Aufbruch, Abbruch, Wiederkehr – die Notizen der Gerda M. Meyer

veröffentlicht 21. April 2022

Gerda M. Meyer ist in Berlin geboren, hier wächst sie mit einem jüdischen Vater und einer christlichen Mutter auf. Von 1931 bis 1933 besucht sie die von Alice Salomon gegründete Soziale Frauenschule in Berlin-Schöneberg. Bis 1925 leitet Salomon diese selbst und schafft damit einen Ort moderner Mädchen- und Frauenbildung, der die Professionalisierung der Sozialen Arbeit befördert – sozialreformerisch und interkonfessionell. Auch Gerda M. Meyer absolviert hier die zweijährige Ausbildung und bleibt der Schule ein Leben lang verbunden. 

Einmaliges Zeitzeugnis

In ihrem Tagebuch hält Gerda M. Meyer in biografischen Notizen die Zeitenwende in besonderer Weise fest: Sie schildert die Machtergreifung der Nationalsozialisten, die Verfolgung und Vernichtung ihrer jüdischen Familie wie von Freund*innen, Nachbar*innen – im nationalsozialistischen Sprachgebrauch gilt sie als ,Nichtarierin ersten Grades‘. Die staatliche Anerkennung als Sozialarbeiterin erhält sie 1934 nicht mehr, durch den systematischen Ausschluss der jüdischen Bürger*innen auch keine Anstellung. Mit ihren Notizen gewährt sie ganz persönliche Einblicke in das alltägliche und auch kulturelle Leben Berlins mit Theater- und Kinobesuchen und ihren schwierigen beruflichen Neuanfang als Sozialfürsorgerin nach Ende des Zweiten Weltkriegs. 1945 erhält sie nachträglich die Anerkennung als Fürsorgerin, in Essen baut sie die Jugendgerichtshilfe auf.

In kleinformatigen Taschenkalendern notiert Gerda M. Meyer nahezu täglich ihr wichtige politische, kulturelle und persönliche Anlässe aus den Jahren 1931 bis 1948. Gefunden werden die Tagebücher im Nachlass durch ihre Großnichte Ulrike Cordier, die eine Abschrift erstellt und damit die weitere Bearbeitung und Veröffentlichung als zeithistorisches Dokument ermöglicht.

Aufbruch, Abbruch, Wiederkehr: Tagebuchnotizen einer Absolventin der Sozialen Frauenschule; Alice Salomon Archiv, Berlin 2021, 01:14:22 Min.

So stehen die Tagebuchnotizen, gelesen von Liska Toppe, heute im Zentrum des Films des Alice Salomon Archivs (ASA), mit dem das DDF geförderte Projekt Aufbruch, Abbruch, Wiederkehr: Die Frauenbewegung und die Soziale Arbeit als Frauenberuf 1890–1955 abschließt. Eingebettet sind die Notizen Meyers durch eine Einführung in das Projekt von Prof. Dr. Sabine Toppe, Professorin für Geschichte an der Alice Salomon Hochschule (ASH) und wissenschaftliche Leiterin des ASA. Dr. Adriane Feustel, Historikerin und ASA-Gründerin ordnet die persönlichen Notizen Meyers in den zeitgeschichtlichen Kontext ein und schließt den Bogen zur Entwicklung, Rolle und Bedeutung der Sozialen Frauenschule und Sozialen Arbeit.

Neben den Tagebüchern werden weitere historische Materialien vorgestellt und mit den autobiografischen Notizen und auch späteren Interviewaufnahmen Gerda M. Meyers verknüpft. Mit Blick auf das Projektthema Frauenbewegung und Soziale Arbeit lassen sich drei gemeinsame Phasen benennen: die bürgerliche Frauenbewegung und die Entwicklung Sozialer Arbeit als Frauenberuf in ihren Anfängen, ihr Abbruch im Nationalsozialismus und schließlich der Neuaufbau ab 1945.

