Bildende Künstlerinnen im Deutschen Kaiserreich
Zu den wenigen Künstlerinnen, die innerhalb des männerdominierten Kunstmilieus des Deutschen Kaiserreichs erfolgreich waren, gehörte Käthe Kollwitz (1867–1945). Im Mai 1911 schrieb sie in einem Brief an ihren Sohn Hans über einen Zwischenfall, den sie während ihres Besuches in der Berliner Nationalgalerie miterlebt hatte:
„Während ich so stand und derartiges mir überlegte, wurde ich auf ein Gespräch aufmerksam, das neben mir ein Museumsdiener mit einer kopierenden Malerin führte. Auf einmal wurde mir klar, daß sie von mir sprachen und zwar rühmte der Museumsdiener mich über die Maßen. Aber er hatte keinen Charakter, denn als die Malerin ihm opponierte, wurde er immer kleinlauter und zuguterletzt hat er gesagt: ,Ja, natürlich, das ist auch so, die Frau gehört ins Haus.‛1
Diese Anekdote veranschaulicht die gesellschaftliche Rolle der Künstlerinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Am Beispiel der ,kopierenden Malerin‛ lässt sich erkennen, dass für Frauen eine künstlerische Tätigkeit nicht zwangsläufig im Widerspruch dazu stand, den privaten Bereich der Familie und des Haushalts als ihren zentralen Handlungsraum zu sehen. Es existierten vielmehr verschiedene Möglichkeiten für eine Frau, das künstlerische Schaffen in ihre Lebensgestaltung zu integrieren und auch mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter zu kombinieren. Die bürgerliche Mädchenerziehung schloss den Unterricht im Malen und Zeichnen ein. Dilettantisches, rein dem Zeitvertreib dienendes Kunstschaffen, das häufig nicht auf berufsqualifizierenden Ausbildung fußte, war in bürgerlichen Kreisen des Deutschen Kaiserreichs weit verbreitet.
Es diente als Grundlage für öffentlichen Spott in Satiren und Karikaturen, wenn Frauen sich der Kunst als professionelle Malerinnen widmeten. Als ,Malweiber‛ tituliert wurden auch solche Künstlerinnen, die trotz der gesellschaftlichen Widerstände eine künstlerische Ausbildung abgeschlossen hatten und mit ihrem Werk an die Öffentlichkeit traten. Zu solchen Künstlerinnen gehörten beispielsweise Paula Modersohn-Becker (1876–1907), Dora Hitz (1856–1924), Sabine Lepsius (1864–1942), Ida Gerhardi (1862–1927), Elena Luksch-Makowskaja (1878–1967) und Julie de Boor (1884–1932). Das Geschlecht war die zentrale Beurteilungskategorie bei der Auseinandersetzung mit der Person und dem Werk von Künstlerinnen um 1900. Geniale schöpferische Werke und damit ,wahre Kunst‛ könnten Frauen nicht vollbringen, so die verbreitete Auffassung.
Der Künstlermythos
Den Hintergrund dieser Beurteilung bildete der Künstlermythos – ein Konzept, das auf das männliche Individuum zugeschnitten war. Dem Künstler wurden die Gabe und die Aufgabe zugesprochen, jenseits der fehlerbehafteten Wirklichkeit ein Ideal, ein geniales Werk zu schaffen. Das Geniale dieser Schöpfung war dabei nicht nur an das Werk, sondern auch zunehmend an die Person des Künstlers geknüpft. Kunstakademien, Kunstvereine, Kunstkritiker und Kunsthistoriker boten dem Künstler den Rahmen für die Vermittlung seiner Werke und für seine Inszenierung vor dem Publikum. Sie reproduzierten den Künstlermythos, um die elitäre Position des männlichen Künstlers innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu festigen und somit ihre eigene Existenz zu legitimierten.
