Berührungen zwischen den Autorinnen und der nichtstaatlichen Frauenbewegung in der DDR

verfasst von
  • Prof. Dr. Ilse Nagelschmidt
veröffentlicht
Wesentliche Impulse erhielt die nichtstaatliche Frauenbewegung von der Frauenliteratur der DDR. Auch West-Feministinnen lasen die DDR-Autorinnen und ließ sich inspirieren. Nachhaltige Lektüreerfahrungen entstanden, in Ost wie West.

In dem Offenhalten von Situationen, dem Anschreiben gegen festgefahrene Rollenmuster und Hierarchien, dem Bekenntnis zur eigenen Geschichte, Sprache und Körperlichkeit fanden sich Frauen der autonomen Frauenbewegung in ihrem Bestreben nach anderen Lebensentwürfen durch das Lesen und Diskutieren der Texte unter anderem von Brigitte Reimann, Christa Wolf, Irmtraud Morgner und Maxie Wander bestätigt.

Mit Blick auf die Beschäftigung mit Geschlechterverhältnissen, insbesondere mit weiblichen Lebensmustern in der DDR, zeigen sich bis auf den heutigen Tag Differenzen, die im Osten Deutschlands Nachwirkungen haben. Der patriarchale DDR-Staat verweigerte sich bis zum Ende der offenen Diskussion um Geschlechterverhältnisse. Vielmehr berauschte er sich an Zahlen – 1988 waren über 90 % aller Frauen berufstätig – und erklärte Mitte der 1970er-Jahre im Widerpart zu den Erscheinungsformen des ‚westlichen Feminismus‘ die Frauenfrage als gelöst. Das hatte Konsequenzen für die Positionierung von Frauen seit den beginnenden 1970er-Jahren. Auf der einen Seite existierten Vorurteile und eine Skepsis gegenüber den Erscheinungsformen des West-Feminismus und vermuteter ideologischer Bevormundungen, die 1998 von Daniela Dahn reflektiert wurden. „Dennoch gehört es zur Widerspenstigkeit von Ostfrauen, daß sie wenig Neigung zeigen, die vom westlichen Feminismus verordnete Männerfeindlichkeit zu verinnerlichen. Sie lassen sich einfach nicht davon abbringen, daß der Schlüssel für die Befreiung der Frau nicht im siegreichen Kampf gegen die Männer liegt.“1 Auf der anderen Seite bekannte sich die nichtstaatliche Frauenbewegung der DDR zu feministischen Grundpositionen. Im Diskurs zwischen einer nicht öffentlich geführten Diskussion und damit dem Fehlen einer umfassenden Frauenbewegung und der zunehmenden Artikulation von Stimmen, die die Notwendigkeit einer breiten Auseinandersetzung zeigten, ist die Besonderheit der Frauenbewegung in der DDR im Sinn von ‚bewegt‘ sein, etwas verändern wollen, zu sehen. Der von der Literaturwissenschaftlerin Hannelore Scholz aufgestellten These, dass diese vorrangig literarisch-ästhetischer Natur gewesen sei, ist zuzustimmen.,2 Seit den 1970er-Jahren entstand eine wahre Flut von Texten, die die Kritik am bürokratischen Sozialismus mit der Kritik an den patriarchalen Herrschafts- und Machtverhältnissen verband. So erklärt es sich, dass viele der feministischen Positionen vertretenden Autorinnen, wie Irmtraud Morgner, das Wort Feministin für sich ablehnten, „weil es einen modischen, unpolitischen Zug hat für mich, weil es die Vermutung provoziert, daß die Menschwerdung der Frau nur eine Frauensache sein könnte. Da wird aber ein Menschheitsproblem aufgeworfen.“3 Das Streben nach einer geschlechtergerechten Gesellschaft stand somit im Vordergrund. In diesem Sinn lässt die Autorin eine gewisse Anna in Amanda. Ein Hexenroman die 46. Tafelrunde mit den Worten: „Die Philosophen haben die Welt bisher nur männlich interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie auch weiblich zu interpretieren, um sie menschlich verändern zu können“4 eröffnen.

