Frauen im Sozialismus: Generation 1930–1940
Das OWEN-Projekt Frauengedächtnis bietet eine Fülle an empirischem Material, ungeschliffene Diamanten, für weitere Forschung. In den Interviews mit Frauen der Generation 1930 bis 1940 tauchen vielfältige Themen auf – einige davon charakteristisch für die Aufbaugeneration1, wie Bildungschancen und sozialer Aufstieg. Die Zeitzeuginnen erlebten, „dass ihre Wertvorstellungen staatstragend werden“, „nicht obwohl sie aus unteren Schichten stammen, sondern gerade weil sie aus ihnen kommen“.2 Ihr oft selbstloses Engagement für den Aufbau des sozialistischen Staates stand möglicherweise im Zusammenhang mit ihren Kindheitserlebnissen in der Kriegs- und Nachkriegszeit.
Kindheit und Jugend in Kriegs- und Nachkriegszeit
1945 waren sie 5 bis 15 Jahre alt. Als „Kriegskinder“3 rekonstruierten sie oft erst als Erwachsene, was sie als Kinder im Alltag und im Krieg erlebt oder was ihre Familien geheimgehalten hatten. Selbsterlebte Geschichte wurde um angelesenes Hintergrundwissen ergänzt und historisch eingebettet. Sie erinnerten sich an den offenen Zug auf der Flucht, ‚der so furchtbar kalt war‘, an Trecks und überfüllte Schiffe aus den Ostgebieten. Sie beschäftigten sich als Erwachsene wieder mit den Orten ihrer Kindheit: Eine Interviewte engagierte sich beispielsweise für deutsch-polnische Beziehungen, eine andere verfasste eine Ortschronik.
Viele berichteten vom Kriegsalltag, von Evakuierungen, Bomben, vom Leben im Keller und kindlichem Spiel inmitten von Kriegshandlungen. Sie speicherten ab, wie die Erwachsenen sich verhielten, vor allem die Mütter, die auf Feldpost warteten oder über das Winterhilfswerk Päckchen an die Front schickten.
Die Soldaten der ‚befreienden‘ Armeen wurden als die ‚Amerikaner‘, die den Kindern Schokolade gaben und als die kinderfreundlichen ‚Russen‘ beschrieben. Angst und Hunger, bestimmte Gerüche und Geräusche waren für viele existenzielle Kindheitserlebnisse, die sich bis heute auswirken.
Sparsamkeit haben sie von klein auf gelernt, viele können bis heute keine Lebensmittel wegwerfen. Als Kinder trugen ihre Selbstversorgungsaktivitäten dazu bei, das Überleben zu sichern, zum Beispiel dadurch, dass sie Schlange standen, Beeren sammelten oder auf Äckern ‚stoppelten‘. Der Blick auf ihre Mütter in der Überlebensgesellschaft ist bei vielen positiv bis bewundernd. Viele wuchsen ohne Vater auf. Oft spielten die Großeltern eine unterstützende Rolle.
Charakteristisch für die Nachkriegszeit war, dass die Kinder wieder zur Schule gehen konnten, die meisten jedoch nur bis zur achten Klasse. In ihren Schulerinnerungen spiegeln sich Kriegsende und Neuanfang – das unterschiedliche Verhalten von Vorkriegs- und Neulehrkräften.
Auch Freizeitaktivitäten waren geprägt vom Aufbruch in die neue Zeit, wie durch die Pionierorganisation, die Freie Deutsche Jugend (FDJ) und Reisen in Kinderferienlager. Wurde den Älteren dieser Generation aufgrund familiärer patriarchaler Verhältnisse ein weiterer Schulbesuch oder eine Ausbildung zunächst noch verwehrt, holten viele das später nach.
Qualifizierte Berufstätigkeit
Fast alle Biografinnen spürten die emanzipatorische Bedeutung ihrer Berufstätigkeit. Die Frauenpolitik in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ)/DDR, die häufig in drei Phasen periodisiert4 worden ist, förderte Frauen mit unterschiedlichen und hinsichtlich der Gleichberechtigung ambivalenten Maßnahmen.5 1960 lag der Anteil der erwerbstätigen Frauen bei 55 Prozent, aber die Mehrheit von ihnen war un- oder angelernt und musste deshalb schlechter bezahlte Arbeit annehmen. Auf Grundlage des Frauenkommuniqués 19616 wurden zahlreiche Gesetze verabschiedet, um die Qualifikation zu fördern7, flankiert durch Programme in den Betrieben.
