„Wie zwei Züge, die aufeinander zurasen“

Was dachten Ost- und Westfrauen übereinander, worin lagen Gemeinsamkeiten oder Differenzen? Im zweiten Teil des Gesprächs erinnern sich Christian Schenk, UFV-Mitgründer und MdB a.D., und Ilona Bubeck, Aktivistin und Verlegerin, im Berliner Spinnboden an feministische Aufeinandertreffen 1990.

Mit dem UFV habt ihr eine Struktur geschaffen, um zur DDR-Volkskammerwahl am 18. März 1990 anzutreten.

Christian: Ja, der UFV war eine Politische Vereinigung im Sinne des neuen Wahlgesetzes der DDR und trat im Wahlbündnis mit der Grünen Partei der DDR an. Ich kann mich noch erinnern, dass wir uns bei den Verhandlungen über die Verteilung der Listenplätze über den Tisch haben ziehen lassen. Die Liste war nicht alternierend besetzt, sondern die Grünen haben gesagt, wir nehmen die ersten beiden, ihr kriegt alle folgenden. Jedenfalls ist der UFV damals aus dieser Wahl ohne Platz rausgegangen, da nur einer gewonnen wurde. Nach dieser Wahl war klar, dass die DDR im Westen aufgehen oder eben okkupiert wird. All unsere Konzepte, so auch die Sozialcharta, spielten keine Rolle mehr. Mit der Regelung des Vereins- und Wahlgesetztes, der Sozialcharta oder eben auch des Ministeriums für Gleichstellung haben wir eine Art Konzept versucht, für das, was vielleicht kommt. Wir wollten vorbereitet sein. Aber es kam anders, als wir gehofft hatten. 

Christian Schenk (re.) auf der Pressekonferenz der Bürgerbewegungen und Grünen Ost und West, 15.10.1990. Von rechts: Christina Schenk (UFV), Friedrich Heilmann (Grüne Ost), Kathrin Menge (Initiative Frieden und Menschenrechte), Konrad Weiß (Demokratie Jetzt), Klaus Wolfram (Neues Forum), Christian Ströbele (Grüne West).
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Christian Schenk (re.) auf der Pressekonferenz der Bürgerbewegungen und Grünen Ost und West, 15.10.1990. Von rechts: Christina Schenk (UFV), Friedrich Heilmann (Grüne Ost), Kathrin Menge (Initiative Frieden und Menschenrechte), Konrad Weiß (Demokratie Jetzt), Klaus Wolfram (Neues Forum), Christian Ströbele (Grüne West).

Trotz des ernüchternden Wahlausgangs seid ihr aktiv geblieben und habt bereits im April 1990 zu einem ersten Ost-West-Frauenkongress in der Berliner Dynamo-Sporthalle aufgerufen. 

Christian: Ja, der Ost-West-Kongress war der Versuch, miteinander ins Gespräch zu kommen und irgendwie zusammen was zu finden oder auch zu gründen. Ich glaube – ich weiß gar nicht, ob ich jemanden zitiere oder ob ich das gesagt habe –, das war, als ob zwei Züge aufeinander zurasen. Peng, bumm. Dort begegnete mir auch Alice Schwarzer zum ersten Mal.  „Bloß keine Staatsknete“, meinte sie. Diesen Satz habe ich als frech und anmaßend empfunden.  Vor der Wahl haben die Bürgerrechtsbewegungen vom Staat ziemlich viel Geld erhalten, als Nachteilsausgleich für den Wahlkampf. Wir als UFV bekamen für diesen 1 Million Mark. Und da kommt diese Frau an und sagt „keine Staatsknete“. Sie hatte vom Osten ganz offensichtlich keine Ahnung, wie leider viele andere Westfrauen auch. Ja, wir haben uns dort größtenteils einfach nicht verstanden. Wir kamen ja auch aus ziemlich verschiedenen Gesellschaften. Hinzu kam, dass wir einfach mehr über den Westen wussten als die meisten Westfrauen über den Osten. Es gab aber auch Ausnahmen. Christina Thürmer-Rohr zum Beispiel. Sie hatte kurz nach der Wende Kontakt zu Frauen aus der Oppositionsbewegung der DDR aufgenommen, so auch zu uns im UFV. 

