Frauenbewegungen und die Akademisierung der Sozialen Arbeit

verfasst von
  • Prof. Dr. Sabine Toppe
veröffentlicht 17. Oktober 2022
Frauenbewegungen im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, insbesondere die gemäßigt-bürgerliche Frauenbewegung, aber auch der radikale Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung und die proletarisch-sozialistische Frauenbewegung, haben entscheidend zur Akademisierung der Sozialen Arbeit beigetragen.

Anfänge einer professionellen Wohltätigkeit von Frauen

Die Akademisierung der Sozialen Arbeit blickt auf eine lange Vorgeschichte
sozialer Hilfstätigkeiten von Frauen und ihr spätestens im 19. Jahrhundert einsetzendes Engagement für eine Qualifizierung von Betreuung, Bildung, Erziehung und sozialer Fürsorge zurück. Einfluss hatten hier die Industrialisierung, die Entwicklung der Sozialpolitik, die Vorstellung, dass Erziehung und Bildung zur individuellen Bearbeitung sozialer Probleme beitragen können und die spezifischen Lebenslagen von Frauen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik.

Für bürgerliche Frauen im ausgehenden 19. Jahrhundert war private Wohltätigkeit durchaus üblich, sie engagierten sich im Rahmen Vaterländischer Frauenvereine, diakonischer Arbeit, in Volksküchen, Kindergärten und anderen Einrichtungen.1 Kritisiert wurde von radikalen wie gemäßigten Vertreterinnen der Frauenbewegung die ungeordnete Vielfalt dieser Aktivitäten2 , die Minna Cauer  als „Wohltätigkeitssport“, „gemeinnütziger Dilettantismus“ oder auch „Basarbazillus“3 bezeichnete.

Eine Professionalisierung der Wohlfahrtspflege und systematische Ausbildung sollten der laienhaften Wohlfahrtsarbeit von Frauen ein Ende bereiten, die Überzeugung von der Notwendigkeit war dabei in der Frauenbewegung konfessions- und bewegungsflügelübergreifend einhellig. Propagiert wurde eine fachliche Ausbildung für Mädchen und Frauen, die mit Blick auf das undurchschaubare Angebot von christlichen, jüdischen, städtischen und privaten Wohlfahrtsinitiativen auf gesicherten Wissensbeständen aufbauen sollte und „Not nicht nur lindern, sondern durch methodisches Vorgehen die Menschen in die Lage versetzen sollte, ihr Leben ohne Unterstützung zu führen“4 .

Von den Mädchen- und Frauengruppen zu sozialen Frauenschulen

Eine akademisch fundierte professionelle Soziale Arbeit von Frauen sollte zur Lösung der Sozialen wie auch der Frauen-Frage beitragen, Letzteres mit dem Fokus auf der Verbesserung der Stellung der Frau im Berufs- und Bildungswesen. Den Beginn der Ausbildung einer auf wissenschaftlicher Basis fundierten Sozialen Arbeit für Frauen markierten die 1893 in Berlin gegründeten Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit5 mit ihren Vorträgen und Jahreskursen. Sie wurden wesentlich von Vertreterinnen der Frauenbewegung wie Jeanette Schwerin, Minna Cauer, Henriette Goldschmidt oder Franziska Tiburtius getragen und ab 1899 zur Qualifizierung der vorrangig aus dem Bürgertum kommenden Frauen angeboten.

Werbepostkarte der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit
Jeanette Schwerin (1852-1899), Vorsitzende der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit

Die Vorträge und Kurse stellten eine wichtige Grundlage für eine akademisierte zweijährige Ausbildung dar, wie sie ab 1908 an der von Alice Salomon (1872–1948) gegründeten ersten interkonfessionellen Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg stattfand. Dabei ging es um mehr als eine Berufsausbildung im engeren Sinne, individuelle Emanzipationswünsche und das Bedürfnis nach Bildung verbanden sich mit der Perspektive, durch qualifizierte praktische soziale Betätigung die Not von Hilfebedürftigen zu lindern und den Gegensatz zwischen den sozialen Klassen überbrücken zu helfen. Die reflektierte Aneignung von Wissen verknüpfte sich hier mit der Einübung von kritischer Einstellung und Haltung:

Alice Salomon (1872-1948) im Jahr 1899.

