Der Skorpion – eine Romantrilogie von Anna Elisabet Weirauch

verfasst von
  • Dr. Claudia Schoppmann
veröffentlicht 13. September 2018
Anna Elisabet Weirauch war eine der ersten Autor*innen im deutschsprachigen Raum, die Frauenliebe positiv thematisiert hat. Im Zentrum ihrer Trilogie ‚Der Skorpion‘ steht die Entwicklungsgeschichte einer jungen Frau, die sich mit ihrer Homosexualität und den gesellschaftlichen Diskriminierungen auseinandersetzt. Sprachlich eher konventionell, ist das Werk heute vor allem als zeitgeschichtliches Dokument lesbischen Lebens bedeutsam.

Kurz nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte Anna Elisabet Weirauch den Roman Der Skorpion um Glück und Unglück einer lesbischen Liebe – ein in der zeitgenössischen Literatur kaum behandeltes Thema. Die Autorin schrieb zwei Fortsetzungsbände, die 1921 und 1931 – wie auch der erste Band 1919 – im Askanischen Verlag in Berlin erschienen. Worum geht es in diesem zum Kultbuch avancierten Dreiteiler, der heute vor allem als zeitgeschichtliches Dokument lesbischen Lebens bedeutsam ist?

Melitta Rudloff, genannt Mette, stammt aus einer gutbürgerlichen, lieblos-strengen Berliner Familie. Im Alter von etwa zwanzig Jahren lernt sie die rund zehn Jahre ältere Olga Radó kennen und ist fasziniert von dem Wissen, dem Charme und der Schönheit der Wienerin. Langsam entsteht eine geistige Freundschaft und auch erotische Nähe zwischen beiden, die von Mettes Familie argwöhnisch beobachtet, ja bekämpft werden. Mettes Vater lässt die beiden beschatten, wohl um Olga der ‚Verführung Minderjähriger‘ zu überführen. Schon einmal, in Österreich, war ihr nachgestellt worden. Auch wenn die Autorin auf die Umstände dieser Verfolgung nicht näher eingeht, so dürfte sie gewusst haben, dass in Österreich – anders als im Deutschen Reich – lesbische Liebe strafrechtlich verfolgt wurde. Paragraf 129 des österreichischen Strafgesetzbuches bedrohte die gleichgeschlechtliche ‚Unzucht‘ mit schwerem Kerker von einem bis fünf Jahren.

Ein von der Familie beauftragter Psychiater versucht, Mette davon zu überzeugen, dass sie an ihrer ‚Veranlagung‘ zugrunde gehen werde, wenn sie nicht auf den richtigen Weg finde. Mettes frühere Liebe zu ihrem Kindermädchen gilt als Indiz dafür, dass ihr Lesbischsein angeboren ist – eine Theorie, die von den meisten Sexualwissenschaftlern jener Zeit vertreten wurde. Im Unterschied zu diesen stellt die Autorin Mettes sexuelle Orientierung jedoch nicht als krankhaft, sondern als natürlich und nicht mit körperlichen oder seelischen Anomalien einhergehend dar. Sie sucht auch nicht nach Erklärungen für die vermeintlichen Ursachen des Lesbischseins.

Schließlich kommt es zur ersten stürmischen Liebesnacht zwischen Olga und Mette. Trotz der teilweise blumigen Ausdrucksweise ist die Szene für die damalige Zeit durchaus gewagt und einmalig. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zudem, dass die Initiative eindeutig von Mette ausgeht. Weirauch widerspricht damit gängigen Unterstellungen von der ‚Verführung‘ Minderjähriger zur Homosexualität.

Mettes Familie versucht nun mit allen Mitteln, die Liebesbeziehung zu unterbinden. Als sie schließlich mit der Polizei vor Olgas Pensionszimmer am Viktoria-Luise-Platz stehen, um Mette mitzunehmen, verleugnet Olga ihre Beziehung und schickt Mette fort. Sie hält dem Druck nicht länger stand. Doch aus Gram über ihr Verhalten Mette gegenüber erschießt sich Olga wenig später.

