Kaleidoskop der westdeutschen Frauenbewegung: das Frauenjahrbuch ´75

verfasst von
  • Julia Hitz
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Das Frauenjahrbuch ´75 wurde von einer Gruppe Frankfurter Frauen konzipiert. In vielfältigen Beiträgen – kritisch, analytisch, poetisch – kommen Frauen aus der westdeutschen Frauenbewegung zu Wort. Das Jahrbuch zeichnet so ein lebendiges Bild der Bewegung.

Ein Buch über die deutsche autonome Frauenbewegung zu machen, war das Anliegen, das sieben Frauen aus Frankfurt am Main vom Spätsommer 1974 bis Frühjahr 1975 umsetzten. Das Frauenjahrbuch ´75 enthält Erfahrungsberichte, Reflexionen, Poetisches, Kritisches, Analytisches und gibt so einen vielstimmigen Eindruck von der Neuen Frauenbewegung – und das weit über Frankfurt hinaus.

Die sieben Herausgeberinnen waren im Alter zwischen 23 und 30 Jahren und kamen aus dem Umfeld des Frankfurter Frauenzentrums und der Frauengruppe an der Universität Frankfurt. Fünf Studentinnen, zwei Verlagsmitarbeiterinnen, vier Heteras und drei Lesben, allesamt kinderlos, wie sie selbst im Vorwort offenlegten.1Thematisch strebten sie die Darstellung der Geschichte der Frauenbewegung sowie deren Anliegen und Positionen an, weswegen sie die verschiedenen westdeutschen Frauengruppen anschrieben und zum Verfassen persönlicher Beiträge aufforderten.2 Diese kamen jedoch überwiegend von Frauen, die noch nicht in Frauengruppen organisiert waren.3 Themen, die in der Frauenbewegung aktuell diskutiert wurden, wie etwa Gewalt gegen Frauen, Separatismus oder Lohn für Hausarbeit wurden in dem Buch nicht thematisiert – auch, weil „diese Probleme zwar diskutiert werden, uns aber alles noch zu unklar ist, als daß darüber schon etwas geschrieben werden könnte“, so die Herausgeberinnen im Vorwort.4

Frauenjahrbuch '75, Frauen-Verein <Frankfurt, Main>, 1975

Das Buch wurde von den Frauen selbst produziert, wie viele Frauengruppen der Zeit machten sie sich von bestehenden Publikationsorganen und -strukturen unabhängig, was mit Vor- und Nachteilen verbunden war: „Der Erscheinungstermin verschob sich von Woche zu Woche, was damit zusammenhängt, daß wir alles gemeinsam diskutiert und bis auf Druck und Vertrieb selber gemacht haben. D.h. neben der inhaltlichen Arbeit haben wir selbst gesetzt, umbrochen, Korrektur gelesen, Layout und Bildauswahl gemacht und Vertriebsfragen diskutiert.“5

Einige der Herausgeberinnen waren im Umfeld des linken Verlags Roter Stern aktiv. So kam es, dass der Verlag schließlich 1975 das von den Frauen autonom gestaltete Buch mit einer Auflage von 10.000 Stück veröffentlichte. Schon kurz darauf musste nachgedruckt werden; die zweite Auflage erschien noch im selben Jahr, ergänzt um ein weiteres Kapitel. Darin wurde unter der Überschrift ‚Kontroverse und Kritik‘ erläutert und kritisch hinterfragt, wie es zur Zusammenarbeit mit dem Verlag gekommen war. Das Kapitel verdeutlichte die wechselhaften und streitbaren Beziehungen zwischen Frauenbewegung und Neuer Linken und sparte auch die internen Auseinandersetzungen der Neuen Frauenbewegung nicht aus. So ist zum Beispiel ein kritischer Dialog zwischen den Macherinnen des Frauenjahrbuchs und des Frauenkalenders festgehalten.6

Unterschiedliche Themen und Perspektiven

Die Beiträge des Frauenjahrbuch ’75 sind – bis auf wenige Ausnahmen – anonym, deswegen können wir wenig über die Hintergründe der einzelnen Frauen erfahren. Da sie oft sehr persönlicher Natur sind, wurden sie beispielsweise gezeichnet mit ‚Eine Frau aus Heidelberg‘ oder einer ‚Berliner Frau‘. Dieses Vorgehen entsprach dem Grundprinzip ‚Das Private ist politisch‘, das in den Frauengruppen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) Ende der 1960er-Jahre erstmals so zugespitzt formuliert worden war – basierend auf Auseinandersetzungen mit der Kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer.7 In dieser Tradition stehend wurde auch in den Beiträgen des Jahrbuchs versucht, von der eigenen privaten Situation ausgehend gesamtgesellschaftliche Strukturen zu kritisieren.

