
In der Provinz: Frauengeschichte machen und schreiben
Bewegung macht Geschichte – schreibt sie nicht?
„Eine Bewegung schreibt nicht gleich Geschichte – sie ist viel zu sehr damit beschäftigt, sie zu machen.“1 So resümierten Aktivistinnen des Bildungszentrums und Archivs zur Frauengeschichte Baden-Württembergs BAF e.V. die Herausforderung, die Geschichte der Neuen Frauenbewegung zu fassen: Ab den 1970er-Jahren kämpften Feministinnen vielfach für die Umsetzung konkreter Projekte – sie kümmerten sich jedoch in der Regel wenig um die Bewahrung ihrer Aktivitäten: Dringlich war die Aktion im Augenblick, die eigene Geschichtsschreibung war es nicht.2
Das Projekt
Die Geschichte der Neuen Frauenbewegung zu bewahren und fortzuschreiben ist Schwerpunkt der BAF-Arbeit: Seit Mitte der 1990er-Jahre sichtete der Verein die Schätze der Tübinger Frauenbewegung, etwa den Nachlass des 1986 aufgelösten Tübinger Frauenzentrums und vieler weiterer lokaler und regionaler Fraueninitiativen.
Frauen aus unterschiedlichen Generationen und Zusammenhängen vereinte dabei die Vision, „eine große, bunte und phantasievolle Ausstellung zur ‚Stadtgeschichte der Neuen Frauenbewegung‘“3 zustande zu bringen. Aktionen und Akteurinnen vor Ort sollten genauso gewürdigt werden wie zentrale Anliegen und Errungenschaften der Bewegung insgesamt. Ziel der BAF-Aktivistinnen4 war, Frauenbewegung „in ihrer Bedeutung für gegenwärtige Fragen und Herausforderungen für alle sichtbar zu machen und damit auch neue Diskussionen anzuregen“5. Mit viel Neugier, Energie und handwerklichem Geschick realisierte die Gruppe ein dreiteiliges Projekt – Ausstellung, Begleitbuch und Veranstaltungsprogramm –, das die Neue Frauenbewegung als wichtige soziale Bewegung ihrer Zeit würdigte.
Die Ausstellung – Spiegel einer Bewegung
Unter der Schirmherrschaft der damaligen Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin präsentierte die Ausstellung ‚In Bewegung‘ im Herbst 1999 in der Tübinger Kulturhalle verschiedene Facetten der Frauenbewegung vor Ort. Beleuchtet werden sollte,
- welche politischen, kulturellen und sozialen Ideen und Orte Frauen für sich räumlich und symbolisch finden oder schaffen konnten und
- wie Stadt und Region Impulse der Frauenbewegung aufnahmen und davon geprägt wurden.6
Einflussreiche Texte und Bilder, Objekte vom Demo-Transparent bis zum Spekulum aus Selbstuntersuchungsgruppen sowie eigens gebaute Installationen setzten Aspekte der damaligen Frauenpolitik und -alltagskultur in Szene.
Verhandelt wurden heute noch aktuelle Themen wie die Auseinandersetzung um den § 218, sexuelle Identität(en), Sorge- und Lohnarbeit, sexualisierte Gewalt, Selbstbestimmung und die Vielfalt der Lebensformen am Ende des 20. Jahrhunderts.
Ein Guckkasten-Kaleidoskop am Eingang veranschaulichte die Vielfalt von Feminismus, in extra angefertigten Büchern hielten BesucherInnen eigene Erinnerungen fest und schrieben damit Bewegungsgeschichte fort.
Als „eine Hommage, der es an Selbstkritik und Witz nicht mangelt“7, lobte die Lokalpresse den „Blick zurück“ in ihrer Ausstellungskritik.
Nach dem Ende der Ausstellung sind die von BAF archivierten Bestände vielseitig nutzbar.8 Objekte, schriftliche Quellen, transkribierte Diskussionen und Interviews aus dem Projekt-Kontext geben wertvolle Hinweise zu den ersten 30 Jahren dieser lokalen Frauenbewegung.
Das Begleitbuch – Mehr als ein Ausstellungskatalog9
Als eine der ersten Publikationen in Baden-Württemberg nahm das Begleitbuch zur Ausstellung die historische Bedeutung der Neuen Frauenbewegung in den Blick. In Form eines Geschichts- und Geschichtenbuches greift es Themen der Ausstellung auf und verknüpft sie mit subjektiven Zugängen.10 Mit Dokumenten und Fotos bietet der Band einen umfassenden Einblick in die Frauenbewegung in Tübingen.
Für Bewegungsgedächtnis und -erforschung besonders ergiebig ist die Chronologie von 1969 bis 1999. Tübinger Aktivitäten und Errungenschaften werden in dieser ‚Ereignisgeschichte‘ parallel gesetzt zu bundesweiten Aktionen und politischen Entscheidungen.11
Genauso wie für die Ausstellung gilt für die Chronologie das Prinzip der Unabgeschlossenheit: „Die Chronologie könnte jeden Tag fortgeschrieben, korrigiert und ergänzt werden – Geschichte lebt!“12
Das Begleitprogramm – Feminismus vernetzt
Rund 40 Veranstaltungen – darunter Diskussionen mit Zeitzeuginnen, Workshops, Performances und eine Mädchen-Matinee – boten vielfältige Diskussionsmöglichkeiten mit und durch Aktive(n) aus Tübinger Frauenprojekten, Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und Kultur. Interessierte konnten so in Geschichte und Gegenwart der neuen Frauenbewegung ‚eintauchen'.