„Es gilt, Schülerinnen auf eine Arbeit vorzubereiten, die nicht nur die Leistung, sondern auch die Gesinnung schätzt; für die der Zustand der Seele nichts Gleichgültiges, oder Nebensächliches ist. Sie darf deshalb nicht nur die Methoden der Pädagogik, die Technik sozialer Arbeit lehren; sie soll nicht nur Wissen vermitteln, sondern eine Pflanzstätte sozialer Gesinnung werden.“6

Akademische Qualifikationen in den Sozialen Frauenschulen

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Soziale Arbeit als moderner Beruf für Frauen erste Konturen und eine zunehmende Anerkennung gewonnen, und der Ruf nach bezahlter Fürsorgetätigkeit für Frauen wurde in sozialen Bewegungen wie auf kommunaler Ebene lauter. Hier kreuzten sich Bestrebungen der Frauenbewegung und Begründungen einer sich entwickelnden professionellen Wohlfahrtspflege und führten in der ersten Sozialen Frauenschule in Berlin unter der Leitung von Alice Salomon, herausragende Protagonistin – in Zusammenarbeit mit Kolleginnen wie Marie Baum, Charlotte Friedenthal, Siddy Wronsky –, zu einer Akademisierung Sozialer Arbeit. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden 14 weitere Soziale Frauenschulen in verschiedenen Städten – wie 1917 in Hamburg, unter der Leitung von Gertrud Bäumer und Marie Baum, oder 1919 in München, geleitet von Frieda Duensing – gegründet.7

Siddy Wronsky, Dozentin der Sozialen Frauenschule
Gertrud Bäumer (1873-1954), Gründerin der Sozialen Frauenschule in Hamburg

1917 gab es ca. 30 Einrichtungen auf konfessioneller und interkonfessioneller Basis, die als Soziale Frauenschulen und Wohlfahrtsschulen sozialpädagogische Seminare, Fort- und Weiterbildungen anboten.8 Elf von ihnen nahmen 1917 an der konstituierenden Sitzung der von Alice Salomon gegründeten ‚Konferenz der sozialen Frauenschulen Deutschlands‘ teil, 1927 gehörten 30 von insgesamt 33 Frauenschulen dieser Konferenz an.9 Der ‚Konferenz der sozialen Frauenschulen‘ kam im Kampf um die Anerkennung Sozialer Frauenschulen als eigener Qualifizierungsweg und im Prozess einer Akademisierung der Sozialen Arbeit eine wesentliche Schrittmacherfunktion zu.

1920 wurden die Bestimmungen über die staatliche Prüfung von Sozialarbeiterinnen, Fürsorgerinnen bzw. Wohlfahrtspflegerinnen, wie die wechselnden Bezeichnungen im Laufe der Zeit lauteten, neu verankert. Nach zweijähriger Ausbildung und bestandener Prüfung an der sozialen Frauenschule sowie nach Bewährung in einem anschließenden Berufsjahr wurde die staatliche Anerkennung als Wohlfahrtspflegerin ausgesprochen, sofern die betreffende Person das 24. Lebensjahr vollendet hatte.10 Ab 1931 wurde dieses Muster einer zweijährigen Ausbildung mit einem sich daran anschließenden Berufsanerkennungsjahr, das zunächst nur in Preußen eingeführt worden war, zur reichseinheitlichen Ausbildungsform.