Bestimmung eigener Positionen

Durch diese Ambivalenzen wird deutlich, dass die in den Texten der bis heute vielgelesenen Autorinnen wie Christa Wolf, Irmtraud Morgner, Helga Königsdorf und Maxie Wander, aber auch weitgehend unbekannter Autorinnen5 wie Brigitte Martin und Christa Müller entwickelten feministischen Sichtweisen vor allem denen, die auf der Suche nach Utopien waren und sich nicht in das Raster von sozialistischen Norm- und Moralvorstellungen pressen lassen wollten, wesentliche Denkanstöße gaben. Das zeigte sich mit der am Beginn der 1970er-Jahre entstehenden Frauenliteratur der DDR, die bis zum Ende in literaturwissenschaftlichen Wörterbüchern nicht6 oder nur an einzelnen Hochschuleinrichtungen, so an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Friedrich- Schiller-Universität in Jena, an Leipziger und Dresdner Hochschulen sowie an der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, wahrgenommen wurde. Diese Texte hatten, obwohl ihnen ihre Besonderheit offiziell verwehrt wurde, einen großen Einfluss sowohl auf die Leser_innen als auch auf die nichtstaatlichen Frauengruppen. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Autorinnen entwarfen mit der zunehmenden Verengung und der Festschreibung der sozialistischen Persönlichkeit, der Reduzierung auf den Widerspruch von Individuum und Gesellschaft und der Negierung der Differenzen im Geschlechterverhältnis ihre Visionen und ermöglichten ein bewusstes Nachdenken.

Berührungsmuster. Das Lösen aus dem Objektstatus

Zu den Pionierinnen gehörten Christa Wolf (Jg.1929) und Brigitte Reimann (Jg.1933), die seit den 1960er-Jahren Fragen nach individueller Selbstverwirklichung über die Diskussion weiblicher Lebensmuster stellten. Brigitte Reimann begann in den frühen 1960er-Jahren mit der Arbeit am Roman Franziska Linkerhand, an dem sie bis kurz vor ihrem Tod arbeitete. Im Mittelpunkt des Romans stehen die Auswirkungen von Stillstand, Anpassung und Opportunismus. Mit Franziska Linkerhand wurde eine Frauenfigur entworfen, die in ihrem Bekenntnis zu Selbstbestimmung und ihren Sehnsüchten den Ausbruch aus dem Festgeschriebenen dem Stillstand vorzieht. Obwohl die Lebenskonzeptionen beider Autorinnen nicht unterschiedlicher sein konnten, widersetzten sie sich im Briefwechsel jeglicher Form von blinden Anpassungen und plädierten für die weibliche Individualität in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Entfremdungen.7

Berlin, Lesung Brigitte Reimann; Walter Lewerenz
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Berlin, Lesung Brigitte Reimann; Walter Lewerenz

 In Christa Wolfs Texten ist der Übergang von der vorfeministischen zur feministischen Sicht nachweisbar. Während sie in der frühen Erzählung Der geteilte Himmel die persönliche und politische Gleichgültigkeit des Mannes auf die nicht bewältigte faschistische Vergangenheit zurückführt, favorisiert sie in den Essays und poetischen Texten ab den 1970er-Jahren eine andere Erklärung. Als Ursache männlicher Lieblosigkeit nennt sie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der bürgerlichen Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert. Liebe, Emotionalität und Naturhaftigkeit würden den Frauen zugewiesen, ‚draußen im feindlichen Leben‘ hätten sie nichts zu suchen. Das Ausbrechen aus der Objekt-Rolle und das Herausfallen aus der ‚Welt der Zitadelle‘ faszinierte Christa Wolf an der mythologischen Gestalt der Kassandra. In der gleichnamigen Erzählung, die zu Beginn der 1980er-Jahre unter dem weltweiten Bedrohungsszenario durch die atomare Aufrüstung und der Notwendigkeit des Friedenskampfes entstand, sind Frauen die natürlichen Verbündeten Kassandras: Fasziniert von der inneren Schönheit und Reinheit der in den Höhlen lebenden Frauen kommt es zu Annäherungen zwischen der Königstochter Kassandra und den Frauen, das gemeinsame Arbeiten und Leben wird zu „Berührungsfesten“8.

