In welchem Staat wollen wir leben? Feministische Verfassungsdebatten – von der historischen Chance zur Enttäuschung
Mit den Umbrüchen im Herbst 1989 und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik erhält die feministische Verfassungsdiskussion einen neuen Aufschwung. Frauengruppen aus Ost und West sehen in den politischen Umbrüchen der frühen 1990er-Jahre die historische Chance einer verfassungsrechtlichen Neuregelung der Geschlechterverhältnisse – denn Reformbedarf besteht in beiden Teilen Deutschlands. Sie sehen in dem Beitritts- bzw. Einigungsprozess die Möglichkeit, in einem neuen Gesellschaftsvertrag die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern als inhärenten Bestandteil von Demokratie festzuschreiben.
Doch die Themen Frauen und Gleichberechtigung drohen unter den Punkt „Sonstiges“ zu rutschen. In den verschiedenen Beratungsgremien „führten nur Männer das Wort, zurrten ihre Interessen fest und waren und sind immer wieder dabei, die Auswirkungen ihres Tuns für das andere Geschlecht zu „vergessen“, kritisiert die renommierte Soziologin und Juristin Prof. Dr. Ute Gerhard direkt 1991.[1] Die ost- und westdeutschen Frauenbewegungen beziehen sich in ihrem Engagement auf das Diktum von Louise Otto-Peters aus dem Jahr 1849. Sie äußert während der ersten Verfassungsdebatte: „Die Geschichte aller Zeiten, und die heutige ganz besonders, lehrt: daß diejenigen vergessen werden, die an sich selbst zu denken vergaßen.“[2]
Feministische Verfassungsinitiativen
Zwischen Oktober 1989 und Oktober 1990 gründen sich in Ost und West feministische Verfassungsinitiativen, die mit ihren Entwürfen und Forderungen die Verfassungsdebatten trotz aller männlicher Dominanz mitgestalten.
Als zentrale Akteurin tritt der Unabhängige Frauenverband (UFV) auf. Mit seiner Devise „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen“, erkämpft er sich im Dezember 1989 einen Platz an den Runden Tischen und beteiligt sich ab dem Frühjahr 1990 offensiv an den Verfassungsdebatten. Der UFV entsendet Tatjana Böhm an den Zentralen Runden Tisch, wo sie im Verfassungsausschuss Forderungen zu Frauenrechten und Gleichberechtigung in den Verfassungsentwurf hineinverhandelt. Flankiert wird der Verfassungsentwurf vom Positionspapier „Gleichstellung von Frau und Mann“ und der Sozialcharta, an denen der UFV ebenfalls maßgeblich mitgewirkt hat.
Inspiriert vom Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches und erwachsen aus dem großen Reformbedarf in der Bundesrepublik gründet sich 1990 aus dem Frauenreferat Frankfurt und dem Zentrum für Frauenforschung an der Universität Frankfurt die Initiative Frauen für eine neue Verfassung. Sie mischt sich mit ihrem Manifest Frauen für eine neue Verfassung in die Verfassungsdiskussion ein.
Zudem initiiert Heide Hering gemeinsam mit Renate Sadrozinski und Susanne v. Paczensky innerhalb der Humanistischen Union die Initiative Frauen in bester Verfassung. Die Initiative veröffentlicht acht Forderungen für mehr Frauenrechte in einer neuen gesamtdeutschen Verfassung:
1. Der Staat fördert die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen.
2. Jede Frau hat das Recht zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austrägt oder nicht.
3. Frauen und Männer, die mit Kindern oder Pflegebedürftigen leben, haben Anspruch auf Schutz und Förderung durch den Staat.
4. Jede Frau hat das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Der Staat schützt Frauen vor männlicher Gewalt.
5. Frauenarbeit wird nicht geringer bewertet und entlohnt als die des Mannes.
6. Das Recht auf freie Meinungsäußerung findet seine Grenzen dort, wo die Würde der Frau berührt ist.
7. Öffentliche Erziehung wirkt der Fixierung der traditionellen Geschlechtsrollen entgegen.