Neben Analysen der eigenen Geschichte und durchgeführter Aktionen bekamen Erfahrungsberichte von Frauen in verschiedenen Lebenssituationen großen Raum: Von der Stellung von Hausfrauen und Müttern in der Gesellschaft und in der Frauenbewegung über die Situation lesbischer Frauen und dem gesellschaftlichen Druck zur Heterosexualität bis hin zu den Erfahrungen von Frauen aus Wissenschaft und Kunst – es wurde eine große Bandbreite beleuchtet. Der Band dokumentierte aber auch geradezu paradigmatisch die blinden Flecken der Bewegung in ihrer Frühphase: Rassismus, Antisemitismus und Klassenunterschiede zwischen Frauen und die Auswirkungen dieser Differenzerfahrungen auf die eigene Perspektive und Politik wurden kaum thematisiert. Was war der Grund? Dass Autorinnenschaft und Zielgruppe in Bezug auf race und Klasse recht homogen zusammengesetzt waren, lässt sich als Ursache lediglich vermuten, aber nicht belegen. Es gab für die Ausblendung dieser Themen aber auch handfeste diskurspolitische Gründe: Die Perspektive auf Frauen als unterdrückte Gruppe hatten Feministinnen gerade erst wiederentdeckt und waren dabei, diese Sichtweise auch politisch durchzusetzen. Die Spaltung von Frauen entlang ihrer Klassen- und Rassengrenzen galt als Grund für das Scheitern ihrer Befreiung, weil man Frauen unterschiedlicher Milieus auf diese Weise gegeneinander ausspielen konnte. In frühen Schriften wird das deutlich artikuliert, zum Beispiel in Karin Schrader-Kleberts Aufsatz Die kulturelle Revolution der Frau von 1969: Die Frau, schreibt sie, habe sich noch nie mit der Frau solidarisiert, weiße Frauen solidarisierten sich mit weißen Männern gegen schwarze Menschen, Bürgerfrauen mit Bürgermännern gegen ProletarierInnen. Frauen würden statt ihrer eigenen die Interessen der Männer ihres Milieus vertreten.8 Sie müssten sich erst als selbstständiges Subjekt begreifen lernen und nicht mehr als Appendix, Dekoration und Hilfstruppe der Anliegen ihrer Männer.9 Vorerst standen deshalb vermutlich auch in den Jahrbuchartikeln Gemeinsamkeiten von Frauen als Frauen im Vordergrund.

Betont wurden in den Texten deshalb auch die Konfliktlinien zwischen der Neuen Linken und großen Teilen der Frauenbewegung. Die Behauptung, dass „Frauenbefreiung nur im Sozialismus zu erreichen“ sei, leuchtete den Frankfurter Feministinnen nicht ein: „Es machte sich keiner die Mühe zu erklären, warum Frauenbefreiung eine mehr oder weniger automatische Folgeerscheinung des Sozialismus sein sollte“F10.

Erste Versuche einer eigenen Geschichtsschreibung

Vom SDS zum Frauenzentrum, Frauenjahrbuch '75, S. 9

Einen weiteren Versuch dieser politischen Subjektwerdung stellte der geschichtliche Abriss zur Entstehung der autonomen Frauenbewegung dar. Der Schwerpunkt liegt auf dem Frankfurter Raum, es finden sich aber auch Quellen des Aktionsrats zur Befreiung der Frau, der 1968 in West-Berlin das erste Mal für Aufsehen sorgte. Ausführlich wird über Gründung und Niedergang des zweiten Frankfurter Weiberrats berichtet, der – 1970 gegründet – versuchte, die Probleme der Frauen durch die politische Ökonomie zu erklären und recht erfolglos eine Art Grundschulung mit marxistischen Texten angeboten habe. Erst im Sonderplenum nach der Abtreibungskampagne in der Zeitschrift Stern am 10. Juni 1971 sei wieder Bewegung in die Gruppe gekommen. Im Kampf gegen Paragraph 218 habe sich nach und nach ein „festes Zusammengehörigkeitsgefühl“ eingestellt.11 Nun unter dem Namen Aktion 218 firmierend hätten sich überall in der BRD Frauengruppen mit dem Ziel der ersatzlosen Streichung des §218 gebildet. Es sei ein Prozess der Vernetzung und Klärung von Zielen und Forderungen gewesen: „Das Gefühl, daß es eine Frauenbewegung gibt, stellte sich für die meisten Frauen der ‚Aktion 218‘ zum ersten Mal her auf dem Bundesfrauenkongress am 12. bis 13. März 1972 in Frankfurt“, berichteten die Frauen aus Frankfurt im Jahrbuch.12 Das neue Selbstbewusstsein sei auch im Feiern von Frauenfesten und der Gründung erster Frauenzentren zum Ausdruck gekommen. So auch 1973 in Frankfurt/Main: nun solle nämlich geholfen werden: „praktisch und unmittelbar“13.