Wiederholt berichten die Frauen, dass Vorgesetzte an sie herantraten, um ihnen Weiterbildung vorzuschlagen – etwa ein Frauensonderstudium – und eine neue Funktion anzubieten. Denn gleichzeitig zielte dieser Prozess darauf ab, mehr Frauen für Führungspositionen zu gewinnen, sodass „in den letzten Jahren der DDR etwa ein Drittel aller Leitungsfunktionen von Frauen besetzt war“8 – in unteren und mittleren Ebenen. Die Biografinnen arbeiteten oft in feminisierten Bereichen wie in der Textilindustrie oder im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen9 als Ärztin, Oberstufenlehrerin, Richterin, Bürgermeisterin, Betriebsdirektorin, Funktionärin, Kulturstadträtin. Einige, die beruflich aufgestiegen waren und Leitungsfunktionen ausübten, berichteten, wie schwer es war, sich gegen Männer durchzusetzen und welche enormen Belastungen damit verbunden waren.10 Ähnliches schilderten die ersten Frauen in Männerberufen als Ingenieurökonomin, Technische Zeichnerin, Schutzpolizistin, Vermesserin. Inwieweit sie dort selbst Geschlechterverhältnisse reproduzierten oder veränderten, ist zu erforschen.
Vereinbarkeit Beruf und Familie
Nach Familiengründung, meist im Alter zwischen 20 und 25 Jahren, und der Geburt des ersten Kindes waren einige zeitweise zu Hause geblieben, hatten verkürzt gearbeitet oder zugunsten der Familie auf die berufliche Qualifizierung verzichtet – oft war das unfreiwillig. Rückblickend bewerteten sie solche Zeiten als auf Dauer zu eintönig oder rückschrittlich für ihre Persönlichkeitsentwicklung. Die außerhäusliche Kinderbetreuung, insbesondere für Kleinstkinder in Tages-, Wochen- oder Saisonkrippen, wurde ab 1950 aufgebaut, um Mütter in „das berufliche und gesellschaftliche Leben“11 einzubeziehen. Wegen der steigenden Geburtenrate mussten viele trotzdem familiäre und andere Hilfe organisieren, um weiter arbeiten zu können.
Die Erwerbstätigkeit der Frauen wurde zwar gefördert, aber die Familienpolitik selbst erst Mitte der 1960er-Jahre modifiziert. Vor allem neue sozialpolitische Maßnahmen erleichterten es Frauen, Mutterschaft mit beruflichen und gesellschaftlichen Tätigkeiten zu vereinbaren, sie „definierten wichtige Rahmenbedingungen für den Familienalltag“.12 Die Interviews illustrieren, wie Frauen das während der Arbeitszeit organisierten, beispielsweise, wenn sie noch stillten. Sie belegen, dass Alleinerziehende bevorzugte Möglichkeiten hatten, ihre Kinder unterzubringen und dass manchmal ein medizinischer Notfall der Mutter einen Wochenkrippenplatz in der Charité ermöglichte. Manche Frauen erinnerten sich an eine schöne Einrichtung und an verbesserte Angebote in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre, als ihre Kinder in Betriebskrippen, -kindergärten oder am Arbeitsplatz des Ehemannes untergebracht werden konnten.
Gleiche Rechte in Ehe und Familie
1965 betonte das Familiengesetzbuch der DDR13, dass Frauen und Männer Recht und Pflicht zu Erwerbsarbeit sowie gleiche Rechte in Ehe und Familie hatten. Die Gleichstellung im Öffentlichen bedingte auch die Gleichstellung im Privaten14, denn als berufstätige Frauen sahen sich viele nur für ein Hausfrauendasein nicht geschaffen. Sie repräsentierten damit ein Frauenbild, das sich von der Generation ihrer Mütter unterschied. Mehrere beschrieben, wie sie sich in Ehe und Familie erst gleichberechtigte Geschlechterbeziehungen erstritten. Dabei halfen ihnen ihre finanzielle Unabhängigkeit und das im Beruf gewonnene Selbstbewusstsein sowie Kolleginnen im Arbeitskollektiv.