Nach dem zeitgenössischen Künstlerbegriff konnten nur Männer geniale schöpferische Leistung vollbringen und damit Genies sein. Männlich dominierte Kunstvereine und Kunstakademien stützten dieses Narrativ und instrumentalisierten es sogar, um die Ansprüche von Frauen auf ein Kunststudium abzuwehren. Frauen wurde die Fähigkeit zum genialen Schaffen abgesprochen. Ihre künstlerischen Bestrebungen hatten in öffentlichen Auseinandersetzungen entweder gar keinen Raum oder wurden mit dem Hinweis auf vermeintlich geschlechtsspezifische Fähigkeiten wie Passivität oder mangelnde Durchdringung der Umwelt marginalisiert. Im öffentlichen Diskurs stand die Künstlerin als ein vorgeblich minderwertiges Subjekt, das nur bedingt an der künstlerischen Gemeinschaft partizipieren sollte.2
Der Künstlerinnenmythos
Die Frauen setzten sich auf unterschiedliche Weise ins Verhältnis zu der Norm des männlichen genialen Künstlers. Die Malerin Marija Baškirceva (1858–1884) zum Beispiel adaptierte für sich den ausschließlich männlich besetzten Mythos des Genies, ohne sich auf die geschlechtsspezifische Implikation zu berufen. Unbekümmert, wenn auch nicht blind gegenüber den im zeitgenössischen Kunstbetrieb herrschenden männlich dominierten Strukturen, bezog sie Konzepte wie Autorschaft, Autorität, Authentizität, Originalität und Innovation, Einflussnahme und Exzentrik auf ihre Kunst, als seien diese geschlechtsneutral handhabbar.3
Andere Künstlerinnen ersetzten den Begriff des Genies durch den des Talents oder der Begabung. Trotz des häufig synonymen Gebrauchs wurde Genie als Verkörperung des Höchsten über das Talent gestellt: „Die allgemeinen Merkmale des G[enie]s, wodurch es sich besonders vom Talent […] unterscheidet, [ist das] Ursprüngliche, eigenthüml. Schöpferische seines Wirkens und Schaffens.4 Die Künstlerinnen setzten die scheinbare Bedeutungsgleichheit beider Begriffe gezielt ein, um die strikte Bindung des Geniebegriffs an das männliche Geschlecht und damit die Frage nach der Befähigung zur bildenden Kunst zu umgehen. Die Künstlerin und Frauenrechtlerin Rosa Mayreder (1858–1938) spitzte diesen Ansatz zu und beanspruchte explizit eine Geschlechtsneutralität der Kunst: „Meiner Meinung nach sieht der Begabte anders als der Unbegabte – der Geschlechtsunterschied hat dabei nichts zu bedeuten.5
Andere gingen von der Existenz eines weiblichen Genies aus, das gleichwertig zum männlichen Genie sei. „Ich will kein Künstler sein, ich bin eine Künstlerin, und mein höchster Stolz ist, dass meine Kunst weiblich sei6, schrieb die Künstlerin Vally Wygodzinski (1873–1905) und sah sich durch diese Aussage außerhalb der Konkurrenz zu ihren männlichen Kollegen.7
Die Vorstellung, dass die Kunst verschiedener Geschlechter ihre spezifischen Eigenheiten habe, transportiert der Künstlerinnenmythos. Dieser entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Gegenmodell zum Künstlermythos. Die zeitgenössische Debatte um die Rolle der Frau in der Gesellschaft förderte die Auseinandersetzung mit diesem Konzept. Nicht selten griffen Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung auf dessen Argumentationsstränge zurück.8 Orientiert an den Ideen des Philosophen Georg Simmel und anderen fußte der Künstlerinnenmythos auf der Vorstellung des gleichwertigen kulturellen Beitrags der Frau zur gesellschaftlichen Entwicklung. Kerngedanke dieses Konzeptes war die Mutterschaft als Schöpfungsquelle für künstlerische Leistung.9
Künstlerinnennetzwerke
Ihre Überzeugungen und Bestrebungen vertraten die Künstlerinnen mithilfe von beruflichen Netzwerken: den Künstlerinnenvereinen, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Großstädten des Deutschen Kaiserreichs bildeten. Der erste derartige Berufsverband, der Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin, gründete sich 1867. Ihm folgten der Künstlerinnenverein München (1882), der Bund deutscher und österreichischer Künstlerinnenvereine (1908) und der Frauenkunstverband (1913). Gemeinsam war diesen Institutionen der Einsatz für die Anerkennung des weiblichen Kunstschaffens in der Öffentlichkeit und damit einhergehend die Verbesserung der Ausbildungs- und der Ausstellungssituation der Künstlerinnen. Akademische Kunstausbildung, Künstlervereine und Ausstellungswesen der etablierten Galeristen standen den Frauen gar nicht oder nur in Ausnahmefällen offen. Daher schufen Künstlerinnen eigene Netzwerke innerhalb des Kunstbetriebes:
Künstlerinnenschulen, Künstlerinnenausstellungen und Künstlerinnenvereinigungen.
Kunstakademien
Als die Verfassung der Weimarer Republik die Gleichstellung der Geschlechter festlegte, öffneten sich die Kunstakademien auch den Studentinnen10 Doch die Frauen wurden nur rein rechtlich gleichgestellt, eine Gleichstellung in sozialer Hinsicht fand innerhalb des Kunstbetriebs nicht statt. Der Umgang mit Frauen erfolgte dort zunächst anhand der überlieferten Werte. So wurden in der Reforminstitution des Bauhauses die Frauen vornehmlich zu den kunstgewerblich orientierten Klassen zugelassen, im Bereich der bildenden Kunst waren sie unterrepräsentiert.11
Ein weiteres Beispiel für die Benachteiligung von Künstlerinnen gegenüber ihren männlichen Kollegen war die Personalpolitik der Preußischen Akademie der Künste. Im Jahr 1919 ernannte die Akademie Käthe Kollwitz zur Professorin, sie blieb bis zur Aufnahme von Renée Sintenis (1888–1965) im Jahr 1931 allerdings die einzige Frau in der Kunstsektion. Dennoch stand die Aufnahme von Kollwitz für einen Bruch mit der systematischen Ausgrenzung von Frauen aus dem öffentlichen Kunstbetrieb, sie setzte „ein wichtiges gesellschaftspolitisches Signal in Richtung einer veränderten Akademiekultur in der jungen Republik.“12
Im Kaiserreich waren die Zulassung von Frauen zum Kunststudium und grundsätzlich die Sicherstellung einer fundierten Kunstausbildung die zentralen Programmpunkte der Künstlerinnenorganisationen gewesen. Mit der Öffnung der Kunstakademien für Frauen in der Weimarer Republik hatten sie ihre zentralen Ziele erreicht und es änderte sich ihr Selbstverständnis. Das führte zu einer Neuorientierung und Neuformierung dieser Institutionen und ab 1926 zu einer Vernetzung in der von der Künstlerin Ida Dehmel gegründeten Gedok (Gemeinschaft Deutscher und Österreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen).