Ilona: „Bloß keine Staatsknete“ – bei uns war das halt eine Parole, aber aus anderen Gründen. Die Zeit der Frauenzentren, die Anfang der 90er im Osten gegründet wurden, hatten wir in den 70ern und 80ern. Wir hatten über 30 Frauenbuchläden im Westen. Das haben wir Gegenkultur genannt. Und es war unglaublich wichtig, nicht Staatsknete zu nehmen, davon komplett unabhängig zu sein. Wir haben uns natürlich ohne Ende ausgebeutet. Aber das war die Politik der autonomen Frauenbewegung, die sich nicht staatlich oder von einer Partei vereinnahmen lassen wollte. Im Gegenteil, wir wollten kritisch gegenüber dem Staat bleiben, der nicht unseren Vorstellungen entsprach. Wir haben viele Veranstaltungen gemacht und sind, wenn es noch ging, auf Demos gegangen. Als ich in den 80ern noch in Nürnberg gewohnt habe, war ich unter anderem viel auf Hausbesetzungsdemos, denn es gab genügend Leerstand, aber nicht genügend bezahlbare Räume, schon gar nicht für feministische Projekte.

Christian: Das war natürlich im Osten ganz anders. 

Demonstration gegen den 2. Golfkrieg im Winter 1990/91 (vermutlich) in Berlin mit (v.l.n.r.): Ika Hügel, Ilona Bubeck, Ursula Wachendorfer, Birgit Rommelspacher, Claudia Schoppmann.
Dagmar Schultz
Demonstration gegen den 2. Golfkrieg im Winter 1990/91 (vermutlich) in Berlin mit (v.l.n.r.): Ika Hügel, Ilona Bubeck, Ursula Wachendorfer, Birgit Rommelspacher, Claudia Schoppmann.

Der UFV hat den Kongress mitorganisiert. Gab es Kontakte zu westdeutschen Frauenverbänden?

Christian: Eher weniger. Der Frauenrat war Thema. Der hat einfach eine Dependance im Osten aufgebaut, ohne mit uns Kontakt aufzunehmen. Sie haben an die staatliche Frauenorganisation der DDR, den DFD, angedockt. Der UFV wurde völlig ignoriert, während eine westdeutsche Organisation jetzt auch die Vertretung im Osten übernimmt. Ich weiß noch, dass wir uns darüber aufgeregt haben.

Ilona: Ja, die institutionalisierten Frauenorganisationen waren auch im Westen aus Sicht der autonomen Frauenbewegung alle konservativ. Das verstehe ich sehr gut. 

Christian: Den Kongress fand ich mit all den Fraueninitiativen und Feminist*innen aus Ost und West zwar interessant, aber irgendwie war mir klar: Das wird nichts gemeinsam. Die haben ihren Westen und machen dort ihr Ding und wir sind bei uns mit ganz anderen Bedingungen. Es war interessant, sich das mal anzuhören. Aber das war es dann auch und hatte mit unserem Leben nichts zu tun, zumindest damals um 1990 noch nicht.

Ilona: Ja, wahrscheinlich. Ich wusste über den Osten auch nichts und war ja auch auf keinem Ost-West-Kongress. Das wäre mir vielleicht auch zu staatstragend gewesen. Ich war einfach in anderen Zusammenhängen, aber total neugierig.

Hast du diese Neugierde dem Osten gegenüber auch in der westdeutschen Frauenbewegung wahrgenommen? 

