OWEN - Auf der Suche nach dem Leben und der Identität von Frauen im Sozialismus
Na alles optimistisch sehen … auf alle Fälle immer versuchen, aus jedem das Beste zu machen. Nicht hängen lassen, verantwortungsbewußt auch sein. … Versuchen, aus dem Wissen …, was zu machen. … Warmherzig bleiben. Humanistisch denken.
So beschrieb eine 1931 geborene Biografin ihre Lebensweisheit, die sie an ihre Enkelkinder weitergeben wollte. Sie gehörte zu den DDR-Frauen, die im Rahmen des internationalen Projekts ‚Frauengedächtnis. Auf der Suche nach dem Leben und der Identität von Frauen im Sozialismus‘ ihre Lebensgeschichte erzählten.
Internationales Projekt Women’s Memory
Die Idee der subjektiven Rekonstruktion von Lebens- und Zeitgeschichte aus der Perspektive von drei Frauengenerationen, die bis 1990 ihre längste Lebenszeit im Sozialismus verbracht hatten, wurde Mitte der 1990er-Jahre von der tschechischen Soziologin, Dissidentin und Gründerin des Prager Zentrums für Gender Studies, Jiřina Šiklová, entwickelt. Gleich nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Europa war das Thema „Frau im Sozialismus“ vor allem in Westeuropa und den USA ein beliebtes Forschungs- und Publikationsfeld. Dabei wurden soziokulturelle, historische oder generationsbedingte Besonderheiten in den einzelnen sozialistischen Staaten weitgehend vernachlässigt.
Viele Frauen hatten den Eindruck, dass die westlichen Deutungsmuster wenig mit ihren Wahrnehmungen und Erfahrungen zu tun hatten und sie sogar ihrer Geschichte enteigneten. Gleichzeitig provozierte dieses Unbehagen eigene Fragen nach dem Leben und den Einstellungen von Frauen, die den Sozialismus am ‚eigenen Leib‘ erfahren hatten.
Gewissermaßen als konstruktive Reaktion entstand der Gedanke, das Thema Frauenleben im Sozialismus und damit auch die Herausbildung eines emanzipatorischen Bürgerinnenbewusstseins in die ‚eigenen Hände‘ zu nehmen.
Die Projektidee war von Anfang an international gedacht. Gender Studies Prag suchte daher über Zentren, Netzwerke, Organisationen und informelle Kontakte in den früheren sozialistischen Ländern nach Kooperationspartnerinnen. OWEN e.V., das Ost-West-Europäische FrauenNetzwerk, wurde 1997 für das Gebiet der DDR angefragt. Wir waren sofort begeistert. Zum einen erlebten wir während der ersten Jahre nach dem Beitritt der DDR zur BRD in ost-west-deutschen wie in ost-west-europäischen Begegnungen häufig gegenseitiges Un- und Missverständnis. Zum anderen schien nahezu vergessen, dass die DDR bis zum 3. Oktober 1990 Teil der sozialistischen Staaten gewesen war und es auch für ostdeutsche Frauen galt, ihre Geschichte im Sozialismus zu entdecken.
Pavla Frýdlová von Gender Studies Prag koordinierte seit 1998 das internationale Projekt. In Prag wurde das regionale Interviewmaterial archiviert, das geplante internationale Archiv Women’s Memory/Frauengedächtnis1 leider aus Geldmangel nicht realisiert. Die regionalen Teams aus Polen, Serbien, Kroatien, Montenegro, der Slowakei und der Ukraine sollten autonom arbeiten, auch in Bezug auf die weitere Nutzung der Materialien und die Akquirierung von Projektmitteln. Das ostdeutsche Projekt wurde 1999/2001 über das Förderprogramm Frauenforschung des Berliner Senats gefördert.
Methodik
Beim ersten internationalen Workshop 1999 in Kroatien vereinbarten wir ein Rahmenkonzept, orientiert an Prinzipien der Oral History und qualitativer Biografieforschung einschließlich methodologischer Prinzipien für die Interviewführung. Das Projekt sollte international vergleichbar sein, wissenschaftlichen Ansprüchen genügen und als zivilgesellschaftliches Vorhaben politische Bewusstseinsbildung ermöglichen.
