Für mehr feministische Brieffreundschaften!
Zehn Kisten „Korrespondenz“ umfasst der Nachlass von Hilde Radusch. Zeit ihres Lebens politisch aktiv – als Kommunistin, Widerstandskämpferin, Lesbe – befand sie sich auch ihr ganzes Leben im schriftlichen Austausch über ihre Aktivitäten. Die Namen derjenigen, deren Nachrichten sie aufbewahrt und nach ihrem Tod dem FFBIZ vermacht hat, füllen mehrere Seiten. Ein ganzes Paket umfasst allein der Austausch zwischen ihr und der Schriftstellerin Pieke Biermann – 1988 schreibt Radusch: „Ich bin fassungslos über unseren Briefwechsel, der Schnellhefter quillt über“.
Hilde, geboren 1903 zur Jahrhundertwende, und Pieke, geboren 1950 im Nachkriegsdeutschland, lernen sich Mitte der 80er Jahre kennen. Gemeinsam entwickeln sie die Idee, Hildes bewegte Lebensgeschichte zu dokumentieren: „Die eigene Geschichte. Muss es denn gleich beides sein?“ heißt der Film, der daraus entstehen wird. Es ist der Wegbereiter einer Freundschaft, deren Schreibfreudigkeit den einen oder anderen Schnellhefter füllen wird.
„Mich-in-die-Welt-setzen-und-etwas-bewegen“ (Pieke Biermann, 15.08.89)
Von 1985 bis 1991 schreiben sich die beiden Briefe. Am Anfang sind die Zeilen noch tastend – doch lange an der Oberfläche aufhalten werden sie sich nicht. Pieke und Hilde sind politische Frauen, die sich in ihrer Umwelt mit kritischem Blick bewegen und sich nicht mit einfachen Antworten auf komplizierte Fragen begnügen wollen. Ob es um Piekes Arbeit in der Hurenbewegung geht, Hildes Vergangenheit im NS-Gefängnis oder um einen gerade erst geschriebenen Leserinnenbrief an die taz – immer wieder drehen sich die Briefe um ihr politisches Handeln und darum, was es für ihr Leben bedeutet.
Doch nicht nur das offensichtlich Politische ist Thema: wie wichtig Fürsorge für andere und Selbstfürsorge ist, dass auf Phasen der Motivation und des Gelingens Phasen der Selbstzweifel und Antriebslosigkeit folgen können – auch solche grundsätzlichen, eher psychologischen Einsichten finden sich in ihren Briefen.
Der Komplex Nationalsozialismus
Ein Thema, das die beiden immer wieder beschäftigt, ist die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Ausgelöst durch die Rede Philipp Jenningers zum 50. Jahrestages des Novemberpogroms, arbeitet sich Pieke, die zur Nachkriegsgeneration gehört, wieder einmal ab an der Rolle, die ihre Eltern während der NS-Zeit gespielt haben. Sie sieht sich verleitet zum schnellen Urteil und weiß doch, dass dies nicht zu Erkenntnissen führt.
Hildes Blick ist ein anderer: Sie hat Krieg und Verfolgung selbst erlebt und als Widerstandskämpferin den Nazis die Stirn geboten. Sie weiß um die Komplexität und Ambivalenz eines alltäglichen Lebens in einem faschistischen Regime. Auf Piekes Abscheu gegen ihre Mutter antwortend schreibt sie: „Muss sie denn den Faschismus so geballt erlebt haben, wie wir ihn heute denken?“ Anhand anschaulicher Anekdoten zeigt sie dann, dass Geschichte selten so geradlinig, das Urteilen selten so einfach ist, wie die nachfolgende Generation denkt.
Und dann stellt sie die rhetorische Frage: „Warum ich so anders bin? Weil ich anders als die anderen bin – da muss man über sich nachdenken.“
Alltäglicher Widerstand
Die Erfahrung des „Andersseins“, des alltäglichen Aneckens, hat Hilde Radusch schon früh gemacht. Als Lesbe und Kommunistin war sie ihr ganzes Leben Diskriminierung bis hin zur Verfolgung ausgesetzt. Ihr Selbstverständnis konnten diese Erfahrungen nicht brechen: „Ich habe mich nie als ,Opfer‘ betrachtet, sondern immer als ,Kämpferin‘“, wird sie von Claudia Schoppmann im Orlanda Verlag zitiert. Und auch Pieke will sich weder mit den ihr zugewiesenen Rollen zufriedengeben, noch als Opfer darstellen lassen. Bevor sie erfolgreiche Buchautorin wurde, arbeitete sie auch eine Zeit lang als Hure – und wehrte sich vehement gegen die Tabuisierung von Prostitution und die Viktimisierung und Stigmatisierung von Prostituierten. Stattdessen strebte sie an, Prostitution zusammen mit Bürgerrechten zu diskutieren, wie sie Hilde in einem Brief vom 2. Februar 1988 erzählt. Beide sind sie Widerstandskämpferinnen des Alltags, das verbindet sie.
Konflikt und Alter
Doch es gibt auch Trennendes. Mit den Jahren leidet Hilde zunehmend unter verschiedenen Krankheiten und dem Alter. Während Pieke in einem frühen Brief noch ihre Bewunderung zum Ausdruck bringt, bei Hilde kein bisschen Altersstarrsinn beobachten zu können, kommt es irgendwann dennoch zum Streit – die beiden resoluten Frauen sind sich uneins. Der Zusammenbruch des Realsozialismus und dessen Folgen haben ein Umfeld geschaffen, in dem es sich auch im Westen wieder neu zu orientieren gilt – besonders für diejenigen, die noch immer am Traum einer freien kommunistischen Gesellschaft festhalten. Eine Aufgabe, die für die mittlerweile fast 90-jährige Hilde Radusch zur Herausforderung wird.
„Die feministische Bewegung hat es bitter nötig, ihre Vergangenheit ans Licht zu bringen“
Was mir beim Lesen klar wird ist, dass die Briefe nicht nur Ausdruck einer intensiven Freundschaft sind, sondern auch ein lebendiges Zeugnis ihrer Zeit. Sie sind ein feministischer Spiegel, in den zu blicken als junge Feministin Freude macht – und höchst aufschlussreich ist.
Während ich sie heute lese – versuche, Hildes Handschrift zu entschlüsseln und mich an den präzisen, auf Schreibmaschine getippten Sätzen von Pieke freue, frage ich mich, was meine Generation zurücklassen wird, um die Erinnerung an das Persönliche und das Politische, das, was wir erlebt, gedacht und diskutiert haben, was uns verwirrt oder begeistert hat, zu bewahren, nachvollziehbar zu machen. Messengerverläufe?
Zwischen den Zeilen teilt sich nicht nur Verbundenheit, sondern auch eine Form des Müßigganges mit, die uns heute abhandengekommen scheint. Wer hat schon Zeit, seitenlange Briefe zu schreiben? Und das auch noch innerhalb Berlins? Denn es war ja nicht so, als hätten Hilde Radusch und Pieke Biermann keine andere Möglichkeit der Kommunikation gehabt. Ganz im Gegenteil: in ihren Briefen gibt es immer wieder Leerstellen oder Zeitsprünge die darauf hinweisen, dass in der Zwischenzeit ein Treffen oder ein Telefonat stattgefunden hat. Doch die Briefe haben ihre eigene Art des Erzählens, ihre eigene Geschwindigkeit, Genauigkeit, manchmal auch Klarheit, Entschiedenheit. Mit den Worten formen sich die Gedanken – und diese Denkbewegungen werden mit dem Ertasten der rauchigen Seiten auch vierzig Jahre später plötzlich greifbar.