Die Evangelische Frauenhilfe und die Abtreibungsdebatte

verfasst von
  • Mareike Hollmann
veröffentlicht 23. Juni 2021

Der Gerichtsprozess um den Memminger Arzt Horst Theissen, der unter anderem der Durchführung illegaler Schwangerschaftsabbrüche in mehreren Fällen angeklagt wurde, bewegte Ende der 1980er Jahre die öffentlichen Gemüter. Insbesondere aufgrund der skandalösen Prozessführung erlangte er als ‚letzter Hexenprozess‘ im Kontext der gesellschaftlichen, politischen und juristischen Debatten um den vor 150 Jahren in das StGB eingeschriebenen § 218 größere Bekanntheit. Theissens Patientinnen wurden öffentlich diffamiert und gedrängt, als Zeuginnen gegen ihn auszusagen.

Essener Frauenhilfe nimmt Stellung

Der Kreisverband der Evangelischen Frauenhilfe in Essen veröffentlichte im März 1989 eine Stellungnahme zum Prozess. In dieser verurteilte er die öffentliche Bloßstellung der betroffenen Frauen und ihrer Familien, die rückwirkende Beurteilung Jahre zurückliegender sozialer, wirtschaftlicher und seelischer Lebenssituationen und die Kriminalisierung der Betroffenen. Zudem verwies die Essener Frauenhilfe auf die diversen und komplexen Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch und forderte mehr Verständnis für Frauen in Schwangerschaftskonflikten, eine bundesweite Verbesserung des Aufklärungs- und Beratungsangebots und die bundesweite Möglichkeit eines ambulanten Abbruchs.1

Die Evangelische Frauenhilfe und die Abtreibungsdebatte
Rechteinhaber*in: AddF
Unterlagen zur Abtreibungsdebatte innerhalb der Evangelische Frauenhilfe in den 1980er Jahren

Dachverband bleibt zurückhaltend

Die Stellungnahme wurde im April 1989 der Mitgliederversammlung der Evangelischen Frauenhilfe in Deutschland (EFHiD) vorgelegt. Diese beauftragte den Vorstand mit der Weiterleitung und dem Aufsetzen eines Rundschreibens zum Memminger Prozess an die Mitgliedsorganisationen, denen daran gelegen war, „selber zu entscheiden, ob und in welcher Weise sie den ausführlichen Brief, die Essener Stellungnahme und evtl. weitere eigene Stellungnahmen ihren Mitgliedern zur Kenntnis geben wollten“.2  Dies weist bereits auf die unterschiedlichen Positionen der einzelnen Mitgliedsverbände zum Thema Schwangerschaftsabbruch hin.

In seinem ausführlichen Schreiben problematisierte der Vorstand der EFHiD neben der öffentlichen Diffamierung der verurteilten Frauen und der damit einhergehenden Verletzung ihrer Würde und Intimrechte vor allem die Notlagenindikation und die Kriminalisierung von Frauen in Schwangerschaftskonflikten. Zudem verwies der Vorstand auf die Beratungsstellen der Frauenhilfsverbände, deren Mitarbeiterinnen betroffene Frauen bei der Entscheidung für oder gegen einen Abbruch begleiteten.

Unveröffentlichte Stimmen

Der Vorstand betonte, der Rundbrief sei „bewußt keine Resolution oder öffentliche Erklärung, sondern eine Einladung zum Nachdenken und zum Gespräch“.3  Tatsächlich existiert der Entwurf einer unveröffentlichten Erklärung des Dachverbandes der EFHiD.4  Angelehnt an die Essener Stellungnahme verurteilt diese Erklärung den Memminger Prozess scharf und beinhaltet explizite Forderungen, während der Rundbrief des Vorstandes deutlich diplomatischer und vorsichtiger formuliert ist.

Überliefert ist die Forderung eines Mitglieds nach einer öffentlichen Erklärung – das verhaltene Rundschreiben werde der Größe und Macht des Verbandes nicht gerecht: „Unser Verband nennt sich immer noch ‚Frauenhilfe‘. […] Solidarität und Hilfe für betroffene Frauen ist nur zu leisten durch öffentliche Einmischung und nicht durch interne vorsichtige Gespräche.“5

Nur wenige Monate nach Prozessende flammte im Zuge der Wiedervereinigung die Debatte um den § 218 erneut auf. Im Archiv der deutschen Frauenbewegung (AddF) sind im Bestand der EFHiD umfangreiche Materialsammlungen mit Korrespondenzen, Entwürfen für gemeinsame Positionspapiere und weiteren Unterlagen zum Streitthema § 218 überliefert.6  Der Bestand der EFHiD wurde im Rahmen eines Teilprojektes des vom BMFSFJ geförderten Digitalen Deutschen Frauenarchivs (DDF) erschlossen und steht jetzt zur Nutzung bereit.

Stand: 23. Juni 2021
Lizenz (Text)

Fußnoten

  • 1Stellungnahme des Kreisverbands der Evangelischen Frauenhilfe in Essen zu den Memminger Prozessen, 15.3.1989, in: AddF, NL-K-34 ; 16-1.
  • 2Brief von Christine Busch an Ursula Keim, 13.10.1989, in: AddF, NL-K-34 ; 231-3; vgl. auch Protokoll der Mitgliederversammlung der EFHiD vom 3.-5.4.1989, in: AddF, NL-K-34 ; 16-2.
  • 3Rundbrief der Vorstände und Mitarbeiterinnen der EFHiD an die Mitgliedsverbände, Mai 1989, in: AddF, NL-K-34 ; 16-2; vgl. auch Protokoll der Mitgliederversammlung der EFHiD vom 3. bis 5. April 1989, ebd.
  • 4Erklärung der EFHiD, in: AddF, NL-K-34 ; 152-1.
  • 5Brief von Ursula Keim an den Vorstand der EFHiD, 1.9.1989, in: AddF, NL-K-34 ; 231-3.
  • 6Vgl. z. B. AddF, NL-K-34 ; 152-2; AddF, NL-K-34 ; 152-3.

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