Der feministische Ansatz des Konzepts begreift Frauen als aktiv handelnde Subjekte sowohl ihrer Lebensgeschichte als auch ihrer biografischen Erinnerungen. Im Zentrum standen folglich die befragten Frauen selbst. Uns interessierte, wie die Frauen gelebt und ihr Leben unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen gestaltet, welche Handlungsstrategien, welche Einstellungen und Wertesysteme sie hatten, wie sie politische Entwicklungen wahrgenommen und erlebt hatten. Sie selbst sollten – soweit dies in einer Interviewsituation möglich ist – entscheiden, was und in welcher Weise sie über ihr Leben erzählen beziehungsweise nicht erzählen wollten. Über die Gestalt der lebensgeschichtlichen Erzählungen und die in Biogrammen festgehaltenen biografischen Daten sollten Zusammenhänge zwischen ‚objektiven‘ zeithistorischen Ereignissen und Entwicklungen, den Lebensläufen und subjektiven biografischen Rekonstruktionen erschlossen werden.
Alle Gespräche begannen mit einer offenen Eingangsfrage, die die Interviewpartnerin anregen sollte, über ihr Leben zu erzählen. Anschließend konnte die Interviewerin nachfragen, direkt zum Erzählten oder für ein besseres Verständnis.
Im Nachfrageteil wurden Erinnerungen an bestimmte historische Ereignisse oder gesellschaftspolitische Zusammenhänge erfragt oder Themen vertieft. Im OWEN-Projekt fragten wir meist gegen Ende des Interviews nach einer Lebensweisheit für die Enkelkinder. Biografische Daten für das Biogramm wurden erst nach Abschluss des Interviews erfasst.
Zu jedem Interview gibt es ein Gesprächsprotokoll mit den persönlichen Eindrücken der Interviewerin von der Gesprächssituation, der Atmosphäre und dem Gesprächsverlauf.
Um die Interviews zeithistorisch einordnen zu können, wurden teilweise Begleitmaterialien zusammengestellt, unter anderem zu soziokulturellen und politischen Ereignissen, relevanten Gesetzgebungen, Frauenleitbildern (in Massenmedien, Filmen, Belletristik), mit Statistiken und Fotos.
Projekt Frauengedächtnis
Im ‚ostdeutschen‘ Projekt Frauengedächtnis befragten wir 130 DDR-Frauen. Die Gespräche wurden von 1998 bis 2003 von den Journalistinnen Gislinde Schwarz und Rosemarie Mieder meist in den Wohnungen der Frauen geführt.
Fast alle Gesprächspartnerinnen fanden wir über informelle Kontakte und ‚Mund-zu-Mund-Propaganda‘, über Vereine und Verbände, wenige über Anzeigen in der Tagespresse. Die auf Tonträgern aufgezeichneten Gespräche dauerten von einer bis zu acht Stunden; manche wurden an zwei Tagen geführt. Viele Frauen hatten sich auf die Gespräche vorbereitet, Notizen gemacht, Fotoalben oder andere Erinnerungsstücke, Kaffee und Gebäck bereitgestellt. Nahezu alle erzählten zum ersten Mal zusammenhängend ihre Lebensgeschichte.
Alle Interviews wurden anonymisiert und größtenteils transkribiert. OWEN entschied sich für Gesprächsprotokolle und Biogramme, experimentierte mit verschiedenen Analyseverfahren (Resümee, Sequenzierung, hermeneutische Textanalyse etc.) und fertigte insgesamt 20 Globalanalysen von ausgewählten Interviews an.
Das Sample der Befragten umfasste die Generationen beziehungsweise Geburtsjahrgänge von 1920 bis1960. Wir interviewten Frauen in Klein- und Großstädten und dörflichen Gemeinden aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Gemeinsam war ihnen, dass sie zum Interviewzeitpunkt die längste Zeit ihres Lebens in der DDR gelebt hatten.
ABER sie erlebten die Anfänge und Entwicklungen der Frauenpolitik in der DDR in unterschiedlichen Lebensphasen und konnten die Bildungs- und Förderprogramme oder sozialpolitischen Maßnahmen gar nicht, teilweise oder voll nutzen. Von den Umbrüchen 1989/1990 waren sie aufgrund ihres Alters unterschiedlich betroffen.
Es gab besonders in der ältesten Generation viele Frauen, die nur die Volksschule besucht hatten, bei den Jüngeren dagegen weit mehr Frauen mit Abitur, Fachschul- und Hochschulabschlüssen. Unter den Biografinnen waren verheiratete, geschiedene, verwitwete, in Partnerschaften und alleinlebende Frauen, Frauen mit Kindern und kinderlose Frauen, konfessionell gebundene Frauen und Atheistinnen, Frauen in mittleren bis höheren staatlichen Funktionen und Frauen, die kritisch bis ablehnend gegenüber der DDR waren.
