Das Gefängnis als weiblicher Berufsort im Deutschen Kaiserreich
Seit Jahrhunderten war es in deutschen Strafanstalten und Gefängnissen üblich, dass Männer und Frauen ihre Haftzeit ohne räumliche Trennung verbüßen mussten. Mit der sogenannten Gefängnisreform zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte sich mehr und mehr die Forderung nach einem geschlechtergetrennten Strafvollzug durch. Gleichzeitig kam die Frage nach der Anstellung weiblichen Personals als Aufseherinnen in den nunmehr eingerichteten Frauenabteilungen der Gefängnisse und den neu gegründeten externen Frauenstrafanstalten auf. Frauen waren zwar seit geraumer Zeit im Strafvollzug tätig, verrichteten dort allerdings als Aufseherinnen beziehungsweise Wärterinnen und Köchinnen ohne Ausbildung und Profession minder bezahlte Arbeiten. Die Stellen im gehobenen Anstaltsdienst indes waren einzig und allein Männern vorbehalten. Diese Berufsstrukturen und Zuständigkeitsbereiche versuchte die bürgerliche Frauenbewegung, die um 1900 zu einer starken sozialen Kraft im wilhelminischen Kaiserreich avancierte, zu ändern: Frauen sollten nunmehr die Möglichkeit bekommen, auf höheren Posten als Direktorin, Gefängnisbeamtin, Werkführerin oder Anstaltsärztin tätig zu werden.1
Praktische Maßnahmen
Durch Thekla Friedländer (1849–1934) gewann das Gefängniswesen in den Berufskämpfen der bürgerlichen Frauenbewegung eine zentrale Bedeutung. Bereits als 15-Jährige engagierte sie sich in der Sozialarbeit des Vaterländischen Frauenvereins und kam erstmals mit den sozialen Fragen des Strafvollzugs in Berührung, was dazu führte, dass sie in ihrer Heimatstadt Brieg (Schlesien) Reformvorschläge für die Straffälligenfürsorge machte. Einige Jahre später in Berlin wurde unter ihrer Leitung die Kommission zur Fürsorge für Gefangene und Strafentlassene ins Leben gerufen. Die Kommission war organisatorisch an den Bund deutscher Frauenvereine angeschlossen und unterhielt zudem eine weitreichende Zusammenarbeit mit anderen sozialen Institutionen und Verbänden. Die Frauenbewegung ging in der Umsetzung ihrer Pläne sehr überlegt vor und verknüpfte beide Aspekte miteinander.
Im Dezember 1899 richtete die Kommission eine Petition an die Landesdirektion in Preußen und forderte darin eine ausnahmslose Anstellung von weiblichen Bediensteten als Gefängnisbeamtinnen und Aufseherinnen in Frauenstrafanstalten. Als Kernargument wurde auf die sittliche Beeinflussung der Inhaftierten durch bürgerliche Frauen verwiesen: „Wir erbitten die Anstellung einer Oberin […], welche die besseren Elemente aussondert von den ganz verdorbenen.“2 Denn dies sei von großer und wichtiger „Bedeutung für […] die Sicherheit der bürgerlichen Gesellschaft“3. Dazu fanden im Sinne des gesellschaftlichen Gemeinwohls Gefängnisvisitationen durch die Kommission statt.