Ilona: Es kann schon sein, dass der Westen über den Osten gedacht hat, die sind alle keine Feministinnen, weil es ja angeblich keine Frauenbewegung gab. Da drückt sich auch eine Überheblichkeit des Kapitalismus gegenüber dem Osten genauso in der Frauenbewegung aus. Es ist aber interessant, dass wir das von der DDR so richtig gar nicht wussten. Das haben wir tatsächlich durch die Wende erfahren, was die Frauen für Rechte hatten und wieder einbüßen sollten. Deswegen war ich total erstaunt. Ich hätte mir kein Urteil über die DDR erlauben wollen. Was ich so ein bisschen gehofft habe ist, mehr Lesben* wie dich damals zu treffen, die links und feministisch sind. Etwas, wovon ich aus dem Westen lernen kann. Ihr seid damit ganz anders groß geworden und habt auch einen kritischen Blick auf die DDR.

Kongress des Unabhängigen Frauenverbandes am 10.3.1991 in Leipzig. Für die Rechte der Frauen wollen sie sich politisch einsetzen (v.l.n.r.): Cornelia Matzke (Landtagsabgeordnete aus Sachsen), Jeanny Hoffmann (UFV Leipzig), Martina Körzendörfer (UFV Berlin) und Christian Schenk (Bundestagsabgeordneter Bündnis 90/Grüne).
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Kongress des Unabhängigen Frauenverbandes am 10.3.1991 in Leipzig. Für die Rechte der Frauen wollen sie sich politisch einsetzen (v.l.n.r.): Cornelia Matzke (Landtagsabgeordnete aus Sachsen), Jeanny Hoffmann (UFV Leipzig), Marinka Körzendörfer (UFV Berlin) und Christian Schenk (Bundestagsabgeordneter Bündnis 90/Grüne).

Für dich gab es also eine ostdeutsche Frauenbewegung?

Ilona: Ja, schon. Als Lesbenbewegung. Das waren alles Lesben, die ich getroffen habe, die Gruppen in Leipzig und anderen Städten. Durch die Verlagsarbeit hatte ich das Glück, mit ihnen Kontakt zu haben. Ich kam ja auch eher aus kleineren Städten. Berlin war für mich immer unglaublich cool, unfreundlich und arrogant. Vielleicht habe ich die kleineren Städte der DDR auch deswegen so gemocht, weil ich das Gefühl hatte, etwas aus meiner Nürnberger Zeit wiederzuerkennen. Du kommst an und es gibt erstmal Schnittchen, Kaffee und Tee. Wir haben Lesungen gemacht, Diskussionen und danach Partys. Das war sehr intensiv. Ich weiß noch, beim ersten Mal war Laura Mérrit mit einer Kiste voller Sex Toys dabei und schmiss die durch die Gegend. 

Christian: Lesben aus dem Westen, die dann in Leipzig, Dresden oder anderswo im Osten studiert haben, begannen an den Unis nach Lesben zu suchen. Obwohl es Aushänge gab zu Lesbentreffen, konnten sie sie aber nicht sehen, nicht finden. Es gab in der DDR keinen Dresscode. Lesben sahen einfach wie alle anderen Frauen auch aus. Ich fand das lustig, weil die Westfrauen meinten: „Hier sind keine Lesben!“

Gab es zwischen Ost- und West-Frauenbewegungen Streit oder Differenzen? Wie habt ihr dies erlebt?

Christian: Es gab schon ziemlich grundlegende Differenzen. Vor allem in der Männerfrage oder in Fragen der Gleichstellung oder Frauenförderung. Letztere hatte für uns immer den Anstrich, dass da hilfebedürftigen und machtlosen Frauen geholfen werden solle. Das war nicht unser Ansatz. Nicht Frauen waren das Problem, sondern patriarchale Machtstrukturen.  Das zeigte sich auch an anderen Bezeichnungen: Gab es im Westen Frauenbeauftragte, waren es im Osten Gleichstellungsbeauftragte. Eine heikle Diskussion. Ich denke, dass das aus diesem anderen Geschlechterverhältnis kommt. Deswegen auch das Unverständnis angesichts der aggressiven Sprüche an der Hauswand, die mich im ersten Moment so erschreckt haben.

