„Wir besetzen heute die Stasi und es wäre schön, wenn Sie mitmachten“

Am 4. Dezember 1989 begann in Erfurt das Ende der DDR-Geheimpolizei. An die Frauen, die an diesem Tag Geschichte machten, erinnert die Erfurter Schriftstellerin Gabriele Stötzer.

Ich erinnere mich noch genau an den frühen Morgen des 4. Dezember 1989 in Erfurt.1  Kurz nach 6 Uhr klingelte es eindringlich an meiner Wohnungstür. Zwei Frauen standen vor mir, die aufgeregt erzählten, was sie seit einem Fernsehbericht gestern Abend aufwühle. In der Berliner Staatssicherheit seien Akten verbrannt worden, obwohl vor dem Tor eine Bürgerwache postiert war. Dass es darum wichtig sei, heute die Erfurter Stasi-Liegenschaft zu besetzen, um wenigstens hier die Vernichtung der Geheimpolizei-Akten zu verhindern. Ich kannte Kerstin Schön und Sabine Fabian aus der Erfurter Frauenbewegung. 

An diesem Morgen nun erklärten mir die beiden Frauen, wie sie sich eine Besetzung vorstellten – verblüffend einfach organisiert und überzeugend geregelt. Um ein friedliches Vorgehen zu gewährleisten, müsse man zuerst im Rathaus den Bürgermeister um Unterstützung bitten, dann den Bezirksrat der Sozialistischen Einheitspartei SED überzeugen, danach die Presse benachrichtigen und schließlich zum Staatsanwalt. Dies einerseits um die Stasi wegen Vernichtung von Volkseigentum anzuzeigen und andererseits, um dafür zu sorgen, nicht selber kriminalisiert zu werden. 

„Komm du auch“

In diesem Plan lag viel Utopie, aber auch so viel Klarheit und Entschiedenheit, dass ich zustimmte. Schnell berieten wir, wer noch einbezogen werden könnte. Für uns infrage kamen Menschen aus der Frauen- und alternativen Bewegung, der Kirche, aus Betrieben, Buchhandlungen, Museen und aus den zwei neuen Bürgerbewegungen Neues Forum und Demokratischer Aufbruch. Sie sollten dazu aufgerufen werden, umgehend zum Gebäude der Staatssicherheit aufzubrechen und es mit zu umstellen.

Sabine und Kerstin besaßen beide einen Trabant und hatten gerade ihre Kinder in die Schule gebracht. Sabine arbeitete als stellvertretende Bauleiterin zur Umgestaltung der Domplatzbibliothek und stand mit Erfurter Großbetrieben in Kontakt. Sie brach zur Bibliothek am Domplatz auf, vom dort vorhandenen Telefon aus rief sie alle anderen Bibliotheken und Buchhandlungen in Erfurt an. Anschließend fuhr sie allein in mehrere Betriebe.

Kerstin und ich fuhren zu Tely Büchner aus unserer Künstlerinnengruppe. Kerstin erklärte Tely ohne Umschweife ihren Plan, heute die Stasi zu besetzen. Obwohl sie schwanger war, war sie umgehend bereit, uns zu begleiten. Um die Ecke lebte Claudia Bogenhardt von der Erfurter Frauengruppe Autonome Brennesseln. Ich suchte sie auf, als sie gerade ihre drei kleinen Kinder fütterte. Schnell organisierte sie eine Kinderbetreuung aus der Nachbarschaft und kam ebenfalls mit. 

Nächste Station war Almuth Falcke, sie hatte sich in den letzten Monaten bei der Organisation von Frauengruppen besonders engagiert. Die Treffen zur Gründung eines alternativen Frauenverbandes der DDR fanden in ihrem Haus statt. Auch dort gab es ein Telefon, von dem aus Kerstin beim Bürgermeister, dem Rat des Bezirkes der SED, der Landesszeitung Das Volk und beim Staatsanwalt anrief. Auch den Mitbegründer des Erfurter Neuen Forums, Manfred Ruge, erreichte sie telefonisch und bat ihn eindringlich: „Komm du auch ins Rathaus!"