Die Besuche in den Strafanstalten folgten stets einem geplanten Vorgehen: Im Anschluss an einen Vortrag besuchte Friedländer das örtliche Gefängnis. Dort erbat sie sich Einsicht in die Gefangenenakten und nahm auch Kontakt zu den Inhaftierten auf.4 Dass ihr Zugang zu den Strafanstalten und Einblick in die Gefangenenakten gewährt wurde, ist vor dem Hintergrund mehrerer Aspekte erwähnenswert: Als Vorsitzende der Kommission betrat sie die Anstalt als Aktivistin der Frauenbewegung. Eine mögliche Erklärung für die Friedländer zugestandenen Sonderbefugnisse könnte auf ihr soziales und familiäres Netzwerk zurückzuführen sein. Wie aus dem sozialistischen Blatt Vorwärts hervorgeht, befanden sich unter den Personen, die Friedländers Arbeit unterstützten, Angehörige des amtierenden Reichskanzlers Bernhard von Bülow.5
Geistige Mütterlichkeit und Klassendistinktion im Gefängnis
Die Frauenrechtlerinnen bekräftigten die Notwendigkeit von Frauen im Strafvollzug mit der Betonung der ‚Geistigen Mütterlichkeit‘. Dieses Konzept wurde in der Frauenbewegung entwickelt und schrieb allen bürgerlichen Frauen ‚weibliche‘ Eigenschaften zu. Deshalb seien weibliche Bedienstete in Strafanstalten wegen ihres „Mütterlichkeitsempfindens“ für diese Arbeit besonders geeignet.6 So hätten sie „ein warmes Herz für die Unglücklichen“ und gleichsam die Fähigkeit, „erzieherisch“ sowie mit mütterlicher „Strenge [zu] wirken“, wie Friedländer postulierte.7 Überdies würden bürgerliche Gefängnisbeamtinnen aufgrund einer genuin weiblichen Feinfühligkeit besonders gut auf die weiblichen Inhaftierten einwirken, ihnen „in rechter Weise Rat und Hilfe“8 bieten und sie somit „wieder auf den rechten Weg“9 bringen.
Ein wichtiger Bestandteil der Resozialisierungsmaßnahmen war es, den Inhaftierten angeblich typisch weibliche Arbeiten und Kenntnisse, sprich Praktiken der Hauswirtschaft zu vermitteln. So sollten im Gefängnisdienst tätige Frauen befähigt sein, „die gefangenen Frauen in die verschiedenen Arbeitsgebiete […] einzuführen, z.B. Waschen, Feinplätten, Nähen, Stopfen, Wäschenähen an der Maschine, einfache Kleiderarbeit“10, wobei die Präferenz auf der „rationelle[n] Unterweisung in Wäsche und Feinplätten lag, da hier die Berufsaussichten nach der Haftentlassung „verhältnismäßig reichlich“11 seien.
Parallel mit der Vermittlung der praktischen Handarbeiten fand nach Ansicht der Frauenbewegung gleichsam eine sittliche Indoktrinierung der Gefangenen statt, um später ein konformes Mitglied der Gesellschaft werden zu können. So wurde der Aspekt der Sittlichkeit, der mit bürgerlichen Reinlichkeitsvorstellungen einherging, über die Materialität der Wäsche vermittelt. Folglich – so waren bürgerliche Frauenrechtlerinnen überzeugt – seien nur Frauen aus dem Bürgertum aufgrund ihrer Sozialisation in der Lage, die zumeist proletarischen Inhaftierten darin zu unterrichten, wie Kleidungsstücke sauber, rein und unversehrt gehalten werden.
