Frauen in Bewegung
Sei es Blutarmut oder Rückgratverkrümmungen – ab dem Ende des 18. Jahrhunderts machten Ärzte die Lebensbedingungen der bürgerlichen Mädchen und Frauen für zahlreiche Krankheiten verantwortlich. Als Gegenmittel schlugen sie Bewegungsübungen vor, ohne damit aber große Breitenwirkung in einer Zeit zu erzielen, in der Blässe, Hilflosigkeit und Ohnmachtsanfälle als vornehm und weiblich galten.1
Zugleich warnten dieselben Ärzte vor gesundheitsgefährdenden Übungen, die „der Eigentümlichkeit des Baues des weiblichen Körpers“ zuwiderliefen.2 Besonders verpönt war das Springen oder das Spreizen der Beine, weil dadurch angeblich die Sexualorgane aus ihrer Lage gebracht wurden. Behindert wurde die körperliche Erziehung von Mädchen auch durch die Turnkleidung. Lange Röcke und unbequeme, unelastische Oberteile – oft sogar mit Korsett – engten die Bewegungsfreiheit stark ein.3 Nicht zuletzt kursierte die Meinung, dass das Turnen eine psychische und physische Vermännlichung zur Folge habe und daher „Emanzipierte, Amazonen und Mannweiber“ herangebildet würden. Diese und andere Vorurteile gegen die „körperliche Ertüchtigung des weiblichen Geschlechts“ zielten letztlich darauf, Frauen auf ihre „natürlichen“ Aufgaben zu beschränken und die bestehenden Geschlechterverhältnisse aufrechtzuerhalten.4
Um 1900 – eine Umbruchphase
Mit den sozialen und ökonomischen Veränderungen durch die Industrialisierung wandelte sich auch das Frauenbild, vor allem gewann die berufstätige und sportlich aktive Frau allmählich gesellschaftliche Anerkennung. Obwohl das Turnen nach wie vor als Männersache galt, an der Frauen vor allem durch das Besticken der Vereinsfahnen und als Zierde der Vereinsfeste Anteil hatten, konnten sich die Turnvereine nicht mehr dem Andrang von Frauen verschließen. Ab Ende der 1880er-Jahre richteten die ersten Vereine der Deutschen Turnerschaft (DT) Frauenabteilungen ein – auch wenn diese oft nur geduldet waren.
Fürsprecherin der ersten Turnerinnen war die Herausgeberin der Deutschen Turnzeitung für Frauen Martha Thurm, die unter anderem auf dem Deutschen Turnfest 1903 gegen die Diskriminierung weiblicher Vereinsangehöriger auftrat. Sie konnte aber, da Frauen mit rund 5 Prozent nur eine kleine Minderheit in der DT waren, nicht einmal ihre maßvollen Forderungen nach einem Mitberatungs-, nicht etwa Mitbestimmungsrecht der Turnerinnen durchsetzen. Trotzdem traten immer mehr Frauen der Turnbewegung bei: 1914 gehörten rund 75.000 Turnerinnen (6 Prozent der Mitglieder) der DT an.5 Frauen, die Wert auf Selbstständigkeit legten, schlossen sich zu eigenen Frauenturnvereinen zusammen – um die Jahrhundertwende hatten diese rund 20.000 Mitglieder.
Wandern, Sport und eine neue Gymnastik
Das Turnen erstarrte allerdings immer mehr zu einem ,Gliederpuppenturnen’. Dagegen setzte in anderen Bereichen eine Befreiung des Körpers von gesellschaftlichen und turnerischen Zwängen ein: beim Spielen und Wandern, in der Gymnastik und im Sport. Während das Turnen eine allseitige Ertüchtigung betonte, kommt es im Sport auf Spitzenleistungen in einer einzigen Sportart an. Zudem folgt er den Prinzipien der Konkurrenz, der Überbietung von Leistungen und des Rekordes. Aus England importiert, wurde der Sport seit den 1880er-Jahren auch in Deutschland populär und entwickelte sich zum schärfsten Konkurrenten des Turnens.
Schon um 1900 versuchten sich Frauen, wenn auch nur vereinzelt, an vielen noch heute als typisch männlich geltenden Sportarten wie Radsport, Eishockey oder Skispringen. Aber nur in einigen exklusiven Sportarten – darunter Tennis und Reiten im Damensattel (das Adelige seit je her praktizierten) – wurden Frauen ohne großen Widerstand akzeptiert.
