Ein Abend aus dem Leben einer Aufsässigen
Alle Stühle sind besetzt an diesem Oktoberabend im Aquarium in Berlin Kreuzberg. Feminist*innen der Generation digital natives sitzen neben Mitbegründerinnen der Neuen Frauenbewegung für die vom feministischen Archiv FFBIZ organisierte Vorführung des Dokumentarfilms „Mussten’s denn die beiden sein“ (1985) über das Leben von Hilde Radusch. Anhand von Gesprächen zwischen Hilde Radusch und Petra Haffter, historischen Dokumenten und zentralen Schauplätzen werden darin die Stationen ihres Lebens bis in die 1950er Jahre hinein beleuchtet. Folgen wird dem Film ein Gespräch mit Pieke Biermann, heute Schriftstellerin, damals Initiatorin des Filmprojekts und vor allem langjährige Freundin und Bekannte Raduschs.
Hilde Radusch, geboren 1903, war viele Jahre Mitglied der kommunistischen Partei, bis sie nach ihrem Austritt eine neue Heimat in der deutschen Frauenbewegung fand. Dort baute sie nicht nur die Lesbengruppe L74 mit auf, sondern war auch eine der Mitbegründerinnen des FFBIZ, das noch über 40 Jahre später immer wieder an ihr Leben und Wirken erinnert – so auch an diesem Abend.
Das Archiv als Ort des Politischen
Das FFBIZ, so erfahren wir in der Eingangsrede durch Friederike Mehl, der Projektleiterin des dortigen DDF-Digitalisierungsprojekts, ist das Archiv mit der umfangreichsten Sammlung zur Frauenbewegung seit 1968 in Deutschland. Es sei daher eine wesentliche Anlaufstelle für all diejenigen, die mehr über Frauen-, Lesben und Bewegungsgeschichte wissen wollen. Darüber hinaus seien Orte wie das FFBIZ wichtige politische Räume, denn dort werde „sichtbar gemacht, was andernorts oft überhört, ignoriert, vergessen oder sogar geleugnet wird: Dass Frauen, Lesben und queere Menschen Geschichte geschrieben haben und dass die Kategorie Geschlecht selbst auch eine Geschichte hat.“
Um den Schatz, den die Frauen- und Lesbenarchive deshalb darstellen zu bewahren, reicht es nicht, ihn einfach zu konservieren. Vielmehr muss er permanent erweitert, gepflegt und müssen in seiner Aufbereitung gesellschaftliche Veränderungen reflektiert werden – so, wie es im Rahmen des DDF-Projekts nun auch mit wichtigen Beständen des FFBIZ geschehen ist. Das Plenum Ostberliner Frauenprojekte, der lesbisch-feministische Schabbeskreis, das Erste Autonome Frauenhaus Berlin, die Zeitschrift Courage – all diese Gruppen und Projekte werden vom FFBIZ im Digitalen Deutschen Frauenarchiv mit Texten und digitalisierten Versionen von Originaldokumenten wie Fotos, Briefen oder Protestaufrufen vorgestellt. Auch der Nachlass interessanter Persönlichkeiten wurde detailgenau für das Digitale Archiv aufbereitet, zu ihnen zählen Elisabeth Rothschuh, Halina Bendkowski und nicht zuletzt Hilde Radusch.
Politik und Privatheit
Hilde Radusch brach in ihrem Leben mehr als ein Tabu. Als Kommunistin, Lesbe und schließlich als Teil der Frauenbewegung fand sie sich immer wieder mitten im Zentrum gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung – oft absichtsvoll, doch keinesfalls immer. Denn ihr lesbisch und Frau-Sein verstand Hilde lange nicht als politisch. Politisch, das war ihr Amt als Stadtverordnete, waren Demonstrationen und Parteisitzungen – Politik eben. Ihre Liebe lebte sie im Privaten und es lag ihr fern, darin etwas Politisches zu sehen.
Diese Haltung änderte sich – wenn auch nicht gänzlich – nach dem zweiten Weltkrieg und nach Hildes schmachvollem Austritt aus der Kommunistischen Partei. Denn dort wurde, ganz ohne ihren Willen, ihr Privatleben politisiert: Die männlichen Parteimitglieder, die sich in der Weimarer Republik noch mit Fortschrittsmarkern wie der Frauenquote geschmückt hatten, stellten ihr Machotum nun wieder ungebremst zur Schau und servierten Hilde ab – als Frau, und als Lesbe.