Das Bekenntnis zur Fraueneigengeschichte

Dieses Eingraben in die Frauengeschichte führte Christa Wolf und Irmtraud Morgner (Jg.1933) zusammen.

Berlin, VII. Schriftstellerkongress, Irmtraud Morgner, Christa Wolf
Bundesarchiv, Bild 183-M1115-0027 / Katscherowski (verehel. Stark)
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Berlin, VII. Schriftstellerkongress, Irmtraud Morgner, Christa Wolf

 

Irmtraud Morgner wurde in der Bundesrepublik und in Westeuropa als eine Feministin gefeiert, die das erstarrte Marxismuskonzept durch Erotik und Phantasie aufweiche. Walter Jens sah sie als ‚poeta docta‘, gescheites Frauenzimmer à la Lessing und Groteskkünstlerin.9 1972 sagte die Autorin, befragt nach ihren literarischen und kulturpolitischen Ansprüchen: „Das Evangelium einer Prophetin. Es gab Prophetinnen, aber die hatten keinen Evangelisten. Ich meine das nicht religiös. Ich meine, daß die Frauen, wenn sie die Menschwerdung in Angriff nehmen wollen, ein Genie brauchen könnten, ein Genie!“10 In ihrer Salman-Trilogie – der 3. Band Das heroische Testament erschien als Manuskript erst nach ihrem Tod– erprobte sie das Verfahren der ironischen Distanzierung, das Techniken wie das Verweigern des Schreibens aus der Sicht einer Heldin umschließt. Im ersten Roman, Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz, (1974), wurde über die Aufnahme von Redeausschnitten des damaligen Ministers für Gesundheit der DDR, Ludwig Mecklinger, am 9. März 1972 vor der Volkskammer der Fall des §218 noch als Fortschritt für die sexuelle Revolution der Frauen gesehen. Die Autorin ließ ihre Protagonistin Laura jubeln: „Die Männer haben bisher bei den Frauen Schicksal gespielt. Das ist vorbei. Aber es wird noch eine ganze Weile dauern, bis das weibliche Geschlecht gelernt hat, die Produktivkraft Sexualität souverän zu nutzen.“11 Im neun Jahre später herausgegebenen Amanda-Roman stimmte Laura die Erinnerung an das Ereignis, das von ‚oben‘ angewiesen, aber nicht durch den gemeinsamen Frauen-Kampf realisiert werden konnte, melancholisch. „Denn der naive Fortschrittsglaube, der diese Äußerung trug, war ihr verlorengegangen.“12

Frauen und ihre Körperlichkeit

Die aus Österreich in die DDR gekommene Autorin Maxie Wander (Jg.1933) schuf mit den literarischen Protokollen Guten Morgen, du Schöne (1978) in der Verschmelzung von authentischen Aussagen und literarischer Fiktion eine Dialog- und Selbstüberprüfungssituation für Frauen. Ein Buch, so formulierte es Christa Wolf in ihrem Essay Berührung, dem „jeder sich selbst hinzufügt. Beim Lesen schon beginnt die Selbstbefragung.“13 Maxie Wander gelang es mithilfe der Gespräche, eine geschwisterliche Nähe der Frauen untereinander herzustellen und diese in ihrer eigenen Sprache über Sexualität, Erotik, verdeckte Wünsche und Ansprüche reden zu lassen. Dazu gehört die lesbische Liebe, die in der DDR nur verdeckt oder in der Opposition stattfinden konnte. Sina Meißgeier hat zu den lesbischen Identitätsentwürfen in den Texten unter anderem von Gabriele Stötzer, Roswitha Geppert, Christine Wolter oder Brigitte Reimann gearbeitet.14 Lena, 43 Jahre, Dozentin, bekennt im Protokollband von Maxie Wander: „Daß eine Freundschaft mit einer Frau überhaupt möglich ist, habe ich erst durch Anja erfahren. […] Bei ihr kann ich mich geben, wie ich bin, wir sind gleichberechtigt liebende Partner.“15 In diesem Werk stellten sich Frauen Fragen nach ihren Lebensansprüchen und bekannten sich zu ihrer Körperlichkeit. Sie artikulierten ihre Wünsche und verweigerten sich den erstarrten Rollenmustern. In ihrem Bekenntnis zur eigenen Individualität, zur Spontanität und zu ihren Utopien traten sie für eine gewaltfreie Gesellschaft ein, in der Offenheit, Vertrauen und Berührungen für beide Geschlechter möglich sind.