Besonders anrüchig war die Beteiligung an Wettkämpfen, sodass die Presse beim ersten leichtathletischen Damensportfest in Berlin (1904) nur die Vornamen der Siegerinnen nannte, weil „wir es trotz des zweifelhaften Unternehmens mit anständigen Damen zu tun haben, deren Familien es unmöglich angenehm sein kann, wenn ihre Namen in dem Bericht öffentlich genannte werden.“6
Doch trotz aller Hemmnisse breitete sich die Frauensportbewegung weiter aus. Im Jahr 1900 nahmen Frauen gegen den Willen Pierre de Coubertins (Gründer des Internationalen Olympischen Komitees 1894), erstmals an den Olympischen Spielen teil. Mehr als 50 Sportlerinnen traten zu verschiedenen Wettbewerben an, einige sogar in ,geschlechter-gemischten‛ Wettkämpfen wie Ballonfahren oder Segeln. Die Zirkusreiterin Elvira Guerra belegte einen 9. Platz in einem Dressurwettbewerb, an dem sich mehr als 50 Männer beteiligten.
Auch der Kampf gegen die unpraktische Turn- und Sportkleidung zeigte schon vor dem Ersten Weltkrieg Erfolge. Die Radfahrerinnen gehörten zu den ersten Frauen, die gegen die strengen Kleidernormen verstießen und Pumphosen anzogen.
Die Beteiligung an den meisten Sportarten war allerdings ein Privileg von Mädchen und Frauen der Mittel- und Oberschichten. Denn nur sie hatten Zeit und vor allem genug Geld, um die zum Teil teure Ausrüstung und die hohen Mitgliedsbeiträge zum Beispiel in Tennis- oder Golfvereinen zu bezahlen.
Die „Neue Frau“ und der Sport in der Weimarer Republik
In der Weimarer Republik kamen im Zuge der Modernisierungsprozesse und der Auflösung traditioneller Wertorientierungen auch neue Frauenleitbilder auf. Die ,neue Frau‘ war selbstbewusst und erfolgreich, im Beruf, im Sport und auch in der Liebe. Mit der Realität der meisten Frauen, die oft mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten und nach wie vor in erster Linie Ehefrauen und Mütter waren, hatten diese in den Massenmedien propagierten Ideale allerdings wenig zu tun.
Die Turn- und Sportfunktionäre waren sich inzwischen weitgehend einig, dass die ,körperliche Ertüchtigung des weiblichen Geschlechts wünschenswert‘ sei – zumindest solange die Grenzen der Weiblichkeit nicht überschritten wurden. Welche Disziplinen und Übungsformen ,weiblich‘ seien, war allerdings umstritten. Die meisten bürgerlichen Turn- und Sportfunktionäre sahen die Vorbereitung der Frau auf Ehe und Mutterschaft weiterhin als wichtigste Aufgabe der körperlichen Ertüchtigung an. Anders – zumindest auf programmatischer Ebene – die Arbeiter-Turn- und Sportbewegung. Sie wollte die Frauen zu ,vollwertigen Kämpfern‛ für künftige Klassenauseinandersetzungen erziehen.
In der Weimarer Republik beteiligen sich Frauen auch erstmals in größerer Zahl an den Kontroversen über den Frauensport – nicht nur in der Fachliteratur, auch auf Tagungen. Zwei davon organisierte der Bund Deutscher Frauenvereine mit (1925, 1929). Dabei fanden die Frauen neue, fundierte Argumente für den Frauensport. Ärztinnen konnten zum Beispiel die Annahme, Sporttreiben gefährde Gesundheit und Gebärfähigkeit der Frauen, nach vielen empirischen Untersuchungen eindeutig zurückweisen.7 Einige Sportlerinnen orientierten sich an den Vorstellungen des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung. Sie stellten den Mythos vom schwachen Geschlecht und die weithin propagierten Ziele des Frauensports infrage und argumentierten, dass diese die patriarchalischen Strukturen der Gesellschaft stabilisierten. Sport war für sie ein Mittel, mehr Selbstbewusstsein zu erlangen und Benachteiligungen abzubauen.8
Auch wenn die meisten turnenden und Sport treibenden Frauen solche ,radikalen‘ Ansichten nicht teilten, stimmten doch alle der Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht in Frauenfragen zu. Trotzdem wurde in manchen Verbänden und Vereinen das Stimm- und Wahlrecht der Frauen nur sehr zögernd verliehen und auch da, wo Frauen formal gleichberechtigt waren, konnten sie aufgrund ihrer Minderheitenposition ihre Interessen selten durchsetzen. Die Folgen waren Bevormundungen, Schutzbestimmungen und Ausgrenzungen von Frauen. So erklärte sich etwa der Deutsche Ruderverband in den 1920er-Jahren nicht für die Belange der Ruderinnen zuständig, was auch bedeutete, dass Frauen keine offiziellen Ruderwettkämpfe austragen konnten.9 Aufgrund der Forderung der Frauen nach Selbstbestimmung wurden in einigen Verbänden wie dem Deutschen Reichsausschuß für Leibesübungen Frauenausschüsse eingerichtet, die jedoch schon wegen ihrer konservativen Mitglieder keine entscheidenden Veränderungen des Frauensport anstrebten.10
Anders als die bürgerlichen Sportorganisationen suchte die Arbeiter-Turn- und Sportbewegung die Mitarbeit der ,Genossinnen‛ in den Entscheidungsgremien durch eine Quotierung abzusichern. Trotzdem änderte sich auch hier wenig an der Männerdominanz auf Funktionärsebene – weil die Frauen zeitlich stark belastet, oft ungenügend vorgebildet und überdies oft mit den Vorurteilen der Turngenossen konfrontiert waren.11
Trotz aller Vorbehalte engagierten sich in den 1920er-Jahren mehr und mehr Mädchen und Frauen im Sport, in traditionellen Sportarten wie Schwimmen, Tennis oder Leichtathletik, aber auch in für Frauen neu erfundenen Sportarten. Handball etwa diente als Ersatz für Fußball, ein Spiel, das in Deutschland für Frauen absolut tabu war.12 Besonders erfolgreich waren jüdische Sportlerinnen wie Lilli Henoch oder Gretel Bergmann.13 Henoch wurde von den Nationalsozialisten ermordet, Bergmann gelang die Emigration in die USA.