Die überlieferten Gesprächsrunden und Erzählcafés stellen einen besonderen Schatz des BAF-Bestandes dar: Sie zeigen das große Bedürfnis nach Austausch und formulieren wichtige Zeitdiagnosen zu Geschichte und Gegenwart von Frauenräumen, zur Solidarität unter Frauen wie auch zu den Folgen einer zunehmenden Professionalisierung des Feminismus. Gebannt lauschten die ZuhörerInnen den ‚Bewegungsbiografien‘ einzelner Protagonistinnen.
Fazit: Bewegung macht Geschichte und schreibt sie!
Ausstellung, Buch und Begleitveranstaltungen waren das bislang größte feministische Kooperationsprojekt in der Tübinger Geschichte. Mit seinen spezifischen Zugängen, kreativen Ideen und Ergebnissen bereicherte es das kulturelle Leben und das Verständnis von (Frauen)Geschichtlichkeit vor Ort. Aus der Rückschau wird es zum „lokalen Meilenstein, der die Neue Frauenbewegung als dynamischen Faktor im gesellschaftspolitischen Wandel der Bundesrepublik Deutschland historisch anerkennt und einbezieht“13. Dabei überzeugt der Ansatz, die Neue Frauenbewegung in ihrer „Vielfalt und Vielstimmigkeit“ selbstkritisch zu beleuchten und Differenzen unter den Beteiligten Raum zu geben.14
Inzwischen ist die Geschichte der Frauenbewegung umfangreicher und ausdifferenzierter und längst geht es um verschiedene Frauenbewegungen in der Mehrzahl15. Die historische und gesellschaftliche Bedeutung der ersten Bewegungsjahre gilt es jedoch auch über den „großen historischen Augenblick“16 hinaus zu würdigen. Frauen wirken so ihrer eigenen Geschichtslosigkeit entgegen und sichern das Wissen von Wegbereiterinnen und Vorkämpferinnen für folgende Generationen.
Fußnoten
- 1 Einleitung zum Ausstellungskatalog „In Bewegung“. Kulturamt der Universitätsstadt Tübingen (Hg.): In Bewegung. 30 Jahre neue Frauenbewegung in Tübingen, Tübingen 1999, S. 11.
- 2 Maurer, Susanne: „Meine Frauenbewegung, Deine Frauenbewegung…“ – Die Neue Frauenbewegung als Forschungsgegenstand, in: Kees, Margarethe / Keinhorst, Annette: Kein Ort nirgends? Dokumentation einer Fachtagung zur regionalhistorischen Frauenforschung 29.-30. Oktober 1998. Stiftung Demokratie Saarland (Hg.), Saarbrücken 1999, S. 36–45.
- 3 Kulturamt der Universitätsstadt Tübingen (Hg.): In Bewegung, S. 12.
- 4 Am Forschungs- und Ausstellungsprojekt beteiligt waren Roswitha Degenhard, Hilde Maurer, Susanne Maurer, Christiane Pyka, Angela Schenkluhn und Irmgard Zeeden.
- 5 Kulturamt der Universitätsstadt Tübingen (Hg.): In Bewegung, S. 12.
- 6 Vgl. dazu Maurer: „Meine Frauenbewegung, Deine Frauenbewegung…“, S. 37.
- 7 Wesely, Kathin: Am Anfang war die Latzhose, Schwäbisches Tagblatt, 9.10.1999.
- 8 Vgl. dazu den BAF-Archivbestand AUS.
- 9 Kulturamt der Universitätsstadt Tübingen (Hg.): In Bewegung. 30 Jahre neue Frauenbewegung in Tübingen, Tübingen 1999.
- 10 Vgl. Maurer, Susanne: Zwischen Opposition, Separatismus und „Mainstreaming“ oder: Was bedeutet eigentlich Frauenbewegung?, in: Kulturamt der Universitätsstadt Tübingen (Hg.): In Bewegung, S. 17–21.
- 11 Die Chronologie ist nachlesbar auf der Website www.baf-tuebingen.de.
- 12 Kulturamt der Universitätsstadt Tübingen (Hg.): In Bewegung, S. 13.
- 13 Ingendahl, Gesa / Dörr, Bea: Vorwort zum Findbuch C 5 BAF-Ausstellung „In Bewegung. 30 Jahre Frauenbewegung in Tübingen“ (März 2006), S. V.
- 14 Vgl. Maurer: „Meine Frauenbewegung, Deine Frauenbewegung…“, S. 39.
- 15 Vgl. dazu Lenz, Ilse (Hg.): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008.
- 16 Kulturamt der Universitätsstadt Tübingen (Hg.): In Bewegung, S. 11.