Anders als die ältere Frauengeneration sprachen die Interviewten „erstaunlich offen über ihr Privatleben“15, über familiäre und eheliche Konflikte, aber auch über Sexualität und Verhütung. Die „Wunschkindpille“16 wurde 1965 eingeführt, als viele der Älteren schon Kinder hatten. Seit 1972 waren Abtreibungen in der DDR legalisiert, sozialversicherte Frauen erhielten die Pille kostenlos. Ihre Erfahrungen mit Ärztinnen und Ärzten, ihr Umgang mit Verhütung und Abtreibungen sowie ihre Familienplanung verdeutlichen, wie sich Geschlechterbeziehungen konkret veränderten. Die sozialpolitischen Maßnahmen von 1972 bis 198917 kamen jedoch erst ihren Töchtern zu Gute.
Was bleibt vom Sozialismus?
Viele der Frauengeneration 1930 bis 1940 thematisierten ihr Leben in einer sozialistischen Gesellschaft als etwas Familiäres und Vertrautes. Ihre Erfahrungen schienen systematisch durchdrungen vom Leben in kollektiven Organisationsformen: die Familie als ein Grundkollektiv der Gesellschaft18 und umgekehrt das Arbeitskollektiv als Familie. Einer Biografin ersetzte dieses Lebensgefühl nach der Scheidung die Geborgenheit der Familie. Mitgliedschaft in einer Kirche stand einer gesellschaftlichen Mitarbeit in Schulen, Gewerkschaft und anderen Organisationen meist nicht im Wege.
Einige berichteten von Begegnungen mit Menschen aus sozialistischen Ländern (insbesondere der Sowjetunion), internationalen Ereignissen wie den Weltfestspielen 1973 oder dem Weltfrauenkongress 1975.
Der Umbruch 1989/90 wurde von vielen als enttäuschende und schwierigste Zeit ihres Lebens bezeichnet. Die interviewten Frauen waren zu diesem Zeitpunkt erst 49 bis 59 Jahre alt, dennoch mussten viele von ihnen durch Vorruhestand oder Arbeitslosigkeit ihr Berufsleben beenden. Einige verbrachten die letzten Arbeitsjahre mit einer neuen Tätigkeit, für andere wurde ihr ganzes Leben infrage gestellt. Ihr Systemvergleich war gekoppelt an die eigene Biografie, zum Beispiel an ihren jugendlichen Stolz, eine sozialistische Gesellschaft mit aufgebaut zu haben, denn das könnten ‚die Westdeutschen nicht von sich sagen‘. Unabhängig davon, ob sie sich überzeugt für den Aufbau des Sozialismus eingesetzt oder ihm distanziert gegenübergestanden hatten, meistens bedauerten sie rückblickend den Verlust einer Systemalternative.
Geblieben war vielen die Möglichkeit, sich ehrenamtlich in Vereinen zu engagieren. Die Vergangenheit war trotz unterschiedlicher Erfahrungen und Perspektiven nicht vergangen – keine der Biografinnen hat mit ihr „abgeschlossen“.19
Fußnoten
- 1 Lindner, Bernd: Die Generation der Unberatenen. Zur Generationenfolge in der DDR und ihren strukturellen Konsequenzen, Leipzig 2006, S. 96.
- 2 Beyer-Grasse, Marina: Frauengedächtnis - Leben und Identität von Frauen in der DDR. Biographische Erinnerungen und Zeitdokumente 1930-1990. Projektbericht 2000-2001 für das Förderprogramm Frauenforschung des Senats von Berlin, Berlin 2001, S. 14.
- 3 Bode, Sabine: Die vergessene Generation. Kriegskinder brechen ihr Schweigen, Stuttgart 2004; Heinl, Peter: Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg. Seelische Wunden aus der Kindheit, Kempten 1994.
- 4 Zur Kritik dieser Periodisierungen siehe Schröter, Ursula: Die DDR-Frau und der Sozialismus - und was daraus geworden ist, in: Kaufmann, Eva / Schröter, Ursula / Ullrich, Renate (Hg.): ‚Als ganzer Mensch leben.‘ Lebensansprüche ostdeutscher Frauen, Berlin 1997, S. 27 f.