Vor diesem Hintergrund plädierte die bürgerliche Frauenbewegung nicht nur dafür, die gehobenen Stellen der Gefängnisbeamtinnen zu schaffen, sondern ebenfalls die unteren Posten der Wärterinnen und Aufseherinnen durch Frauen aus dem Bürgertum zu besetzen. So hätten bürgerliche Wärterinnen aufgrund ihrer Bildung und Wertvorstellungen eine bessere Wirkung auf die Inhaftierten als jene, die den proletarischen Schichten entstammten. Demnach läge es auf der Hand, „daß gebildete Frauen für [die] sittliche und praktische Beeinflussung der weiblichen Gefangenen […] allein geeignet sind.“12 Die Vergangenheit hätte überdies gezeigt, dass Wärterinnen, die aus einem ähnlichen Sozialmilieu kamen wie die Inhaftierten, weder Autorität noch Vorbildfunktion besäßen.13
War es den Frauenrechtlerinnen in erster Linie wichtig, neue Berufsfelder für bürgerliche Frauen zu schaffen, verbanden sie dieses Vorhaben indes gezielt mit Fürsorgemaßnahmen, die sich an die weiblichen Inhaftierten richteten. So forderte Lida Gustava Heymann (1868–1943) im Jahr 1902 in einer Petition an die Hamburger Gefängnisdeputation die Anstellung eines weiblichen Anstaltsarztes für das Frauengefängnis Fuhlsbüttel, um den inhaftierten Frauen die schambehaftete Untersuchung durch männliche Anstaltsärzte zu ersparen.14 Darüber hinaus schloss sich die Kommission ab 1903 mit mehreren Fürsorgeeinrichtungen zusammen. So wurde zum Beispiel ein Gesuch an die Direktion der Berliner Strafanstalt Barnim gerichtet, in dem eine Mitteilungspflicht über den gesundheitlichen Zustand der Gefangenen an die Fürsorgestellen verlangt wurde.15
Resonanzen
Die Frauenbewegung hatte maßgeblichen Anteil daran, dass in den großen Strafanstalten des Kaiserreichs ein einjähriger Ausbildungsgang für die weibliche Tätigkeit im Strafvollzug eingerichtet wurde. Auch an der Entwicklung der Gehälter lässt sich die Professionalisierung der Berufstätigkeit von Frauen im Strafvollzug nachweisen. Lag der jährliche Verdienst von Aufseherinnen beziehungsweise Wärterinnen um 1900 je nach Bundesstaat zwischen 700 und 900 Mark, stieg er innerhalb von zehn Jahren auf durchschnittlich 1.300 Mark an.16 Am höchsten entlohnt waren die neugeschaffenen Stellen der Gefängnisbeamtin, deren Jahresgehalt bei 2.700 Mark angesetzt war.17
Jedoch entwickelte sich weder die Tätigkeit als Wärterin noch als Gefängnisbeamtin zu einem nachgefragten Berufsfeld. Vielerlei Gründe spielten hierfür eine Rolle. Zum einen war der maximale Pensionsanspruch auf 1.000 Mark gedeckelt und wurde erst nach 35 Dienstjahren gewährt – eine Dauer, die aufgrund der kräftezerrenden körperlichen und mentalen Arbeit eher die Ausnahme als die Regel darstellte. Außerdem war der Gefängnisdienst mit einer Vielzahl von restriktiven Vorschriften für Frauen verbunden. So wurde vorausgesetzt, dass diese ledig und kinderlos waren. Zudem bestand die Pflicht, eine Wohnung auf dem Anstaltsgelände zu beziehen, was eine enorme Einschränkung der persönlichen Freiheit bedeutete, denn es existierten selbst für die dienstfreie Zeit strikte Vorgaben, wann das Anstaltsgelände verlassen werden durfte.
Hinzu kam, dass die Frauenbewegung in ihrem generellen Kampf um die Etablierung neuer Berufsfelder schon recht weit fortgeschritten war, als die Strafanstalt in den Fokus der Frauenbewegung rückte. Das bedeutet, dass für bürgerliche Frauen um 1900 durchaus berufliche Wahlmöglichkeiten bestanden und dass Berufe mit weniger restriktiven Arbeitsbedingungen und besserem Ansehen existierten. Die Arbeit in der Anstalt stellte für die Mehrzahl der bürgerlichen Frauen folglich kein attraktives Berufsfeld dar.
- Bartels, Mette
- Digitales Deutsches Frauenarchiv
- CC BY-SA 4.0
Fußnoten
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1
Bartels, Mette: Garten, Gefängnis, Fotoatelier. Emanzipationsstrategien der bürgerlichen Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 2024.
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2
Friedländer, Thekla: Eingabe des Vereins Frauenwohl-Berlin an die Landesdirektoren in Preußen, betr. Anstellung von weiblichen Lehr- und Aufsichtsbeamtinnen für weibliche Gefangene, in: Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung. Beilage der Frauenbewegung, 1900, H. 1, S. 1‒3, hier S. 2.
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3
Ebenda, S. 1.
