Verfassungsbruch in Permanenz? Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte von Artikel 3
Wie steht es um die aktuelle Bedeutung des Artikels 3 und wo sorgt er in der juristischen Praxis heute für mehr Gerechtigkeit? Wo, aber braucht er auch noch Weiterentwicklung? Und was fordern Kritiker*innen, um Menschen in Zukunft besser vor Diskriminierung zu schützen und Gleichbehandlung durchzusetzen?
Artikel 3 – Gestern
Das Ringen der Frauenbewegungen um gleiche Rechte und ihre Umsetzung hat eine mehr als lange und zähe Geschichte. Zwar haben Frauen und Männer schon in der Weimarer Republik laut Verfassung die gleichen staatsbürgerlichen Rechte – aber erst Artikel 3 des Grundgesetzes, der 1949 in Kraft tritt, macht das frauenfeindliche Familienrecht des 19. Jahrhunderts verfassungswidrig. 61 Männer und 4 Frauen beraten Ende 1948 initiiert durch die Besatzmächte der Westzonen und vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen über das neue Grundgesetz. Die sozialdemokratische Juristin Dr. Elisabeth Selbert erstreitet trotz zweifacher Ablehnung und gegen großen Widerstand schließlich mit Hilfe zehntausender Unterstützer*innen den Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“.
Eigentlich müssen alle anderen Gesetze, die diesem Grundsatz widersprechen, nun schnell überarbeitet werden. Tatsächlich dauert dies aber sehr lange und muss oft über das Bundesverfassungsgericht erzwungen werden. Erst 1958 dürfen verheirate Frauen zum Beispiel ihr eigenes Konto eröffnen und über ihr Geld entscheiden. Das Ehe- und Familienrecht bleibt insgesamt aber bis 1976 noch weitgehend unangetastet. Erst jetzt sind Ehefrauen zum Beispiel genauso wie Männer berechtigt, Erwerbsarbeit aufzunehmen – und brauchen dafür keine Zustimmung mehr.
Selbert muss somit noch 1982, über 30 Jahre nachdem sie den Gleichheitsgrundsatz im Grundgesetz erkämpfte, empört feststellen, „die mangelnde Heranziehung von Frauen zu öffentlichen Ämtern und ihre geringe Beteiligung in den Parlamenten ist doch schlicht Verfassungsbruch in Permanenz“. Die schleppende Umsetzung des Gleichstellungsgesetzes bildet den Hintergrund dafür, dass es 1994 als notwendig erachtet wird, dem Artikel 3 zusätzlich den konkreten Auftrag an den Staat hinzuzufügen, Gleichberechtigung auch tatsächlich durchzusetzen.
Dass kurz vorher – in der Transformationszeit ab 1989 - der Druck zur Umsetzung von Gleichstellung wächst, ist kein Zufall: In der DDR ist die Situation von Frauen sehr anders als in der Bundesrepublik. 1990 entsteht ein eindrücklicher Bericht über die soziale Lage von Frauen in der DDR, der auch die Widersprüche ihrer Gleichstellungspolitik dokumentiert, der „Frauenreport 1990“.
Feminist*innen aus Ost und West sehen in den politischen Umbrüchen der frühen 1990er-Jahre die historische Chance einer verfassungsrechtlichen Neuregelung der Geschlechterverhältnisse – denn Reformbedarf besteht in beiden Teilen Deutschlands. Sie wollen die Umsetzung von Gleichberechtigung endlich verfassungsrechtlich verankern und mischen sich parlamentarisch und außerparlamentarisch kräftig in die nun anlaufenden Verfassungsdebatten ein. Nur ihre Proteste ermöglichen schließlich die Ergänzung von Artikel 3 im November 1994.
Artikel 3 – Heute
Artikel 3 gilt in seiner heutigen Form seit 1994 und sorgt seither in der juristischen Praxis für mehr Gerechtigkeit. Er berechtigt Personen dazu, Ungleichbehandlungen gerichtlich abzuwehren, die gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen. Das Grundgesetz schränkt den Kreis der geschützten Personen nicht ein. Artikel 3 schützt als Grundrecht damit alle Personen in Deutschland.
Menschen setzen – indem sie sich auf Artikel 3 berufen – immer wieder per Verfassungsbeschwerde wichtige juristische und faktische Veränderungen durch. Auch um marginalisierte und besonders verletzliche Gruppen zu schützen, kann der Artikel herangezogen werden. So verpflichtet das Bundesverfassungsgericht die Gesetzgebenden 2021 im Zuge der Corona-Pandemie mit Bezug auf Artikel 3 zur Regelung der Triage, um zu verhindern, dass Menschen mit Behinderungen Benachteiligungen erfahren. „Triage“ bezeichnet Verfahren zur Einteilung von Patient*innen, um zu entscheiden, wer zuerst behandelt wird.
Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf Basis von Artikel 3 von 2018 ermöglicht inter* und trans* Menschen, sich außer mit „männlich“ und „weiblich“ auch mit „divers“ oder „ohne“ ins Personenstandsregister eintragen zu lassen. Der Beschwerde einer inter* Person wird stattgegeben und Deutschland erkennt so die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern rechtlich an. Seit 2015 darf Lehrerinnen nicht mehr pauschal das Tragen von Kopftüchern verboten werden. Das Bundesverfassungsgericht begründet seine Entscheidung unter anderem mit Artikel 3. Auch die Bevorzugung von christlichen Werten und Traditionen in Schulgesetzen wird als Ungleichbehandlung untersagt. 1992 kippte das Bundesverfassungsgericht das Nachtarbeitsverbot für Frauen auf Grundlage von Artikel 3. Mit dem Verbot dieser Diskriminierung ging die Forderung nach besserem Schutz für alle Nachtarbeiter*innen einher. Artikel 3 sorgt somit bereits für mehr Gerechtigkeit. Dennoch gibt es auch scharfe Kritik an dem Verfassungstext.
Artikel 3 – Morgen
Die aktuelle Formulierung von Artikel 3 im Grundgesetz ist in einigen Punkten heftig umstritten. Initiativen unterschiedlicher Richtungen streben Änderungen an, um in Zukunft rechtlich besser für Gleichbehandlung und gegen Diskriminierung vorgehen zu können. Höchst umstritten ist z.B. der Begriff „Rasse“ in Absatz 3. Dieser Wortlaut, so die Kritik, reproduziere und fördere rassistisches Denken und rassistische Theorien blieben so in den Köpfen verankert. Als Basis für eine glaubwürdige Bekämpfung von Rassismus sei er unbrauchbar. Die Bundesregierung entscheidet sich im Sommer 2024 trotzdem gegen Vorschläge den Begriff mit Formulierungen wie „rassistische Diskriminierung“ oder „rassistische Zuschreibung“ zu ersetzen. Seit 2020 gibt es eigentlich die Einigung im Parlament eine Änderung anzustreben. Das Diskriminierungsverbot und die Nutzung des Begriffes entstehen 1948/49 vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus. Da der Begriff somit an die deutsche Geschichte erinnere, spricht sich z.B. der Zentralrat der Juden in Deutschland gegen eine Änderung aus. Die Befürchtung ist, auch die Erinnerung könne mit dem Begriff verschwinden.
Die Regierung begründet die Entscheidung auch mit der Sorge, es sei juristisch zu kompliziert, eine neue Formulierung zu finden, die das gleiche Schutzniveau für von Antisemitismus und Rassismus betroffenen Menschen garantiert. Kritiker*innen überzeugt dies nicht. In den Verfassungen mehrerer Bundes- und anderer europäischer Länder ist der Begriff bereits ersetzt.
Eine weitere zentrale Forderung zur Verbesserung des Artikels betrifft den expliziten Schutz von LSBTIQA* im Grundgesetz. Der Schutz lesbischer, schwuler, bisexueller, trans-, intergeschlechtlicher, queerer und asexueller sowie weiterer geschlechtlicher und sexueller Identitäten jenseits der heterosexuellen Norm ist weiterhin unvollständig. Der LSVD⁺ – Verband Queere Vielfalt warnt: „Weil der Schutz queerer Menschen nicht explizit im Grundgesetz steht, könnte sich die systematische Verfolgung queerer Menschen auch in Deutschland wiederholen.“ Obwohl Homosexuelle zu den Opfergruppen der Nazis gehören, fehlt seit 1949 die Nennung des Merkmals der sexuellen Identität beim Diskriminierungsverbot.
Es gibt viele weitere Ideen für Verbesserungen von Artikel 3 und des gesamten Grundgesetzes, um Menschen vor Diskriminierung zu schützen und um feministische Anliegen, wie das Recht auf Schwangerschaftsabbruch oder Gewaltschutz, verfassungsrechtlich abzusichern. Wollt ihr hier tiefer einsteigen und vielleicht sogar eigene Ideen entwickeln? Schaut in den DDF-Film „Alle(s) gleich“ rein und hört, was 6 Protagonist*innen mit unterschiedlichsten Bezügen zum Grundgesetz in Geschichte und Gegenwart für Gedanken dazu mit euch teilen!
Dieser Beitrag ist Teil der DDF-Kampagne #unerschrocken und der digitalen Festwoche „Alle(s) gleich? Artikel 3 im Grundgesetz: Gestern. Heute. Morgen.“, eine Kooperation von der Universität der Künste Berlin und dem Digitalen Deutschen Frauenarchiv, gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.