Unter diesen Aspekten lassen sich die nachhaltigen Lektüreerfahrungen, die Frauen der nichtstaatlichen Frauenbewegung gewonnen haben, erklären. In ihrem Feminismusbegriff, der nicht auf das Einengende und Negierende, sondern vielmehr auf die patriarchalen Geschlechterverhältnisse, die alle Menschen beschädigen, orientierte, hatten sie in den Texten vieler Autorinnen die Chance gesehen, dass durch das Begreifen der eigenen Geschichte, des eigenen Körpers und der eigenen Artikulation Veränderungen möglich sind.

Veröffentlicht: 18. Juli 2018
Verfasst von
Prof. Dr. Ilse Nagelschmidt

1953 in Leipzig geboren, studierte hier Germanistik, Geschichte und Pädagogik. Nach Tätigkeiten als Lehrerin an einer Schule, Assistentin und Oberassistentin an der Pädagogischen Hochschule in Leipzig arbeitet sie seit 1992 als Professorin an der Universität Leipzig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören, neben der DDR- und der deutschsprachigen Literatur, Frauenliteratur seit der Neuzeit sowie Methoden der Frauen- und Geschlechterforschung. Seit 2005 ist sie die Direktorin des Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Leipzig.

Empfohlene Zitierweise
Prof. Dr. Ilse Nagelschmidt (2024): Berührungen zwischen den Autorinnen und der nichtstaatlichen Frauenbewegung in der DDR, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/beruehrungen-zwischen-den-autorinnen-und-der-nichtstaatlichen-frauenbewegung-der-ddr
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Fußnoten

  1. 1 Dahn, Daniela: Die Widerspenstigen, in: Thüringer Allgemeine Zeitung, vom 13.6.1998, S. 6.
  2. 2 Hannelore: Die DDR-Frau zwischen Mythos und Realität, Schwerin 1997, S. 32.
  3. 3 Huffzky, Karin: Irmtraud Morgner. Produktivkraft Sexualität souverän nutzen, in: Menschick, Jutta (Hg.): Grundlagentexte zur Emanzipation der Frau, Köln 1976, S. 327.
  4. 4 Morgner, Irmtraud: Amanda. Ein Hexenroman, Berlin/Weimar 1983, S. 312.
  5. 5 Lequy, Anne: ‚unbehaust‘? Die Thematik des Topos in Werken weniger bekannter DDR-Autorinnen. Eine feministische Untersuchung, Frankfurt a.M./Bern u.a. 2000.
  6. 6 Träger, Claus (Hg.): Wörterbuch der Literaturwissenschaft, Leipzig 1986.
  7. 7 Drescher, Angela (Hg.): Brigitte Reimann – Christa Wolf. Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen und Tagebüchern 1963–1973, Berlin 2016.
  8. 8 Wolf, Christa: Werkausgabe in 12 Bänden. Kommentiert und mit einem Nachwort versehen. Herausgegeben von Sonja Hilzinger, München 1999–2001 (im folgenden WA), WA 7, S. 379.
  9. 9 Jens, Walter: Eine reale Zauberwelt, ein pandämonisches Heute, in: von Soden, Kristina (Hg.): Irmtraud Morgners hexische Weltfahrt. Eine Zeitmontage, Berlin 1991, S. 17–19.
  10. 10 Walther, Joachim: Meinetwegen Schmetterlinge. Gespräch mit Schriftstellern, Berlin 1973, S. 54.
  11. 11 Morgner, Irmtraud: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura. Roman in dreizehn Büchern und sieben Intermezzos, Berlin/Weimar 1974, S. 514.
  12. 12 Morgner, Irmtraud: Amanda, S. 223.
  13. 13 Wolf, Christa, WA 8, S. 115.
  14. 14 Meißgeier, Sina: Lesbische Identitäten und Sexualität in der DDR-Literatur, Berlin 2016.
  15. 15 Wander, Maxie: Guten Morgen, du Schöne. Protokolle nach Tonband, Berlin 1978, S. 201.

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