Ilona: Das Verrückte ist, dass es in meinen Zusammenkünften gar nicht diese Kontroversen gab. Und ich hatte ja schon mit einigen Frauen richtig enge Kontakte. Aber ich glaube, die waren so mit ihrem Aufbruch beschäftigt und mit ihren Projektegründungen. Ich kann mich nicht an Streit erinnern. Ich wurde auch viel nach der West-Frauenbewegung gefragt. Wir haben uns gegenseitig informiert und ausgefragt. Was schon sehr anders war, war das Treffen unter dem Dach der Kirche. Auch weil keine absolute Trennung zu den schwulen Männern bestand. Ich galt bei vielen meiner Westfreundinnen als absolute Verräterin, als ich später mit einem Schwulen einen Verlag gemacht habe. Das haben die Frauen aus dem Osten gar nicht verstanden.

Christian: In Berlin gab es diese Trennung allerdings auch, aber erst nach einem gemeinsamen Beginn. Da wurde dann irgendwann festgestellt, die Typen reden über andere Sachen, außerdem zu viel. Aber es gab immer eine Zusammenarbeit aller Lesben- und Schwulengruppen unter dem Dach der Kirche. Es gab dann ein- oder zweimal im Jahr solche Vernetzungstreffen. 

Ilona: Aber es war halt nicht der Feind.  

Christian: Genau, es war nicht der Feind. 

CSD Anfang der 90iger im Ostteil Berlins. Ilona Bubeck (am Mikrofon) hält eine Rede zu Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus.
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CSD Anfang der 90iger im Ostteil Berlins. Ilona Bubeck (am Mikrofon) hält eine Rede zu Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus.

Die euch bekannten Journalistinnen Ulrike Helwerth und Gislinde Schwarz blickten in einer Studie von 1995 auf das Aufeinandertreffen der Frauenbewegungen. Dafür sprachen sie mit Feministinnen aus Ost und West. Habt ihr euch als feministisch verstanden? 

Ilona: Ja, als Feministin. Heute ist das ja für viele junge Frauen ein negativer Begriff, dann sind sie vielleicht queer-feministisch. Aber wir waren damals ganz im Gegenteil sehr stolz darauf. Wir haben uns zum Teil auch von Schwarzer abgegrenzt, weil die sich ja gerne in den Medien als die Vertreterin aller Feministinnen zeigte. Sie hat in vieler Hinsicht auch gute Sachen gemacht, keine Frage. Aber sie war weder unsere Vertretung noch unsere Sprecherin. Ich erinnere mich, dass wir die EMMA in den 80ern in den Frauenbuchläden sogar teilweise boykottiert haben. Die Courage war eher die Zeitung der autonomen Frauenbewegung.

Christian: Mit der EMMA kam sie aber im Osten auch nicht durch. Das war vielen von uns zu simpel. Ich habe das Blatt durchaus als ein Mittel der Ermutigung verstanden, das war aber für uns nicht der entscheidende Punkt. Wir waren feministisch. Dazu gab es aus unserer Sicht gar keine Alternative. In Bezug auf die formalen Rechte gab es auch in der DDR kaum noch Unterschiede. Uns ging es mit unserem Mann-Frau-Gleichstellungsansatz um die Strukturen. 

Der vollständige Buchtitel lautet „Von Muttis und Emanzen. Feministinnen in Ost- und Westdeutschland“. Gab es für euch diese gegenseitigen Vorurteile, auf die der Titel anspielt?

Ilona: Der Titel hat sicher negatives Feedback erzeugt. Ich finde ihn ganz furchtbar. Falls sie damit provozieren wollten, verstehe ich das nicht. Gislinde Schwarz und Ulrike Helwerth waren und sind beide anerkannte und geschätzte Journalistinnen. Ulrike kenne ich noch ganz gut von damals. Leider ist auch Ironie auf einem Buchdeckel nicht gut zu verstehen. Mich hat es auch damals als es rauskam schon abgeschreckt. Ich finde das so diffamierend. Also, selbst mich ärgert das total. Aber wie ich schon meinte, ich kann mir diesen Blick vom Westen vorstellen, weil teils davon ausgegangen wurde, dass es weder Feministinnen noch eine Frauenbewegung im Osten gab.