Nahezu alle Frauen waren in der DDR berufstätig gewesen, die älteste Generation noch häufig in ungelernten oder angelernten Berufen und mit unterbrochener Berufstätigkeit bedingt durch Kinder und Familie. Fast alle Frauen waren Mütter, wobei wiederum in der älteren Generation nicht alle Kinder auch Wunschkinder waren.
Von den in den 1920er- und 30er-Jahren geborenen Frauen kam eine relativ große Zahl aus Gebieten, die nach dem Kriegsende 1945 nicht mehr zu Deutschland gehörten, aus Pommern, Schlesien, Ostpreußen, dem Sudetenland oder Mähren.
Anders als die meisten an dem internationalen Projekt Frauengedächtnis beteiligten Teams hat OWEN e.V. keine Gespräche in Publikationen veröffentlicht.
Unsere Tätigkeiten konzentrierten sich auf politische Bildungsarbeit und die Förderung von grenzüberschreitenden Dialogen. Für uns stand der Prozess des Lernens über unsere unterschiedlichen Wahrnehmungen und Interpretationen der erzählten Lebensgeschichten und Identitätskonstruktionen von verschiedenen Frauengenerationen im Sozialismus im Vordergrund. Dafür nutzten wir ausgewählte Interviews als Bildungsmaterial für die Gestaltung von Biografie- und Geschichtswerkstätten. Dabei erfuhren wir immer wieder, wie wertvoll und lehrreich gerade die Auseinandersetzung mit den oft kontroversen und Widerspruch provozierenden Erinnerungen für die kritische Reflexion nicht nur von eigenen Vorurteilen und Stereotypen ist, sondern auch für die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Frauenleben in der heutigen Gesellschaft.
Für mich, die ich 40 Jahre lang in der DDR gelebt habe und glaubte, das Leben von Frauen im Sozialismus gut zu kennen, war und ist das Projekt Frauengedächtnis der beste Geschichtsunterricht, den ich erlebt habe. Ich habe gelernt, wie wichtig sichere Räume sind, in denen das subjektive Erinnern und der kritische Dialog über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede unserer eben nicht vergangenen Vergangenheiten möglich ist – wichtig für unser Selbstverständnis, unser gegenseitiges Verständnis, unsere Sicht auf die Gegenwart und Zukunft.
Fußnoten
Ausgewählte Publikationen
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Beyer-Grasse, Marina: Frauengedächtnis - Leben und Identität von Frauen in der DDR. Biographische Erinnerungen und Zeitdokumente 1930-1990. Projektbericht 2000-2001 für das Förderprogramm Frauenforschung des Senats von Berlin, Berlin 2001, S. 25.
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Beyer, Marina: Ost-West-Europäisches FrauenNetzwerk. Ein Projekt zwischen Vision und Wirklichkeit, in: Bulletin/ZiF. Berlin 4. Jg., 1993, H. 7, S. 61–70.
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Beyer, Marina: Tagungsbericht über die internationale Konferenz „Frauengedächtnis“ - Zukunft braucht Erinnerung. Frauenleben der Aufbaugeneration in Mittel- und Osteuropa nach dem 2. Weltkrieg, in: Berliner Journal für Soziologie 11. Jg., 2001, H. 1, S. 109–113.
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Frýdlová, Pavla: Women’s Memory. Searching for Identity under Socialism, in: Jusova, Iveta / Šiklová, Jiřina (Hg.): Czech Feminisms. Perspectives on Gender in East Central Europe, Bloomington/Indianapolis 2016, S. 95–110.
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Frýdlová, Pavla: Frauengedächtnis. Ein Projekt der Prager Gender Studies Stiftung, in: Berliner Osteuropa Info 7. Jg., 1999, H. 12, S. 43.
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Frýdlová, Pavla: Frauengedächtnis, Prag 1997, S. 44.
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Ost-West-Europäisches FrauenNetzwerk OWEN (Hg.): Vorstellung des Projektes. Dokumentation des ersten Workshops 29.11.-1.12.1991 in Berlin, Berlin 1992, S. 192.
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Ost-West-Europäisches FrauenNetzwerk (OWEN) (Hg.): Frauen gestalten Zukunft. Wahrnehmen, erkennen, handeln, vernetzen, Berlin [2002], S. 48.