Kritisches zur eigenen Bewegung

Im Frauenjahrbuch ‘75 wurden aber auch Unstimmigkeiten und Probleme benannt. Da klagte eine Frau aus Berlin, dass Mütter kleiner Kinder von der Frauenbewegung nicht angesprochen würden: „Ich glaube, das ist nicht ganz zufällig. Im Frauenhandbuch von Brot und Rosen, im Frauenkalender ’75 kommt die Schwangerschaft nur als Übel vor, das zu vermeiden ist.“14 Andere Berichte zeichneten ein differenzierteres Bild: Im Frankfurter Weiberrat habe die Unterstützung von Müttern von Anfang an als wichtigstes Beispiel von Frauensolidarität gegolten.15

Mehrfach erwähnten die Beiträge die Unterdrückung und Ausgrenzung von Hausfrauen, etwa im Bericht der Frauengruppe in Köln. Hier wurde über Unmut, Minderwertigkeitsgefühle, Wut und Spannung sowie über eine daraus resultierende Protestaktion berichtet.16 Konflikte um inoffizielle Hierarchien, entgegengesetzte politische Interessen und mangelnde Transparenz traten auch in anderen Gruppen auf, egal ob an der Universität17 oder in einer Gruppe von Kleinstadtlesben.18

Mütter, Frauenjahrbuch '75, S. 79
Hausfrauen auch in Frauengruppen unterdrückt, Frauenjahrbuch '75, S. 119

Viele der Autorinnen versuchten, die zugrundeliegenden Probleme in den Gruppen zu analysieren und zu lösen. Denn ein wichtiger Bestandteil der Beiträge war die Weitergabe von Erfahrungen – auch zur Vermeidung zukünftiger Fehler. Ergänzt wurde das Analysieren und Teilen von Erfahrungen durch ein umfangreiches Informationsangebot: Kontaktlisten zu den existierenden Frauengruppen in Westdeutschland19 und zu Abtreibungsberatungsstellen,20 Hinweise auf Literatur und Filme zum Thema21 und – als spielerisches Element – ein feministisches Kreuzworträtsel.22 Die Publikation war Dokumentation, Informationsbörse und Aushandlungsforum eines neuen Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins.

In den folgenden Jahren wurden weitere Frauenjahrbücher in ähnlichem Stil von verschiedenen Frauengruppen/Frauenzentren in der Bundesrepublik herausgegeben. Die letzte Ausgabe erschien 1984 in Münster.23 Für die zeitgeschichtliche Forschung zur Frauenbewegung stellen sie interessante Quellen dar: So lassen sich Debatten rekonstruieren, regionale Unterschiede beleuchten und inhaltliche wie stilistische Entwicklungen nachvollziehen.

Liebe Frauen..., Flugblatt über das nächste Frauenjahrbuch, 1976
Aufruf für das Frauenjahrbuch '77, 1977

 

Veröffentlicht: 31. Mai 2022
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Verfasst von
Julia Hitz

M.A., geb. 1982, Studium Geschichte, Völkerrecht und Politikwissenschaften, tätig als freie Journalistin, Redakteurin und Filmemacherin.

Empfohlene Zitierweise
Julia Hitz (2024): Kaleidoskop der westdeutschen Frauenbewegung: das Frauenjahrbuch ´75, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/kaleidoskop-der-westdeutschen-frauenbewegung-das-frauenjahrbuch-75
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Fußnoten

  1. 1 FMT, FE.03.001-1975, S. 6.    
  2. 2 Ebenda, S. 6.
  3. 3 Ebenda.
  4. 4 Ebenda, S. 7.
  5. 5 Ebenda, S. 8.
  6. 6 Ebenda, S. 248‒295.
  7. 7 Lenz, Ilse: Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008, S. 48‒49.
  8. 8 Vgl. z.B. Schrader-Klebert, Karin: Die kulturelle Revolution der Frau, in: Kursbuch 17, 1969, S. 1–46, hier S. 2‒4.
  9. 9 Ebenda, S. 41.
  10. 10 MT, FE.03.001-1975(02), S. 25.
  11. 11 Ebenda, S. 39.
  12. 12 Ebenda, S. 41.
  13. 13 Ebenda, S. 48.
  14. 14 Ebenda, S. 81.
  15. 15 Ebenda, S. 44.
  16. 16 Ebenda, S. 124–128, hier bes. S.127.
  17. 17 Ebenda, S. 169‒172.
  18. 18 Ebenda, S. 208‒218.
  19. 19 FMT, FE.03.001-1975, S. 259–262.
  20. 20 Ebenda, S. 262–263.
  21. 21 Ebenda, S. 248–258.
  22. 22 Ebenda, S. 247.
  23. 23 FMT, FE.03.001-1984.