer Opel-Arbeiter wurden im Arbeitskampf der Gruppe oppositioneller Gewerkschafter von ihren Ehefrauen unterstützt. Eine von ihnen, Helga Gulcz, initiierte 1974 die Opel-Frauengruppe, in der sich diese Frauen mit Studentinnen austauschten. Letztere brachten Input zu Frauengeschichte, Recht und Politik ein. Bei den Treffen wurden Alltagsprobleme ebenso besprochen wie politische Entwicklungen und unterschiedliche Lebensentwürfe – ähnlich wie in den Selbsterfahrungsgruppen der autonomen Frauenbewegung. Eine von ihnen, die Filmstudentin Christa Donner, drehte über Helga Gulcz den Dokumentarfilm Für Helga, der 1979 im Fernsehen gezeigt wurde.
Der Austausch wurde als bereichernd und stärkend empfunden. Allerdings war es den meisten Opel-Frauen auch wichtig, das Verhältnis zu ihren Männern zu verbessern, das noch stark durch patriarchale Arbeitsteilung zulasten der Frauen geprägt war, und weiterhin mit ihnen gemeinsam politische Arbeit zu machen. Wie passte das mit der Idee einer autonomen Frauenbewegung zusammen?

Metalltarifrunde aus der Sicht der Frauen, Bochum 1975
Veranstaltungsankündigung "Für Helga", Bochum 2013

In der Broschüre Ehefrauen der Zementwerker in Erwitte berichten (1977)  stellen die Autorinnen gleich in der Einleitung klar: „… wir sind keine Feministinnen.“8  Im Kontext der damaligen Zeit war ‚Feministin‘ ein diffamierender Begriff, deshalb grenzten sich viele Frauen davon ab. Bei Arbeiterfrauen kam noch ein weiterer Faktor dazu: Mit ‚Feministin sein‘ wurde die Distanzierung von Männern assoziiert. Was richtig und falsch zugleich war: Nicht alle Frauen aus der autonomen Frauenbewegung lebten separatistisch oder – wie die meisten Lesben – ohne Männer. Doch für Frauen in der ArbeiterInnenklasse spielte eben auch der Klassenaspekt eine große Rolle. Fasia Jansen, die mit ihrer Musik viele ArbeiterInnenproteste begleitete und sich anfangs von der Frauenbewegung abgrenzte, sagte dazu: „Auf die Männer, mit denen ich kämpfe, da lasse ich doch nix kommen!”9  Für viele Arbeiterfrauen war das Zusammenleben mit ihren Familien wichtig. Sie wollten ihren Männern gegenüber solidarisch bleiben, da diese als Arbeiter unterdrückt wurden.

In der autonomen Frauenbewegung der 1970er- und 80er-Jahre gab es im Ruhrgebiet eine große Offenheit, Frauen aus der Arbeiterklasse besser zu verstehen und in politischen Kämpfen zu unterstützen. Trotz aller Schwierigkeiten hat es eine solche Kollektivität von Frauen mit unterschiedlichem Klassenhintergrund bis heute nicht mehr gegeben. 
Anders verhält es sich mit den Klassenunterschieden innerhalb der Frauen- und Lesbenbewegung. Hier nahm die Perspektive derer, die es gewohnt waren, nicht gehört zu werden, erst Jahre später einen größeren Raum ein.

Stand: 23. November 2020
Verfasst von
Linda Unger

studierte British Cultural Studies, Irish Studies, Neuere Geschichte und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum und der University of Liverpool (Abschluss Magistra Artium). Heute leitet sie im Frauenarchiv ausZeiten die Bochumer Frauenstadtrundgänge (dt.& engl.), arbeitet im Buchhandel und ist freie Aktivismusberaterin und -begleiterin: www.lindaruth.live Instagram: @alignedaliveactivism 

Empfohlene Zitierweise
Linda Unger (2021): Schichtwechsel, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/schichtwechsel
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Fußnoten

  • 1Begriffsklärung: Bezeichnungen wie ‚Mittelschicht‘ und ‚bürgerlich‘ erscheinen sehr allgemein, obgleich es Unterschiede innerhalb vom Bürgertum gab und gibt. Doch diese Unterschiede wurden damals in linken Kontexten selten gemacht. Denn es ging darum, die soziale Schicht zu unterstützen, die traditionell weniger Chance zur Teilhabe und weniger Wahlmöglichkeiten hatte. Die weniger gehört wurde und in die ‚abzusteigen‘ auch Menschen aus dem Kleinbürgertum zu vermeiden suchten, da ihr gesellschaftlicher Status ein anderer war: die Arbeiterschicht, die trotz Abstufungen innerhalb auch dieser Gruppe als einheitliche Klasse gesehen wurde. ‚Bürgerlich‘ wurde darüber hinaus in der Studentenbewegung oft polemisch/abwertend verwendet, nicht als differenzierter Analysebegriff.
  • 2Vgl. Roßhart, Julia: Klassenunterschiede im feministischen Bewegungsalltag. Anti-klassistische Interventionen in der Frauen- und Lesbenbewegung der 80er und 90er Jahre in der BRD, Berlin 2016, S. 265‒333 und IHRSINN Nr. 9/94 Von Klassen und Kassen.
  • 3Zum Verhältnis der Neuen Frauenbewegung in der BRD zum Thema Arbeit, Klasse, Arbeiterinnen allgemein siehe Lenz, Ilse (Hg): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, S. 147‒177.
  • 4Interview mit LL, Transkript S. 5. 
  • 5Frauengruppe Dortmund (Hg.): Gemeinsam gegen Leichtlohngruppen, in: Frauenzeitung: Frauen gemeinsam sind stark. Zwischen Kochtopf und Maloche, Dortmund 1976, 9/10, S. 15 ff. Die Frauenzeitung war das erste überregionale Medium der westdeutschen autonomen Frauenbewegung, zudem gibt es einen Film: https://de.labournet.tv/video/6489/pierburg-ihr-kampf-ist-unser-kampf.
  • 6Frauengruppe Dortmund (Hg.): Wir lassen uns nicht unterkriegen, in: Frauenzeitung: Frauen gemeinsam sind stark. Zwischen Kochtopf und Maloche, Dortmund 1976, 9/10, S. 22‒25.
  • 7https://de.labournet.tv/video/6489/pierburg-ihr-kampf-ist-unser-kampf (Zugriff am 10.12.2021)
  • 8Frauengruppe Erwitte (Hg.): Ehefrauen der Zementwerker in Erwitte berichten, Erwitte 1977, S. 1.
  • 9Eberhardt, Petra, 06.1.1998, Rede zur Beisetzung von Faisa Jansen, Oberhausen-Styrum, Zugriff am 23.11.2020 unter https://fasiajansen.tumblr.com/.

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