Während der Sport Männlichkeitsideale wie Stärke, Leistung und Siegeswillen forderte und verstärkte, wurden in der Gymnastik expressive Fähigkeiten, seelische Werte und ästhetische Qualitäten betont. Deshalb sprach die Gymnastikbewegung vor allem jene Frauen an, die glaubten, dort den Weg zu einer wesensgemäßen weiblichen Körperkultur frei von männlicher Bevormundung gefunden zu haben. Einige wenige Frauen kritisierten allerdings, dass die Gymnastik zur Verfestigung von Rollenklischees und Weiblichkeitsmythen beitrage.14
Frauensport in der NS-Zeit
Viele in der Weimarer Republik sich anbahnenden positiven Entwicklungen wurden durch die Gleichschaltung aller Lebensbereiche im Nationalsozialismus abgebrochen. Zwar wiesen Ideologie und Politik der Nationalsozialisten dem Sport in Form der politischen, das heißt aufs Volksganze ausgerichteten Leibeserziehung, einen neuen Stellenwert zu; die Aufwertung des Körpers und des Sports waren aber mit ihrer Funktionalisierung und Instrumentalisierung verbunden. Gleichzeitig erreichte die geschlechtsspezifische Polarisierung der Leibesübungen einen neuen Höhepunkt, indem die NS-Ideologie eine Trennung der Geschlechter im Sport forderte und Frauen auf die Gebärfunktion, Männer auf die Wehrtüchtigkeit zu reduzieren versuchte.
Fußnoten
- 1 Vgl. Hänel, Herbert: Deutsche Ärzte des 18. Jahrhunderts über Leibesübungen, Frankfurt/Main 1972.
- 2 Kloss, Moritz: Das Turnen in den Spielen der Mädchen, Dresden 1862, S. 284; vgl. Bluemcke, Adolf: Die Koerperschule der deutschen Frau im Wandel der Jahrhundertwende, Dresden 1928; vgl. auch Pfister, Gertrud / Langenfeld, Hans: Die Leibesübungen für das weibliche Geschlecht – ein Mittel zur Emanzipation der Frau?, in: Ueberhorst, Horst (Hg.): Geschichte der Leibesübungen, Bd. 3, Nr. 1, Berlin 1980, S. 485–521.
- 3 Vgl. Pfister / Langenfeld, Leibesübungen.
- 4 Vgl. Deutsche Turnzeitung für Frauen, 16. Jg., 1914, S. 30.
- 5 Vgl. Pfister / Langenfeld, Leibesübungen.
- 6 Gross 1925, zitiert in: Pfister, Gertrud, Frau und Sport. Frühe Texte, Frankfurt am Main 1980, S. 44.
- 7 Vgl. Pfister, Frauen und Sport, S. 113 ff.
- 8 Vgl. ebenda, S. 59 ff.
- 9 Vgl. Hutmacher, Anne: Die Entwicklung des Frauenruderns in Deutschland, Diss., Köln 2011.
- 10 Vgl. Pfister / Langenfeld, Leibesübungen.
- 11 Pfister, Gertrud: Demands, Realities and Ambivalences. Women in the Proletarian Sports Movement in Germany (1893–1933), in: Women in Sport and Physical Activity Journal, Jg. 3, 1994, H. 2, S. 39–69.
- 12 Pfister, Gertrud: Handball – from a women's game to a men's sport, in: Dumon, Detlef et. al. (Hg.): Passionately Inclusive. Towards Participation and Friendship in Sport. Festschrift für Gudrun Doll-Tepper, Münster 2017, S. 175–193.
- 13 Bahro, Berno et. al. (Hg.): Vergessene Rekorde. Jüdische Leichtathletinnen vor und nach 1933. Berlin 2009.
- 14 Diem, Liselott: Die Gymnastikbewegung. Ein Beitrag zur Entwicklung des Frauensports, Baden-Baden 1991.