In ihrem Selbstfindungsprozess ist Mette den Klischees und Vorurteilen über lesbische Frauen und deren vermeintlich unausweichlichem Verderben ausgesetzt. Aus Angst davor, möglicherweise selbst zu diesen ‚Mannweibern‘ zu gehören, will sie in eine Ehe flüchten. Doch als sie von Olgas Verzweiflungstat erfährt, findet sie wieder zu sich – und löst die Verlobung. Mit 21 Jahren (nach damaligem Recht) volljährig geworden, erbt sie ein beträchtliches Vermögen, löst sich aus allen familiären Fesseln und begibt sich auf Reisen. In München hat sie Kontakt zu anderen homosexuellen Frauen und Männern, lernt die Subkultur kennen und hat eine aufreibende Affäre. Doch Sexualität ohne eine geistige Beziehung ist für Mette auf Dauer nicht lebbar. Sie flüchtet nach Hamburg, wo sie ihre Bedürfnisse verleugnet und sich anzupassen versucht. Doch die Illusion von der moralischen Überlegenheit ihrer heterosexuellen Umwelt zerbricht bald.

Im letzten Teil des Romans versucht Mette, ihr Glück auf dem Land zu finden. Um diesen Wunsch zu verwirklichen, muss sie noch einmal nach Berlin fahren. Dort wartet ein neues Abenteuer auf sie: Mette hat eine Liebesbeziehung mit Cora von Gjellerström, die früher einmal Olga Radó Geliebte war. Cora schenkte Olga einst ein Zigarettenetui mit einem eingravierten Skorpion. Nur dieses Tier sei, neben dem Menschen, in der Lage, sein Schicksal selbst zu bestimmen und – in einer lebensbedrohlichen Situation – mithilfe seines Stachels Selbstmord zu begehen. Schließlich kann sich Mette dem ungünstigen Einfluss von Cora entziehen und beginnt ein neues Leben auf dem Land. Es kommt nicht zum Happy End; eine spätere Liebesbeziehung wird aber auch nicht ausgeschlossen. Mette erleidet so nicht das Schicksal lesbischer Charaktere anderer Autor*innen, die zur Heterosexualität ‚bekehrt‘ werden oder am Lesbischsein zugrunde gehen.

Gegen Klischees und Vorurteile

Basierend auf einer Verlagsankündigung des Skorpion hieß es 1930 in der Lesbenzeitschrift Die Freundin, das Buch erzähle „ohne jede Tendenz, ohne zu schmähen und ohne zu verherrlichen, in wundervoller dichterischer Sprache, die nie auch nur die Grenzen des Unschönen streift, nicht in der Absicht, eine Lanze zu brechen oder Sensation zu erregen, nur in der Absicht, Vorgänge zu schildern, die sich – manchem unerklärlich – tausendmal unter unsern Augen abspielen, und die nicht aufhören zu existieren, dadurch, dass man sie verschweigt“.1

Indem Weirauch nicht nur den Entwicklungsprozess einer lesbischen Frau schilderte, sondern auch Formen der Diskriminierung lesbischer Frauen (und homosexueller Männer) darstellte, ergriff sie Partei und wandte sich gegen Vorurteile und Klischees. Dagegen wurde in anderen zeitgenössischen Werken weibliche Homosexualität – so sie überhaupt thematisiert wurde – häufig mit Verbrechen, Krankheit oder Sünde assoziiert. Dies dürfte die Popularität erklären, die Der Skorpion in der Weimarer Republik genoss – zumindest bei frauenliebenden Leserinnen. Auf Hilde Radusch (1903–1994) etwa, Frauenrechtlerin, antifaschistische Widerstandskämpferin und streitbare Politikerin, machte der Roman „einen ungeheuren Eindruck […]. Für mich war das Buch eine Offenbarung, ich erkannte mich darin wieder.“2

Der Roman wurde regelmäßig beworben, etwa in Die Freundin, und war vermutlich auch namensgebend für eine Berliner Lesbenvereinigung. Jedenfalls traf sich, zumindest in den Jahren 1926 bis 1930, der Damenclub Skorpion in der Taverne, einem Szenelokal im Bezirk Berlin-Friedrichshain. In ihrem Buch Berlins lesbische Frauen (1928) beschreibt die Schriftstellerin Ruth Roellig (1878–1969) mehrere zeitgenössische Lesbenlokalitäten, darunter auch die Taverne nahe dem Alexanderplatz.

Rezeption

Die Rezeption des Skorpion beschränkte sich nicht auf lesbische Kreise. Es erschienen etliche Rezensionen in der bürgerlichen Presse – vor allem in Berlin, wo Weirauch als frühere Schauspielerin wohl am bekanntesten war, aber auch beispielsweise in Breslau (heute poln. Wrocław) und sogar im Ausland (Wien). Belege hierfür finden sich in einem persönlichen Album, das Weirauchs künstlerischen Weg seit 1902 – als damals 14-jährige Schauspiel-Elevin – dokumentiert.3 Das Album enthält Kritiken von Weirauchs Bühnenauftritten beziehungsweise Rezensionen ihrer Werke aus den Jahren 1902 bis 1921.