Die „Hilde Girls“
Für Hilde, die ihr bisheriges Leben dem kommunistischen Ideal verschrieben hatte, war dies ein schmerzhafter Bruch. Doch es gelang ihr noch einmal, sich eine neue – politische wie emotionale – Heimat zu schaffen. Die Neue Frauenbewegung wurde der Ort, an dem sie sich ab den 70er Jahren bewegte und an dem sie trotz ihres Alters sehr aktiv war. In der Frauenbewegung traf sie viele ihrer, teils auch an diesem Abend anwesenden, Weggefährtinnen. Und es war im Rahmen der Frauenbewegung, dass sie sich ein dichtes solidarisches Netz knüpfte, das sie im letzten Viertel ihres Lebens tragen und begleiten sollte – die sogenannten Hilde Girls.
Einen Namen nach dem anderen zählen jene Anwesenden auf, die Hilde noch kannten, oder selbst zu diesen Hilde Girls zählten. Eine wusch ihr die Wäsche, eine ging mit ihr spazieren, Pieke Biermann war die Frau, mit der Hilde regelmäßig die internationale Küche Berlins genoss. Hilde Radusch hatte, so erfahren wir an diesem Abend, eine besondere Begabung, Frauen zusammenzubringen.
Selbstgewiss und radikal
Doch sie lernte die Frauen nicht nur kennen, gewann ihre Sympathie und ihr Vertrauen, sie schaffte es auch, ihre Unterstützung anzunehmen (und manchmal auch, darum zu bitten?). Hilde war damals vielerorts die Älteste, war in einem Alter, in dem einer schon vieles abgesprochen wurde, so auch die eigene Sexualität, auf die Hilde jedoch, in ihrem erprobten Widerstandsgeist, weiterhin bestand. Auch wenn ihr das Alter mit seinen Krankheiten manches schwer machte, so wird aus dem Film und den Erzählungen deutlich, dass Hilde keine war, die sich damit versteckte. Sie hatte den Mut, sich zuzumuten. Und sie schuf damit einzigartige Möglichkeiten der Begegnung und der Solidarität zwischen Frauen und zwischen Generationen. Sie behielt ihre Neugier, ihre Entschiedenheit, ihre Lust an klaren Worten und Streitkultur, auch ihre Bereitschaft, ihre Perspektive zu ändern. „Jenseits der 60 feministisch zu sein heißt: eine uns angemessene Stärke zu leben“, schreibt Charlotte Wiedemann in einem aktuellen taz-Kommentar unter dem Titel „Selbstgewiss und radikal“. Diese Stärke lebte Hilde Radusch bis zu ihrem Tod.
Wir stehen Riesinnen auf der Schulter
Doch mit dem Tod soll Hildes Geschichte nicht enden. Hilde wird weiterleben – in den Erinnerungen ihrer Weggefährtinnen und, dank Orten wie dem FFBIZ, als bedeutende historische Persönlichkeit auch für nachfolgende Generationen. Dieses Erinnern ist im höchsten Grade politisch. Noch immer sind es Vertreter der dominanten, der privilegierten Gruppen, an die erinnert wird. Feministische und antirassistische Aktivist*innen arbeiten seit Jahren daran, dass sich das ändert. Manchmal mit Erfolg. Vor einem Jahr, am 6. November 2016, wurde in Schöneberg ein Ehrengrab für Hilde Radusch eingeweiht. Das Ehrengrab für Hilde Radusch war erst das zweite Ehrengrab für eine Frau von 44 Ehrengräbern auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof (insgesamt gibt es aktuell 667 Berliner Ehrengräber, 10 Prozent von Frauen). Über eine Dekade hat sich das Frauennetzwerk „Miss Marples Schwestern“ dafür eingesetzt.
Dieses ausdauernde Engagement ist Ausdruck des Bewusstseins, wie bedeutsam solche Orte sind, an denen das Gedenken an Frauen wie Hilde Radusch lebendig bleibt. Sie stellen eine Möglichkeit dar, die Erinnerung wach zu halten und Feminist*innen unterschiedlicher Generationen miteinander ins Gespräch zu bringen – so wie an diesem Abend in Kreuzberg.