Christian: Ja, wir haben vom UFV auch sehr gut mit Ulrike Helwerth zusammengearbeitet. Vielleicht waren wir nicht immer einer Meinung, aber es kamen viele Frauen gut mit ihr klar. Aber Mutti, das war ja für uns eher ein Schimpfwort, für Frauen, die politisch nicht durchblicken. Das hätte ich ja genau andersherum verstanden. Emanze ist da weniger negativ besetzt, aber auch ungebräuchlich. Wir fragten uns, was damit gemeint sein sollte. 

Ilona: Na, als Emanze wurde man im Westen von den Männern beschimpft. Und deswegen wollten auch viele Frauen keine Emanzen und Feministinnen sein. Aber das haben wir umgekehrt und etwas Positives daraus gemacht. Du bist emanzipiert und du brauchst keinen, du lässt dir nix von Männern gefallen, bist schwierig, bist anstrengend. Feministinnen waren ja immer schwierig und Emanzen erst recht nervig und anstrengend. Aber es macht mich traurig, dass ich das bei jungen Frauen auch wieder erlebe, dass sie das nicht sein wollen. Ich frage mich, was daran so schlimm ist. Wir haben es halt umgedreht, mich hätte jeder als Emanze beschimpfen können.  

Christian: Na, das waren ja letztendlich alle in der DDR oder fast alle. Die hatten alle ihren Job, die waren weg, wenn man sie nicht ordentlich behandelt hatte. Wenn von vornherein Sachen klar sind, die du hast, die du dir nicht erkämpfen musstest wie das Recht auf Arbeit oder die gleichberechtigte Stellung in der Familie dann passt ja der Begriff Emanze nicht. Im Westen war das Familienrecht ungebrochen übernommen. Das Familienrecht im BGB war in der DDR so ziemlich das erste, was 1950/51 außer Kraft gesetzt und durch ein modernes Familienrecht ersetzt wurde. Es war vollkommen klar, dass der Mann nicht das Recht hatte, der Frau das Arbeiten zu verbieten oder dass er in der Familie das Bestimmungsrecht hatte. Das ging auf die sozialdemokratische Tradition von Clara Zetkin, August Bebel und Rosa Luxemburg zurück. Das ist eine Sache, die mich auch ärgert, dass man sagt, die DDR brauchte ja bloß die Arbeitskraft der Frauen. Das hatte eine viel tiefere kulturelle Basierung. Insofern, glaube ich, hat man einfach gemacht, was man schon vorher in den 20er, 30er Jahren verkündet hatte. 

Aber ich merke, gerade der Mutti-Begriff ist doch stark behaftet. 

Ilona: Ja, wie gesagt, über den Verlag und auch die Leipziger Buchmesse habe ich lauter tolle, starke Lesben kennengelernt. Mit den Projektgründungen hatten sie einen ähnlichen Aufbruch wie wir ab den 70ern. Allein die Angelikastraße in Dresden. Ich war beeindruckt, wie sich die Frauen so eine alte Stasivilla unter den Nagel gerissen haben. Kein Westfrauen-Zentrum hatte so ein tolles Haus. Ingrid Ewald in Leipzig hat über Jahre Unmengen an Büchern gesammelt. Schon zu DDR-Zeiten hatte sie einen heimlichen Frauenbuchladen. Eine meiner schönsten Erinnerungen ist, wie Ingrid nach Berlin zu Orlanda kam. Ich gucke zum Fenster raus, da kommt so ein kleiner Trabi und vier Frauen steigen aus. Und ich habe einen Waschkorb voll mit Büchern mitgegeben und bin selbst oft nach Leipzig gefahren. Es sind wirklich enge Freundschaften entstanden. Deswegen rege ich mich, glaube ich, über dieses Mutti so auf. Das waren für mich einfach starke Frauen, von denen ich viel erfahren wollte. Für mich war das auch kein Ost-West-Thema. Eher hatte ich was wiedergefunden, das ich selber auch mal erlebt hab und dachte, großartig, ihr macht das alles im Schnelldurchlauf, was bei uns ja Jahre gedauert hat. Ich habe aber auch gemerkt, die Frauen gehen anders vor, weil sie nicht dieses Problem mit Staatsknete hatten. Sie stellen Forderungen, sie wollten was. Und ja, damit sind auch zwei unterschiedliche Systeme aufeinandergeprallt. Aber letztendlich halte ich an meiner Hoffnung fest, dass man ja etwas voneinander lernen oder mitbekommen kann.