- 5 Scholz, Hannelore: Die DDR-Frau zwischen Mythos und Realität. Zum Umgang mit der Frauenfrage in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR von 1945-1989, Schwerin 1997; Hildebrandt, Karin: Frauenpolitik in der DDR von 1945 bis zur Auflösung 1989. Frauenpolitische Maßnahmen, Gesetze und historische Ereignisse, in: metis, 2. Jg., 1993, H. 2, S. 34‒48; Mocker, Elke: Frauenpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1989, in: dfb e.V. (Hg.): Frauenpolitik und Frauenbewegung. Kopiensammlung, Berlin 1990, S. 21‒29; Nickel, Hildegard M: Gleichberechtigungspolitik und weibliche Emanzipation. Geschlechterpolitik in der DDR, in: Radvan H. (Hg.): Gender und Rechtsextremismusprävention, Berlin 2013, S. 41.
- 6 Deichsel, Michael: Zum Inhalt und zur Bedeutung des Kommuniques des Politbüros des Zentralkomitees der SED vom 23.12.1961 „Die Frau - der Frieden und der Sozialismus“, in: Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft "Geschichte des Kampfes der deutschen Arbeiterklasse um die Befreiung der Frau", 4. Jg., 1976, H. 6, S. 30‒36.
- 7 Hildebrandt: Frauenpolitik, S. 42 f.
- 8 Schröter: Die DDR-Frau und der Sozialismus, S. 20.
- 9 Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Hg.): Die Frau in der DDR. Fakten und Zahlen, Berlin 1975, S. 47 ff.
- 10 Beyer-Grasse: Frauengedächtnis, S. 10.
- 11 Seidel, Maria: Zur Entwicklung von Krippen in der ehemaligen DDR, in: Senatsverwaltung für Jugend und Familie (Hg.): Werkstattgespräche zur Gruppenerziehung von Kleinstkindern in Krippen. Dokumentation einer Veranstaltungsreihe im Herbst 1990, Berlin 1991, S. 61‒76.
- 12 Meyer, Sibylle / Schulze, Eva: Familie im Umbruch. Zur Lage der Familie in der ehemaligen DDR. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie und Senioren, Stuttgart 1992, S. 11.
- 13 Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik. Staatsverlag der DDR, Berlin 1987.
- 14 Schröter, Ursula: Rezension. Hannelore Scholz: Die DDR-Frau zwischen Mythos und Realität, in: Zeitschrift für Germanistik. 9. Jg., 1999, H. 1, S. 182.
- 15 Beyer-Grasse: Frauengedächtnis, S. 20.
- 16 Leo, Annette / König, Christian: Die „Wunschkindpille“. Weibliche Erfahrung und staatliche Geburtenpolitik in der DDR, Göttingen 2015.
- 17 Hildebrandt: Frauenpolitik, S. 45.
- 18 Vgl. Meyer, Sibylle / Eva Schulze: Familie im Umbruch, S. 10.
- 19 Beyer-Grasse: Frauengedächtnis, S. 10.
Ausgewählte Publikationen
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Dölling, Irene: Entwicklungswidersprüche berufstätiger Frauen in der sozialistischen Gesellschaft, in: Weimarer Beiträge, Berlin 1982, S. 76-87.
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Dölling, Irene: Die Bedeutung von Berufsarbeit für die Identität von Frauen in der früheren DDR, in: KulturInitiative e.V. und Institut für Kulturwissenschaftliches Institut Berlin (Hg.): Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1995, S. 40-54.
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Kaufmann, Eva / Schröter, Ursula / Ullrich, Renate (Hg.): Als ganzer Mensch leben. Lebensansprüche ostdeutscher Frauen, Berlin 1997.
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Nickel, Hildegard M.: "Mitgestalterinnen des Sozialismus" - Frauenarbeit in der DDR, in: Frauen in Deutschland 1945-1992. Gisela Helwig / Hildegard Maria Nickel (Hg.): Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1993, S. 233-256.
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Schüle, Annegret: Industriearbeit als Emanzipationschance? Arbeiterinnen im Büromaschinenwerk Sömmerda und in der Baumwollspinnerei Leipzig, in: Budde, Gunilla-Friederike (Hg.): Frauen arbeiten. Weibliche Erwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland nach 1945, Göttingen 1997, S. 100-120.
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Trappe, Heike: Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin 1995.