Einsatz ohne Zögern

Es war kurz nach 7. Ich rief einzelne Frauen auf ihren Arbeitsstellen an und forderte sie auf, unabhängig von uns zur Bezirkszentrale der Stasi in der Andreasstraße aufzubrechen, gleich die ersten drei antworteten mit einem selbstbewussten Ja. Das waren Monique Förster bei der Sozialfürsorge und Elisabeth Kaufhold an ihrer Arbeitsstelle in der Poliklinik Mitte. Da ihr einige Patienten abgesagt hatten, brach sie sofort zur Andreasstraße auf und gehörte mit zu den ersten, die sich dort versammelten. Dann die Künstlerin Verena Kyselka, die zu Hause über ein eigenes Telefon verfügte (was damals selten war), ich bat sie, dort zu bleiben und zu warten, falls wir in Gefahr geraten und Hilfe benötigen sollten.

Almuth Falcke rief ihrerseits kirchliche Einrichtungen wie die Predigerschule an, deren Leiter, Pfarrer Lippold, sofort seine Mitarbeiterbesprechung absagte und sein Team und seine Studierenden zur Andreasstraße beorderte. Auch Almuth Falcke und ihr Mann fuhren mit ihrem Auto dorthin und blockierten den Hinterausgang des Geländes des Ministeriums für Staatssicherheit. Es sollte nicht lange dauern, dann kamen als Unterstützer Mitarbeiter aus Stadtreinigung und Verkehrsbetrieben dazu, die halfen, die Ausfahrt zu blockieren. Denn Sabine Fabian war mit ihrem Trabbi auch dorthin gefahren und hatte auch dort ihren immergleichen Satz gesagt, den man das Mantra der Stasibesetzung nennen könnte: „Wir besetzen heute die Stasi und es wäre schön, wenn Sie mitmachten.“

Der 4. Dezember 1989 in Erfurt lief so ab, dass niemand zu keiner Sekunde vorhersagen konnte, was in der nächsten Minute passiert. Ausgangspunkt war der spontane Plan von Kerstin. Und dann handelten wir mit unglaublicher Entschlossenheit und Intuition – in dem Wissen, dass wir nur diese eine Chance besaßen, just in diesem historischen Moment. 
Die Macht der Frauen an diesem Tag sollte vielfältige Folgewirkungen haben. In Erfurt wurden nicht nur das Bezirksgebäude, die Kreisdienststelle und eine Stasi-Villa in der Essbachstraße besetzt. Immer neue Gruppen von BürgerInnen setzten sich in Bewegung, um neue Plätze zu sichten und dort noch vorhandene Stasi-Unterlagen sicherzustellen. DDR-weit folgten Menschen dem Erfurter Beispiel, bis zum Abend des 4. Dezembers wurden unter anderem in Leipzig, Rostock, Gotha und Suhl Stasizentralen besetzt. Ein umfassender Teil der in der DDR angefertigten Geheimakten konnte durch das von Erfurt ausgehende Signal vor der angeordneten Vernichtung gerettet werden.

Die ausführliche Reportage ist unter dem Titel „Für Angst blieb keine Zeit“ nachzulesen bei der Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/stasi/261039/fuer-angst-blieb-keine-zeit.

Stand: 17. Februar 2020
Lizenz (Text)
Verfasst von
Gabriele Stötzer

Schriftstellerin und Künstlerin aus Erfurt

Empfohlene Zitierweise
Gabriele Stötzer (2020): „Wir besetzen heute die Stasi und es wäre schön, wenn Sie mitmachten“, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/30-jahre-geteilter-feminismus/wir-besetzen-heute-die-stasi-und-es-waere-schoen
Zuletzt besucht am: 24.04.2024
Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
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