Soziale Arbeit im Wandel der Zeit

Der Aufbruch umfasst die Zeit von 1890 bis 1933: Die Mädchen- und Frauenbildung erhält durch die Frauenbewegung einen neuartigen professionellen Aufschwung. In Berlin gründen sich die Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit. Mit ihrer neuen Auffassung sozialer Wohltätigkeit als Sozialer Arbeit sind sie für die Frauenbewegung und die Entwicklung der Sozialen Arbeit als Frauen­beruf wegweisend und programmatisch. In der Zeit des Aufbruchs entwickelt sich auch die Soziale Frauenschule in Berlin-Schöneberg ab 1908 zu einer bedeutenden Institution der Ausbildung von Frauen.

Der Zeitraum 1933 bis 1945 wird als Abbruch festgehalten: Der Nationalsozialismus setzt mit Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Geschichte der Frauenbewegung des 19./20. Jahrhunderts zu­nächst ein Ende. Dieser Projekt­teil thematisiert neben Perspektiven vertriebener und ermordeter Dozentin­nen und Schülerinnen der Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg insbesondere die Rollen von (Mit-)Täterinnen, wie sie in den Akten der Sozialen Frauenschule zu finden sind, mit einem spezifischen Fokus auf jüdische Geschichte.

Auf den Abbruch folgt die Wiederkehr 1945 bis 1955: Nach 1945, in der Zeit des Wiederaufbaus und von Refor­men, waren Frauenausbildungsstätten wie Fürsorgerinnen herausgefordert, sich neu zu organisieren und mit der Vergangenheit umzugehen, auch die Soziale Frauenschule in Berlin-Schöneberg und ihre Absolventinnen.

Bestandschutz durch Restauration und Digitalisierung

Das filmische Porträt von Gerda M. Meyer und ihren Tagebuchnotizen zeigt: Anhand der Frauenausbildungsgeschichte lassen sich grundlegende historische Phasen detailreich nachzeichnen, zudem ist die Geschichte der Sozialen Frauenschule auch eng mit der jüdischen Geschichte verbunden. Und es sind Frauen wie Gerda M. Meyer, die durch ihre Beiträge noch posthum eine differenziertere Sicht auf Geschichte ermöglichen.

Der Film entstand im Rahmen der DDF-Projektförderung zur Digitalisierung von Frauen- und Lesbenbewegungsgeschichte als Abschluss des Projekts Aufbruch, Abbruch, Wiederkehr: Die Frauenbewegung und die Soziale Arbeit als Frauenberuf 1890–1955. Darin beschäftigte sich das Alice Salomon Archiv mit der bürger­lichen Frauenbewegung und ihren Vertreterinnen mit dem Ziel, zentrale und einzigartige historische Dokumente der Entwicklung der Sozialen Arbeit als Frauenberuf mit einem spezi­fischen Fokus auf die Rolle der Frauenbewegung zu erschließen und sie durch Restaurierung und Digitalisierung zu erhalten.

Veröffentlicht werden die Zeitdokumente online im DDF-Portal, begleitet von Themen- und Personenessays zu bedeutsamen Akteurinnen der Frauenbewegungsgeschichte. Gerda M. Meyer (1910–2009) ist eine von ihnen – ihre Erlebnisse und Notizen bleiben so eindrücklich für die Nachwelt erhalten.

Mitwirkende: Filiz Gisa Çakır (Produktionsleitung), Ulrike Cordier (biografische Einführung), Adriane Feustel (historische Rahmung), Robert Schatton (Technik), Liska Toppe (Lesung) Sabine Toppe (Projekteinführung).

Weiterführende Hinweise:

Anlässlich zu 150 Jahren Alice Salomon feiert die Alice Salomon Hochschule dieses Jubiläum mit einem Festakt vom 2. bis zum 5. Mai 2022. Zum Festakt ist eine Anmeldung erforderlich.

Im Abgeordnetenhaus von Berlin findet noch bis zum 2. Mai 2022 eine Ausstellung von DESSA über das Leben und Wirken von Alice Salomon statt. In diesem Rahmen fand auch eine moderierte Gesprächsrunde statt, u.a. mit Dr. Adriane Feustel, Gründerin des Alice Salomon Archivs.

Anfang Mai 2022 erscheint zudem der neue DDF-Podcast Listen to the Archive zum Thema Bilder Sozialer Arbeit. 150 Jahre Alice Salomon mit Hörausschnitten auch aus dem Filmporträt zu Gerda M. Meyer.

Stand: 21. April 2022

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