Eine Hochschule für Frauen und eine Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit

Auf dem Weg einer Weiterentwicklung der Akademisierung Sozialer Arbeit sind zwei zentrale Einrichtungen zu nennen: die 1911 gegründete Hochschule für Frauen zu Leipzig11 und die 1925 in den Räumen der Sozialen Frauenschule in Berlin gegründete Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit. 12

Briefkopf der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit
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Briefkopf der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit

Die Hochschule für Frauen zu Leipzig wurde von der jüdischen Frauenrechtlerin und Sozialpädagogin Henriette Goldschmidt als spezifischer Lehr- und Lernort für Frauen auf den Weg gebracht mit dem Ziel, die Ausbildung von Frauenberufen wie Fürsorgerin, Kindergärtnerin oder Krankenpflegerin auf ein akademisches Niveau zu heben. 1917 erhielt die Frauenhochschule die staatliche Anerkennung, im Rahmen der Weltwirtschaftskrise in den 1920er-Jahren musste sie ihre Eigenständigkeit aufgeben und wurde Sozialpädagogisches Frauenseminar der Stadt Leipzig.

Die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, an der unter anderen Alice Salomon, Marie Baum, Margarete Berent, Hilde Lion, Margarete Meusel, Hildegard von Gierke, Siddy Wronsky, Helene Weber, Emmy Wolff, Gertrud Bäumer tätig waren, bot für Sozialarbeiterinnen und verwandte Berufe ein wissenschaftliches Aufbaustudium und verschiedene Fortbildungen im Bereich der Sozialarbeit und Sozialpädagogik auf Hochschulniveau an. Dazu zählten Jahreskurse für ausgebildete Wohlfahrtspflegerinnen, Jugendleiterinnen und Lehrerinnen, Nachmittags- und Wochenkurse für an Weiterbildung Interessierte oder wissenschaftliche Kurse für Mütter.

Werbung für Nachmittagskurse der Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit
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Werbung für Kurse an der Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit
Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit - Veröffentlichungen

Die Akademie engagierte sich dafür, die außeruniversitäre Etablierung einer wissenschaftlichen Sozialen Arbeit voranzutreiben, insbesondere auch als Arbeitsfeld für Frauen. Sie unterhielt eine eigene Forschungsabteilung, die das erste umfassende Projekt der empirischen Familienforschung in Deutschland durchführte. Bis 1933 wurden 13 Untersuchungen zum Thema Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart (1929–1933) publiziert, die der Frage zur Krise bzw. zum Bestand und zur Zerrüttung der Familie gewidmet waren.

1933 wurde die Akademie in einer geheimen Sitzung von Alice Salomon aufgelöst, um der Liquidierung durch die nationalsozialistische Regierung zu entgehen und die jüdischen Mitarbeiterinnen zu schützen.

Abbruch und Vertreibung im Nationalsozialismus

Nach der Phase des Aufbaus und einer Konsolidierung der Sozialen Frauenschulen wie weiterer Ausbildungsstätten und Hochschulen für Frauen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erlitt die Akademisierung des Sozialen wie das Engagement der Frauenbewegungen ab 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten einen herben, existenzbedrohenden und -vernichtenden Rückschlag. Einzelne Ausbildungsstätten wurden aufgelöst, andere umbenannt in ‚Nationalsozialistische Frauenschulen zur Volkspflege‘, Teile des Lehrkörpers bzw. wichtige Leitungsfiguren wie Margarete Berent, Hilde Lion, Alice Salomon, Emmy Wolff, Siddy Wronsky wurden entlassen und gingen ins Exil, gewachsene Strukturen und Identitäten der Frauenschulen und -akademien wurden zerstört.

Fazit

Es war – neben anderen Bewegungen wie der Arbeiter- und Jugendbewegung und konfessionellen Bewegungen – ein zentraler Verdienst der (bürgerlichen) Frauenbewegung, dass die Soziale Arbeit mit Ausbildungseinrichtungen, Praxisprojekten, Methoden und Forschungszugängen als Frauenberuf in einer akademischen Perspektive entwickelt wurde und für viele Frauen, zunächst des Bürgertums, später auch aus anderen Schichten, ein neues Berufsspektrum erschlossen hat.13 Die Ausbildungsstätten für Fürsorgerinnen, Sozialarbeiterinnen etc. boten sozial engagierten Frauen eine der wenigen Chancen qualifizierter Berufsarbeit. Ebenso wurden die ersten theoretischen Überlegungen und empirischen Untersuchungen zu einer systematischen Fürsorge von Frauen veröffentlicht. Pionierinnen wie Alice Salomon oder Margarete Berent – um hier nur zwei Beispiele zu nennen – entfalteten ihre gesellschaftskritischen Überlegungen im Kontext nationalökonomischer wie rechtswissenschaftlicher Analysen und entwickelten ihre soziale Praxis im engen Zusammenhang mit der Frauenbewegung.

