LIS ‒ Lesben in Sicht
Das Fernsehmagazin von Lesben für Lesben war von 1994 bis 1999 auf Sendung im Offenen Kanal Hamburg
Silvesternacht 1993. Hamburg. Frauenkneipe. Der runde Tisch im Fenstereck. Fernsehen für Lesben? Warum nicht? Ich weiß, wo. Alles klar, machen wir. – So kurz ließe sich die Geschichte vom Beginn des Fernsehmagazins LIS erzählen. Aber gönnen wir uns ein paar Sätze mehr: Irgendeine aus der Runde hatte vom Offenen Kanal gehört, gesehen hatte das Programm noch keine: Aber, so erzählte eine, es gäbe dort Kameras und Schnittplätze, Studios. In Berlin war von April 1991 bis Mai 1993 ‚Läsbisch TV‘ beim Kabelsender FAB (Fernsehen aus Berlin) auf Sendung gewesen. Einige in der Runde kannten das Format. Warum nicht so etwas in der Art auch in Hamburg versuchen?
Der silvesterliche Vorsatz für das neue Jahr wurde Realität: Am 27. Mai 1995 ging in Hamburg ‚Lesben in Sicht‘ (LIS) erstmalig auf Sendung und war bis 1999 an jedem vierten Freitagabend eine Stunde lang als Magazin für alle zu empfangen, die zu Hause Kabel-TV hatten. Alle anderen konnten später die Folgen auf der Leinwand in der Frauenkneipe sehen.
Im Kern waren es sechs Aktive zwischen 30 und 40 Jahren mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen: Elektrikerin, Cutterin, Büroangestellte, Sozialarbeiterin, Dokumentarin, Köchin. Manche hatten bereits Erfahrungen im Bereich Medien gesammelt, einige von ihnen sollten später als Kamerafrau, Regisseurin, an einer Filmhochschule oder als Journalistin arbeiten. Für andere war LIS ein begrenzter Ausflug ins Fernsehmachen – allen war gemeinsam, dass sie neben ihrer Erwerbsarbeit und unbezahlt nach Feierabend viel Zeit und Herzblut in die Berichterstattung über lesbisches Leben fließen ließen. Dass den mehr als 50 Sendungen, die bis 1999 entstanden, auch damals schon anzusehen war, dass das fernsehjournalistische Handwerk nicht gelernt war, sondern auf dem Weg, in der Praxis, gefeilt wurde, war für die meisten Zuschauerinnen zweitrangig. ‚Wir‘ wurden gesehen. Die Repräsentanz lesbischen Lebens in den verschiedensten Aspekten war Mitte der Neunziger nicht besonders ausgeprägt. Und so war das antreibende Moment wohl eine Mischung aus Sendungsbewusstsein und Neugier – gepaart mit dem Wissen, dass das, was jetzt passierte, irgendwann Geschichte sein würde.
Ausgehend vom Geburtsort Frauenkneipe tentakelte sich das Team in die Stadt und in die Welt. Moderationen entstanden im Wald oder am Küchentisch, mit der kiloschweren S-VHS-Kamera aus dem Technikpark des Offenen Kanals auf der Schulter, dem massiven Stativ und dem kabelgebundenen Mikrofon in der Hand ging es zu Konzerten, Lesungen, sportlichen Wettkämpfen, Karaokeparties oder zu Demonstrationen. Wer sich heute durch das Archiv der Sendung wühlt, kann eintauchen in Orte, die es nicht mehr gibt, wie den Frauenbuchladen oder die Frauenkneipe, und Menschen begegnen, die manchen von uns damals als Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Musikerinnen, Aktivist*innen wichtig waren: Barbara Wilson, Caeia March, Viola Roggenkamp oder Leslie Feinberg. Hella von Sinnen, Ellen Stewart, Mary Patten, Yasmin Tabatabai, Ulrike Zimmermann, Diane Torr und Katrin Kremmler. Jan Allain und Ilse de Ziah, Kick La Luna, J.D. Lang und Carolina Brauckmann. Gender-Forscherin Sabine Hark, die Regisseurinnen Angelina Maccarone und Deepa Methan, die Aktivistin Ilse Kokula, die NS-Zeitzeugin Lily Wust ... Die Liste ist selbstverständlich unvollständig.