Gleichwertig, nicht gleichartig
Auf der Ebene der öffentlichen Beurteilung der Kunst von Frauen rückten Mitte der 1920er-Jahre die Begriffe Weiblichkeit und Mütterlichkeit in den Vordergrund. Die Künstlerinnen Käthe Kollwitz, deren Sohn im Ersten Weltkrieg ums Leben gekommen war, und Paula Modersohn-Becker, die wenige Tage nach der Geburt ihrer Tochter starb, wurden zu Symbolen des Künstlerinnenmythos. Zahlreiche Ausstellungen griffen das bereits zur Jahrhundertwende aufgekommene Thema des weiblichen Kulturbeitrags durch die ,weibliche Kunst‛ auf. Künstlerinnen und InitiatorInnen von Ausstellungen inszenierten die Besonderheit der Kunst von Frauen, die gleichwertig und dabei nicht gleichartig an der Seite der Kunst ihrer männlichen Kollegen stände. Wie auch um 1900 stellte dieses Vorgehen eine Strategie dar, sich innerhalb des weiterhin männlich dominierten Kunstbetriebes zu behaupten.
Fußnoten
- 1 “Käthe-Kollwitz-Archiv, Akademie der Künste Berlin, Nr. 18, 24b–c, Brief von Käthe Kollwitz an Hans Kollwitz v. 20. Mai 1911.
- 2 Vgl. Berger, Renate: „Aufstand gegen die sekundäre Welt“. Die Biografik zwischen fact und fiction, in: Fastert, Sabine et. al.: Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 293–301.
- 3 Vgl. Raev, Ada: Russische Künstlerinnen der Moderne 1870–1930. Historische Studien, Kunstkonzepte, Weiblichkeitsentwürfe, München 2002, S. 120; vgl. Herrmann, Anja: Notre-Dame der Schlafwagen. Die Maskeraden der Marie Bashkirtseff, in: Berger, Renate / Herr, Anja (Hg.): Paris, Paris! Paula Modersohn-Becker und die Künstlerinnen um 1900, Stuttgart 2009, S. 39–58.
- 4 “Genie, in: Meyer's Conversations-Lexion für die gebildeten Stände, Hildburghausen 1849, Band 12, S. 399.
- 5 “Mayreder, Rosa: Wie sieht die Frau, in: Deutsche Kunst und Dekoration. Illustrierte Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungs-Kunst und künstlerische Frauenarbeiten, Bd. 66, 1930, S. 294.
- 6 “Wygodzinski, Vally: Briefe und Aufzeichnungen. Als Handschrift für ihre Freunde gedruckt, Leipzig 1908, S. 51, zitiert nach: Heitmann, Margret / Kaufhold, Barbara: „… mein höchster Stolz ist, dass meine Kunst weiblich sei“. Vally Cohn und ihre geretteten Briefe, in: Kalonymos, Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut, 5. Jg., 2002, H. 4, S. 5–9, hier S. 8.
- 7 Vgl. Biermann, Ingrid: Von Differenz zu Gleichheit: Frauenbewegung und Inklusionspolitiken im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009.
- 8 Schaser, Angelika: Wahre Kunst und künstlerisches Frauenschaffen: Zur Konzeption des Künstlers bei Gertrud Bäumer, in: Kessel, Martina (Hg.): Kunst, Geschlecht, Politik. Geschlechterentwürfe in der Kunst des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 2005, S. 85-–101.
- 9 Vgl. Simmel, Georg: Weibliche Kultur, in: Neue Rundschau, 13. Jg., 1902, S. 504–515; vgl. Köhnke, Christian (Hg.): Georg Simmel. Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter, Frankfurt am Main 1985; vgl. Muysers, Carola (Hg.): Die bildende Künstlerin. Wertung und Wandel in deutschen Quellentexten 1855–1945, Amsterdam/Dresden 1999.
- 10 .Vgl. Muysers, Carola: Einleitung, in: Muysers, Carola (Hg.): Die bildende Künstlerin. Wertung und Wandel in deutschen Quellentexten 1855–1945, Amsterdam/Dresden 1999, S. 13–35, hier S. 30.
- 11 Vgl. Ruppert, Wolfgang: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000, S. 167.
- 12 Kratz-Kessemeier, Kristina: Kunst für die Republik. Die Kunstpolitik des preußischen Kultusministeriums 1918 bis 1932, Berlin 2008, S. 90.
Ausgewählte Publikationen
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Fastert, Sabine et. al.: Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung, Köln/Weimar/Wien 2011.