Alle(s) gleich? Die Kraft aktivistischer Proteste: Gestern. Heute. Morgen.
„Zuschriften mit Forderungen nach besseren grundgesetzlichen Garantien für eine tatsächliche Partizipation von Frauen an allen gesellschaftlichen Bereichen erreichten die Gemeinsame Verfassungskommission waschkörbeweise und konnten einfach nicht ignoriert werden.“
Petra Bläss hebt im Juni 1994 im Bundestag die Bedeutung des aktivistischen Engagements für die Novellierung des Artikel 3 des Grundgesetzes hervor. Der unerschrockene, aktivistische Einsatz von Frauen* und ihren Verbündeten ist es, welchen es heute noch immer zu würdigen gilt. Sie erstreiten den Gleichheitsgrundsatz und setzen ihn gegen harten Widerstand durch. Das DDF feiert anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Reform des Grundgesetzes in den Tagen vom 15. bis 22. November 2024 den Einsatz für Demokratie und Gleichberechtigung.
Körbe voller Protestbriefe
Die oben zitierte Bläss gehört 1989 zu den Mitbegründer*innen des Unabhängigen Frauenverbands (UFV), in dem sich viele Frauengruppen aus der DDR organisieren. 1994 sitzt sie für die PDS im Bundestag. Mit ihrer Wortwahl verbindet sie ihre Gegenwart mit einer anderen entscheidenden Vergangenheitsfolie der Geschichte der Gleichberechtigung: 1948/49 lehnt der männlich dominierte Parlamentarische Rat zweifach die Formulierung „Frauen und Männer sind gleichberechtigt“ für den Entwurf des Grundgesetztes in Westdeutschland ab. Die sozialdemokratische Juristin Elisabeth Selbert aktiviert als Initiatorin des Gleichheitsgrundsatzes in der Folge eine Vielzahl von Frauen* und Unterstützer*innen. Sie verfassen Protestbriefe, die – wie Selbert beschreibt – „in großen Bergen (…) in die Beratungen (…) hineingeschüttet wurden. Körbeweise!“ Das Bild von ,Wäschekörben‘ voller Protestschreiben, die den Widerstand der Männer brechen und die Gleichberechtigung in die Verfassung bringen, ist in der feministischen Bewegung sprichwörtlich geworden.
In der Transformationszeit Anfang der 1990er-Jahre sind es neben Körben voller Briefe vielfältige andere Protestaktionen und großes, vor allem zivilgesellschaftliches Engagement, die starken Druck auf die Verfassungsdebatte für eine wiedervereinigte, deutsche Gesellschaft erzeugen. Die progressiven Änderungen, die schließlich am 15. November 1994 tatsächlich in Kraft treten, gäbe es ohne die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung, die Initiativen für eine neue Verfassung und den Aktivismus von Frauen*gruppen, Behindertenverbänden, Friedensgruppen und Umweltschützer*innen genauso wenig, wie den Artikel 3 Absatz 2 ohne Selberts Protestaktion.
Weitreichende Forderungen
Die Forderungen der Initiativen gehen 1990 bis 1994 allerdings viel weiter als die schließlich erreichten Änderungen. Sie entwickeln zahlreiche mutige und progressive Ideen für eine im Grundgesetz verankerte gerechtere Gestaltung der Gesellschaft. Viele dieser Vorschläge werden – insbesondere von der CDU/CSU – jedoch bekämpft, verhindert und verworfen: Dazu gehört grundlegend der Vorschlag für einen paritätisch besetzten Rat von 100 Personen, in dem zu 50 Prozent Frauen* und neben Politiker*innen auch zentrale Personen aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens gemeinsam eine neue Verfassung verhandeln. Sie fordern aber auch Verfassungsänderungen, die noch heute hochaktuell sind, wie die Aufnahme des Grundrechts auf Wohnen, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, die Aufnahme von Kriterien wie sexueller Identität beim Diskriminierungsverbot (z.B. sind Kriterien wie die sexuelle Identität in bestimmte Gesetze, wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetzt, AGG, eingeflossen, jedoch nicht in Art. 3 GG benannt) und zahlreiche weitere.
Gemeinsame Mobilisierung
Die breite Mobilisierung von Aktion und Protest ist also Anfang der 1990er-Jahre und auch 1949 keinesfalls nur aus dem Gefühl geboren, hinsichtlich der laufenden Überarbeitung des Grundgesetzes mit progressiven Ideen Gehör zu finden. So steht zum Beispiel hinter dem sogenannten FrauenStreik am 8. März 1994 eher der geteilte Frust. Es ist die Wut, die ein breites Bündnis auf die Straße bringt und so den Höhepunkt der gemeinsamen Mobilisierung ost- und westdeutscher Femist*innen initiiert: Etwa eine Millionen Frauen* gehen vor dem Hintergrund der Entscheidung zu § 218, einem drastischen Anstieg der Frauenerwerbslosigkeit, dem Abbau von Sozialleistungen und der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl auf die Straße. Über 100 Fraueninitiativen unterzeichnen einen Aufruf „gegen die Benachteiligung der Frauen in Gesellschaft, Beruf und Familie“.
Es sind Feminist*innen, die die Gemeinsame Verfassungskommission trotz allen Frusts beharrlich auffordern, den Artikel 3 weiterzuentwickeln. Es ist als Erfolg ihres Protestes zu werten, dass 1994 im Bundestag schließlich selbst konservative Politiker die Grundgesetzänderung mittragen, die dem Staat den konkreten Auftrag erteilt, Gleichberechtigung durchzusetzen und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken. Es ist die Behindertenbewegung, zu der auch die Krüppelfrauen gehören, die erfolgreich erkämpft, dass es seit 1994 in Artikel 3 Absatz 3 GG heißt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Es sind zahlreiche Initiativen und Aktivist*innen, die gegen enorme Widerstände in den vergangenen Jahrzehnten weitere Gesetze für mehr Gerechtigkeit und Anerkennung von Vielfalt erkämpft haben, wie zuletzt das Selbstbestimmungsgesetz.
Und auch angesichts von Rechtsruck und Rollback ungekannten Ausmaßes gilt – wie aussichtslos die Lage auch scheint: Nur gemeinsam und unerschrocken laut und aktiv werden, schützt das bereits Erreichte und macht eine gerechtere Gesellschaft möglich!
Dieser Beitrag ist Teil der DDF-Kampagne #unerschrocken und der digitalen Festwoche „Alle(s) gleich? Artikel 3 im Grundgesetz: Gestern. Heute. Morgen.“, eine Kooperation von der Universität der Künste Berlin und dem Digitalen Deutschen Frauenarchiv, gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.