Welche Folgen hatten Wirtschafts- und Sozialunion für die Frauen? Welche Themen bewegten Feminist*innen im Zuge der deutschen Einheit? Was konnten Ost- und Westfrauen voneinander lernen?

Zum nächsten Teil des Interviews: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de

Christian Schenk: Geboren 1952 in Thüringen absolvierte Schenk sein Diplom-Physik-Studium an der Berliner Humboldt-Universität. Seit den frühen 80er Jahren engagierte er sich – damals noch als Christina Schenk – in der Oppositionsbewegung unter dem Dach der evangelischen Kirche der DDR (Lesbengruppe Berlin), im Herbst 1989 war er Mitbegründer des UFV und dessen Vertreter am Zentralen Runden Tisch der DDR, in dessen Arbeitsgruppe Gleichstellung von Frau und Mann er den Vorsitz inne hatte. Am 2. Dezember 1990 wurde Schenk als Vertreter des UFV über die Listenverbindung der Bürgerbewegungen (Bündnis 90/Grüne – BürgerInnenbewegungen) in den Bundestag gewählt, dem von 1994 bis 2002 parteilos angehörte. Als Bundestagsabgeordneter übernahm er zahlreiche Leitungsfunktionen zu familien- und queerpolitischen Themen, zuletzt als familien- sowie lesben- und schwulenpolitische Sprecher der PDS-Fraktion. Seitdem widmet sich Christian Schenk der Politikberatung sowie Forschungs- und Vortragstätigkeiten im Bereich Geschlechterforschung und Diversity-Politik.

Ilona Bubeck: Geboren 1951 auf der Schwäbischen Alb zog es Ilona zum Studium der Sozialpädagogik nach Nürnberg, wo sie 1979 den ersten Nürnberger Frauenbuchladen mitbegründete. Seit den späten 80er Jahren lebte Bubeck in/nahe Berlin und ist seitdem in zahlreichen linken, feministischen, antikapitalistischen Netzwerken aktiv. Von 1988 bis 1994 ist Ilona Bubeck als Herausgeberin und Mitarbeiterin im Orlanda Frauenverlag aktiv, der mit wichtigen Publikationen von u.a. May Ayim oder Audre Lorde insbesondere gegen rassistische und sexistische Diskriminierungen arbeitet. 1995 gründete sie gemeinsam mit Jim Baker den Querverlag, Deutschlands ersten lesbisch-schwuler Verlag und bis heute auch der größte queere Buchverlag im deutschsprachigen Raum. Als Verlegerin und Herausgeberin zahlreicher Anthologien und Sachbücher begleitet und gestaltet Ilona Bubeck damit aktuelle politische, queer-feministische Diskurse. 

Wir bedanken uns sehr für die Unterstützung beim Spinnboden Lesbenarchiv & Bibliothek e.V.!

Stand: 07. Mai 2020
Lizenz (Text)
Verfasst von
Steff Urgast

Mitarbeiterin im Digitalen Deutschen Frauenarchiv

Empfohlene Zitierweise
Steff Urgast (2020): „Wie zwei Züge, die aufeinander zurasen“, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
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