Rezensionsalbum von Anna Elisabet Weirauch

So heißt es etwa im Berliner Tageblatt, einer auflagenstarken überregionalen Zeitung, durchaus positiv: „Und wie aus Freundinnen Geliebte werden, das hat die so sehr begabte Verfasserin mit unendlicher Feinheit und großer Klarheit zugleich geschildert. [ …] Ein gutes und ein nachdenkliches Buch zugleich, das weite Ausblicke öffnet auf dem Wege zum Verständnis jener Frauen, die anders sind als die anderen.“4 Mit dieser Formulierung spielte der Rezensent im Übrigen auf den Spielfilm Anders als die Andern (1919) an, der mann-männliches Begehren erstmals auf die Leinwand brachte.

Das 8-Uhr-Abendblatt schrieb dagegen wenig später, Der Skorpion behandle ein Thema, „an das sich deutsche Federn bisher kaum herangewagt hatten und dem selbst die vorurteilsloseren Franzosen seit Gautiers berühmt-berüchtigter ‚Mademoiselle Maupin‘ aus dem Wege gingen. Wer da aber belletristisch verkleideten Krafft-Ebing vermutet, wurde arg enttäuscht. Und nicht minder wurde es jeder, der eine Verteidigung abnormal Veranlagter oder gar eine Streitschrift wider ihr Treiben erwartete“.5 Wie in anderen Kritiken wird hier die Neutralität der Autorin betont, ihr künstlerisches Taktgefühl, ihre Ausdrucksstärke, ihr psychologischer Scharfblick und ihr Mitleid für all jene, die „auf düstere, verfemte Abwege getrieben“6 werden. Die Kritik der Autorin an der gesellschaftlichen Diskriminierung homosexueller Frauen und Männer blieb dagegen meist unerwähnt.

Der erste Band war rasch vergriffen und wurde noch im selben Jahr, 1919, sowie 1930 neu aufgelegt. Für den Erfolg des Buches spricht auch, dass Weirauch den Skorpion 1921 für den Film bearbeitet hat, zusammen mit Käte Wienskowitz, Co-Regisseurin von Florentinische Nächte (1920). Eine Verfilmung des Skorpion wurde jedoch offenbar nicht realisiert. In den USA erschienen zwischen 1932 und 1975 Übersetzungen einzelner Bände, teils in gekürzter Fassung, sowie der Gesamtausgabe. In Deutschland geriet der Roman in Vergessenheit. 1977 wurde der erste Band des Skorpion vom Lesbischen Aktionszentrum in West-Berlin als Raubdruck wieder zugänglich gemacht, weil es „für uns einen Beitrag darstellt zu unserer schlecht oder meist garnicht dokumentierten Geschichte“.7 1992/93 folgten weitere Neuauflagen.

Stand: 13. September 2018
Verfasst von
Dr. Claudia Schoppmann

Jg. 1958, hat Germanistik, Geschichte und Publizistik in Münster und West-Berlin studiert und 1990 an der TU Berlin zur geschlechtsspezifischen Bekämpfung der Homosexualität im Dritten Reich promoviert. 1983 verfasste sie ihre Magisterarbeit über den Roman Der Skorpion von A. E. Weirauch, die 1985 publiziert wurde. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Gedenkstätte Stille Helden in Berlin.

Empfohlene Zitierweise
Dr. Claudia Schoppmann (2023): Der Skorpion – eine Romantrilogie von Anna Elisabet Weirauch, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/der-skorpion-eine-romantrilogie-von-anna-elisabet-weirauch
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Fußnoten

  • 1Was Sie interessieren dürfte … (o.Verf.), in: Die Freundin. Wochenschrift für ideale Frauenfreundschaft, 6. Jg., 7.5.1930, o.P.
  • 2Brief Hilde Radusch vom 5.11.1982 an die Verfasserin.
  • 3Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek Berlin e.V., Slg/Wei/2.
  • 4Fischer, Karl: Anna Elisabet Weirauch, „Der Skorpion“, in: Berliner Tageblatt und Handelszeitung, 48. Jg., 27.8.1919.
  • 5[Grob], Ernst: Anna Elisabet Weirauchs Romane, in: 8-Uhr-Abendblatt (National-Zeitung), 72. Jg., 11.12.1919.
  • 6Fischer, Karl: Anna Elisabet Weirauch, „Der Skorpion“, in: Berliner Tageblatt und Handelszeitung, 48. Jg., 27.8.1919.
  • 7Aus dem Klappentext zur Neuauflage des Skorpion (Bd. 1) durch den Lesbenselbstverlag Berlin, 1977.