Von allem nichts gewusst? – die neue Frauenbewegung und ihr Umgang mit NS-Täterinnen

veröffentlicht 16. August 2022

Mitte der 1980er Jahre wird der Alltag des Frauen*bildungszentrums DENKtRÄUME in Hamburg jäh unterbrochen: Ruth Kellermann, die bis dahin lose bei DENKtRÄUME mitarbeitet und dort eigenständig Kurse zur Frauengeschichte im 19. Jahrhundert anbietet, wird von ihrer Vergangenheit eingeholt. Sie soll im Rahmen einer Vorlesung der Koordinierungsstelle Frauenstudien/ Frauenforschung (heute: Zentrum Gender & Diversity, ZGD) einen Vortrag halten. Das wird von der Rom und Cinti Union Hamburg jedoch verhindert: Sie deckt auf, dass Kellermann während des Nationalsozialismus für die Klassifizierung von Roma und Sinti in der ‚Rassenhygienischen Forschungsstelle‘ zuständig war, unter anderem im KZ Ravensbrück. Ruth Kellermann war bis dato bei DENKtRÄUME aktiv, ohne dass ihre Vergangenheit bekannt gewesen war. Die eigene Involvierung in den sogenannten Fall Kellermann nimmt DENKtRÄUME nun zum Anlass, um den Umgang der Frauenbewegung mit Täterinnen der NS-Zeit aufzuarbeiten.

Zu sehen ist Material zu Frauen und Rechtsextremismus, Veranstaltungsflyer und Infomaterial
Inga Müller
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Wie wurde in der westdeutschen Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre mit Täterinnen des Nazi-Regimes umgegangen? Wie konnte es dazu kommen, dass sie unbehelligt Teil der feministischen Bewegung wurden? Wie konnte es sein, dass die Bewegung nichts von der Vergangenheit ihrer Mitglieder wusste? Und wie groß war die Unwissenheit wirklich?

Lange lag eine generelle Forschungslücke zum Thema Frauen als Täterinnen vor. Namen wurden nicht überliefert, Frauen lange nur als sogenannte Mitläuferinnen eingeordnet. Einen Ansatz, diese Lücke zu schließen, bilden die Zeitzeug*innen-Interviews von DENKtRÄUME, die aktuell entstehen. In den bisher geführten Interviews mit Akteur*innen der Zeit kristallisiert sich bereits heraus: Eine differenzierte Haltung zu der Vergangenheit der Frauen, die in der Frauenbewegung aktiv waren, schien in den Anfängen der neuen Frauenbewegung nicht üblich gewesen zu sein. Vielmehr zeigt sich eine aktive Politik des Aussitzens und Schweigens, wenn es um die Frage nach dem Umgang mit dem Nationalsozialismus in feministischen Kreisen geht. Der Fokus lag eher darauf, alle Frauen als Opfer des patriarchalen Systems – und damit auch des Nationalsozialismus – zu begreifen. Erst nach und nach wurde eine differenziertere Haltung eingenommen. Unter anderem die Veröffentlichung des Buchs Opfer und Täterinnen von Angelika Ebbinghaus 1987 stellt einen Bruch mit der strukturellen Ignoranz und der Verschleierung von Täterinnenschaft dar, indem es sich als eine der ersten Publikationen ausführlicher mit dieser Thematik beschäftigte.

Neben der Verdrängung von Schuld und Verantwortung ist ein weiterer, sehr aktueller Aspekt zu beleuchten: Frauen*spezifische Themen und Argumente werden bis heute in der rechten Szene dazu verwendet, um Fremdenfeindlichkeit zu rechtfertigen und globale Ungleichheiten zu erklären. Personelle und inhaltliche Überschneidungen mit rechten Akteurinnen in Frauen*zusammenhängen werden oft zu spät erkannt. Um für die Forschung weiteres Material zu liefern, wird im Rahmen des Projektes ein Findbuch zum „Archiv zu Frauen / Gender und Rechtsextremismus ab 1945 in Deutschland und weltweit“ der Bibliothek des ZGD erstellt.

In einer Kooperation von DENKtRÄUME mit der Bibliothek des ZGD werden die Materialien und Akten digitalisiert, welche die beiden Institutionen zum Fall Kellermann aufbewahren. So finden sich in den Beständen zum Beispiel Gerichtsakten aus einem Verfahren, das Kellermann gegen DENKtRÄUME führte, sowie die Medienberichterstattung und Flugblätter, welche diesen Fall begleiteten. Für das Projekt werden auch Interviews mit Akteur*innen der damaligen Debatte geführt, um die Strukturen des Umgangs mit den NS-Täterinnen herauszuarbeiten. Auf diese Weise schließt das Projekt eine Lücke in der Aufarbeitung der deutschsprachigen Geschichte. Dabei werden nicht nur die Geschichte der Frauenbewegung, sondern auch die der eigenen Institution reflektiert und Kontinuitäten in die gegenwärtigen Debatten aufgezeigt.

Seit 1983 archiviert und dokumentiert DENKtRÄUME systematisch Informationen zu Frauen- und Geschlechterfragen. Es basiert auf den drei Säulen Bibliothek, Archiv und Veranstaltungsprogramm. Ziel ist es unter anderem auf aktuelle Fragen der Zeit Antworten aus einer feministischen Perspektive in die Gesellschaft zu tragen. Die Zentrale Bibliothek Frauenforschung, Gender & Queer Studies des ZGD ist die bundesweit älteste Uni-Frauenbibliothek. Sie feiert 2024 ihr 40. Jubiläum und versorgt in erster Linie angehende Akademiker*innen mit wissenschaftlicher Literatur. 

Das DDF-Kooperationsprojekt von DENKtRÄUME ist am 1. Januar 2022 gestartet und hat eine Laufzeit von zwölf Monaten. Es werden Interviews geführt, Materialien aus dem eigenen Bestand und dem des ZGD digitalisiert, ein Findbuch zum Archiv Frauen und Rechtsextremismus erstellt, Rechteklärung betrieben und Essays zu den Themen Frauenbewegung und Täterinnenschaft, der Verfolgung von Romnja und Sintizze und dem Einfluss feministischer Debatten in der gegenwärtigen rechten Szene verfasst.

Ausgewählte Inhalte von DENKtRÄUME in DDF und META-Katalog:

Stand: 16. August 2022

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