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4
Friedländer, Thekla: Bericht der Kommission zur Fürsorge für weibliche Gefangene und Strafentlassene, S. 20‒22, hier S. 21, Landesarchiv Berlin (LAB), A Rep. 060-53/Nr. 7: Verein Frauenwohl, Jahresberichte 1909.
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5
Vgl. o. A.: Erster deutscher Jugendgerichts-Tag, in: Vorwärts. Tagesausgabe, 18. März 1909, S. 8.
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6
Vgl. Schröder, Iris: Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890–1914, Frankfurt am Main 2001; Sachße, Christoph: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929, Opladen 1994.
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7
Friedländer, Thekla: Weibliche Beamte im Gefängniswesen. Ein Beruf für gebildete Frauen, in: Die Frauenbewegung, 7. Jg., 1901, H. 13, S. 97‒99, hier S. 98‒99.
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8
Friedländer: Eingabe, S. 2.
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9
Kaldewey, Paula: die Frau im Anstaltsdienst an Gefängnissen, in: Die Frau, 6. Jg., 1899, H. 3, S. 182‒183, hier S. 182.
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10
Friedländer: Eingabe, S. 2.
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11
Friedländer: Weibliche Beamte, S. 99.
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12
Ebenda, S. 98.
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13
Vgl. ebenda.
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14
Winckler, Hedwig / Heymann, Lida Gustava: Eingabe des Vereins Frauenwohl, Hamburg, an die Gefängnisdeputation, Anstellung einer Oberin an der Hamburgischen Strafanstalt Fuhlsbüttel betr., in: Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung. Beilage der Frauenbewegung, 1902, H. 24, S. 1.
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15
Bartels, Mette: Garten, Gefängnis, Fotoatelier. Emanzipationsstrategien der bürgerlichen Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 2024, S. 316.
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16
Zum Vergleich verdienten bspw. in Berlin, der Stadt mit den höchsten Lohnsätzen, Dienstmädchen um 1900 bei freier Kost und Logis zwischen 150 und 200 Mark im Jahr. Die Löhne von Fabrikarbeiterinnen waren zwar mit durchschnittlich 500 bis 600 Mark deutlich höher, jedoch musste mit diesem Verdient der gesamte Lebensunterhalt bestritten werden; vgl. Frevert, Ute: Frauen-Geschichte zwischen bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 84‒85.
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17
Zu den Verdienstmodalitäten im Anstaltsdienst siehe Ichenhäuser, Eliza: Das Gefängniswesen und die Frauen, in: Schwäbische Frauenzeitung, 1898, H. 15, S. 3; Jacobi, Hildegard: Weitere Erwerbsgebiete für Frauen im Staatsdienste, in: Die Frau, 8. Jg., 1901, H. 2, S. 115‒116, hier S. 116.
Ausgewählte Publikationen
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Bartels, Mette: Garten, Gefängnis, Fotoatelier. Emanzipationsstrategien der bürgerlichen Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 2024.
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Frevert, Ute: Frauen-Geschichte zwischen bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a. M. 1986.
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Friedländer, Thekla: Weibliche Beamte im Gefängniswesen. Ein Beruf für gebildete Frauen, in: Die Frauenbewegung, 7. Jg., 1901, H. 13, S. 97‒99, hier S. 98‒99.
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Ichenhäuser, Eliza: Das Gefängniswesen und die Frauen, in: Schwäbische Frauenzeitung, 1898, H. 15, S. 3.
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Jacobi, Hildegard: Weitere Erwerbsgebiete für Frauen im Staatsdienste, in: Die Frau, 8. Jg., 1901, H. 2, S. 115‒116, hier S. 116.
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Kaldewey, Paula: die Frau im Anstaltsdienst an Gefängnissen, in: Die Frau, 6. Jg., 1899, H. 3, S. 182‒183, hier S. 182
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Sachße, Christoph: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929, Opladen 1994.
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Schröder, Iris: Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890–1914, Frankfurt a. M. 2001.