8. Frauen, die wegen ihres Geschlechts verfolgt werden, genießen politisches Asyl.
Gleichberechtigung der Frauen endlich einlösen!
Die in den vormaligen Verfassungen der beiden deutschen Staaten garantierte Gleichberechtigung kritisieren die feministischen Verfassungsinitiativen aus Ost und West zu Beginn der 1990er-Jahre als uneingelöste Versprechen. In ihren Beiträgen erinnern sie an das radikale Potenzial von Emanzipation und Gleichberechtigung, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Vor diesem Hintergrund verstehen sie die neue Verfassungsdebatte als eine historische Gelegenheit, die tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern endlich einzulösen. Die neue gesamtdeutsche Verfassung soll hierfür die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen.
Die Verfassungsentwürfe zielen nicht nur auf die Garantie von Freiheits- und Gleichheitsrechten. Als Voraussetzung für deren Ausübung sehen die Initiativen aus Ost und West die Gewährleistung der sozialen Teilhabe, die ebenfalls verfassungsrechtlich festgeschrieben werden sollen.
Eine weitere zentrale Forderung beinhaltet die Quotierung, um die gleichberechtigte Partizipation von Frauen zu gewährleisten. Vor dem Hintergrund des Memminger Abtreibungsprozesses und des drohenden Wegfalls der in der DDR geltenden Fristenlösung soll das Recht auf körperliche Selbstbestimmung der Frauen verfassungsrechtlich verankert werden. Der straffreie Zugang zum Schwangerschaftsabbruch ist für sie eng verbunden mit dem Schutz der Würde der Frauen.
Angesichts aufflammender rassistischer Gewalt gegen Migrant*innen fordern die Frauen die Aufnahme des Rechts auf Asyl wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung und die Zusicherung sozialer Grundrechte für Migrant*innen. Nichtheterosexuelle Lebensgemeinschaft sollen der Ehe gleichgestellt werden. Ferner fordern die Frauen die Anerkennung von Sorgearbeit wie zum Beispiel Kindererziehung und Pflege als gleichwertige Arbeit sowie die verfassungsrechtliche Garantie auf Kinderbetreuungsplätze.
Minimalziel: Erweiterung des Grundgesetzes
Wie viele andere progressive Ideen finden die feministischen Verfassungsentwürfe und Änderungsvorschläge kaum Eingang in die Reform des Grundgesetzes.
Die Enttäuschung zahlreicher Akteur*innen und Initiativen ist sehr groß. Nicht wenige ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück. Mit Ingrid Köppe, Mitglied des Neuen Forums, zentrale Akteurin der Bürgerrechtsbewegung und Abgeordnete im Deutschen Bundestag für Bündnis '90/Grüne (1990-1994), lehnt eine zentrale Protagonistin des Um- und Aufbruchs aus dieser Enttäuschung heraus das ihr später verliehene Bundesverdienstkreuz (1995) ab.
Die von 1991 bis 1993 agierende Gemeinsame Verfassungskommission, deren Mitglieder überwiegend westdeutsch und männlich sind, und der Bundestag blockieren die Umsetzung der meisten weitreichenden Forderungen. An Stelle einer neuen gesamtdeutschen Verfassung, in der Frauenrechte und Gleichberechtigung verankert werden sollten, tritt am 15. November 1994 lediglich die Erweiterung des Artikel 3 des Grundgesetzes in Kraft. Demnach habe der Staat „die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ zu fördern und „auf die Beseitigung bestehender Nachteile“ hinzuwirken. Die vor 35 Jahren entwickelten Alternativen haben an Aktualität nicht verloren und harren ihrer Verwirklichung.
Dieser Beitrag ist Teil der DDF-Kampagne #unerschrocken und der digitalen Festwoche „Alle(s) gleich? Artikel 3 im Grundgesetz: Gestern. Heute. Morgen.“, eine Kooperation von der Universität der Künste Berlin und dem Digitalen Deutschen Frauenarchiv, gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.