 

Stand: 17. Oktober 2022
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Verfasst von
Prof. Dr. Sabine Toppe

Sozialpädagogin/Erziehungswissenschaftlerin, Promotion zum obrigkeitsstaatlichen Mutterschaftsdiskurs im 18. Jahrhundert, Professorin für Geschichte der Sozialen Arbeit an der ASH Berlin. Forschungsschwerpunkte: Frauenbewegung und Soziale Arbeit, Geschichte von Familie und Kindheit, Historische Geschlechterdiskurse.

Empfohlene Zitierweise
Prof. Dr. Sabine Toppe (2022): Frauenbewegungen und die Akademisierung der Sozialen Arbeit, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/frauenbewegungen-und-die-akademisierung-der-sozialen-arbeit
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Fußnoten

  • 1Bake, Rita / Kiupel Birgit: Einsichten - Von realen und idealen Frauen im Hamburger Rathaus. Hamburg 2016, S. 18 f. https://www.hamburg.de/contentblob/7084458/ca9bfb4029cc80ba7c77be488d9aea89/data/einsichten-rathaus-frauenrundgang.pdf.
  • 2Salomon, Alice: Soziale Frauenbildung, Leipzig/Berlin 1908, S. 40 ff.
  • 3Cauer, Minna: Wohltätigkeit, in: Die Frauenbewegung, 10. Jg., 1904, S. 114‒116, hier S. 114.
  • 4Wagner, Leonie: Soziale Arbeit im Kontext der bürgerlichen Frauenbewegung, in: Graßhoff, Gunther et al. (Hg.): Soziale Arbeit. Eine elementare Einführung, Wiesbaden 2018, S. 259‒272, hier S. 261.
  • 5Salomon, 20 Jahre Soziale Hilfsarbeit.
  • 6Salomon, Alice: Zur Eröffnung der sozialen Frauenschule, in: Die Frau, 16. Jg., Nov. 1908, Nr. 2, S. 103‒107, hier S. 107.
  • 7Reinicke, Peter: Die Ausbildungsstätten der sozialen Arbeit in Deutschland 1899–1945, Freiburg 2012, S. 23 ff.
  • 8Salomon, Alice: Soziale Frauenbildung und soziale Berufsarbeit, Leipzig/Berlin 1917, S. 88 ff.
  • 9Salomon, Alice: Die Ausbildung zum sozialen Beruf, Berlin 1927; Rauschenbach, Thomas / Züchner, Ivo: Die Akademisierung des Sozialen — Zugänge zur wissenschaftlichen Etablierung der Sozialen Arbeit, in: Hering, Sabine / Urban, Ulrike (Hg.): „Liebe allein genügt nicht“, Wiesbaden 2004, S. 65‒81, hier S. 69.
  • 10Salomon, Ausbildung zum sozialen Beruf.
  • 11Maierhof, Gudrun: Hochschule für Frauen, in: Diner, Dan (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Gesamtwerk in sieben Bänden, Band 3, Leipzig, 2012, S. 81–84.
  • 12Feustel, Adriane: Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit 1925-1933. Verhandlungs- und Sitzungsprotokolle, Jahresberichte, Dozentenkonferenzen, Lehrpläne, Berlin 1992.
  • 13Wagner, Leonie / Wenzel, Cornelia: Frauenbewegungen und Soziale Arbeit, in: Wagner, Leonie (Hg.): Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen, Wiesbaden 2009, S. 21‒71.

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