Es gab viel zu entdecken: Lesbische Polizistinnen, Journalistinnen, Sportlerinnen, Pastorinnen, Lehrerinnen traten aus der Unsichtbarkeit hinaus in die Öffentlichkeit, die weit über die lesbische Szene hinausreichte. Bald kamen Beiträge aus anderen Städten und Ländern. Und so gab es unter anderem Widerständiges aus Wien, Trashiges aus New York, Sportberichterstattung aus London und Amsterdam, Urlaubsimpressionen aus Provincetown und Politisches aus Mexiko City und Johannesburg. Aus Lüneburg, etwas südlich von Hamburg, kam die lesbische Seifenoper ‚Heideperlen‘, aus einer Hamburger Sporthalle Bilder vom ersten öffentlichen Amateurinnen-Boxkampf, der trotz offiziellem Verbot stattfand. Es ging um Lesben im Alter, um Literatur und Ausgehtipps, um Hilfe für Asylbewerberinnen, um Motorradfahren und Standardtanz, um Gedenken im ehemaligen Frauen-KZ Ravensbrück ...
Es war die Zeit vor den Smartphones. Das Internet war etwas für Nerds. Die Bänder kamen als Kassetten von Minidisk über VHS zu Betamax per Post oder im Urlaubsgepäck an den analogen Schneidetisch. Das Material zu bearbeiten hieß, eine Kopie des Original-Videomaterials anzufertigen, mit der Folge, dass jede Kopiegeneration sich in Bild- und Tonqualität verschlechterte. Der digitale Schnitt sollte erst ein paar Jahre später für die Hobby-Nutzerinnen verfügbar sein.
Gesendet wurde alles, außer es war zu wirr im Bild, zu unverständlich im Ton oder – mit Blick auf den Jugendschutz und auf die Vorgaben des Offenen Kanals – zu explizit sexuell. Daheim vor dem Fernseher konnten die, die sich fern von der Szene fühlten, sehen: ‚Ich bin nicht allein.‘ Und: ‚Wir sind verschieden.‘
Das bildwechsel-Archiv in Hamburg, das einen wahren Schatz an kultureller Produktion von Frauen bewahrt, hat den Großteil der Bänder vor dem Materialverfall gerettet. Allerdings sind die Sendungen von damals aus datenschutz- und persönlichkeitsrechtlichen Gründen weder online verfügbar noch (bislang) dokumentarisch aufbereitet. Es wäre ein Baustein für die lesbisch-feministische Medien- und Stadt-Geschichte, wenn es gelingen könnte, zumindest einen Teil der lesbischen Fernsehperlen und visuellen Erinnerungen für die Öffentlichkeit zugänglich und sichtbar zu machen.
Nachschlag:
1999 beendeten die LISsies ihre monatliche Sendung. In der Nachfolge produzierte eine Gruppe von Aktiven bis 2001 das Magazin Lesben-TV im Offenen Kanal Hamburg.
Im Juli 2003 wurde der Offene Kanal auf Betreiben der CDU-geführten Hamburger Regierung unter Ole von Beust und Rechtspopulist Ronald Schill geschlossen und ein Jahr später durch den Bürger- und Ausbildungskanal TIDE ersetzt. Dort unterlagen die Produzierenden dem Chefredaktionsprinzip, konnten also, anders als beim Offenen Kanal, nicht mehr im Rahmen der rechtlichen Vorgaben senden, was sie wollten, sondern mussten ihre Beiträge ‚abnehmen‘ lassen.
Das Roh- und Sendematerial sowohl von LIS als auch von Lesben-TV ist archiviert im Frauenmedienarchiv / Künstlerinnenarchiv bildwechsel (kultur- und medienzentrum für frauen e.v.) in Hamburg: www.bildwechsel.org/info/de/sammlungen.html.
Ausgewählte Publikationen
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Bolz, Annette: „Kein Sex beim ersten Mal“, taz 27.5.1994, S. 23.
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Jungbauer, Walter: „Coming online: Netz für jedes Geschlecht“, in: taz 2.4.1998, S. 15.