Was heißt hier deutsch?

Mit der Einheit gestaltete sich auch die Situation der Frauenorganisationen bundesweit neu. Eine kurze Ost-West-Geschichte des Deutschen Frauenrats von Ulrike Helwerth

Der Deutsche Frauenrat nennt sich die größte Frauenlobby in diesem Land – und das zu Recht. Denn er vertritt rund 60 bundesweit aktive Frauenorganisationen, die nach unseren jüngsten Ermittlungen zusammen rund 12 Millionen Einzelmitglieder zählen. Doch was heißt „deutsch“? Es gibt immer wieder mehr oder weniger kritische Feststellungen, dass der DF zu „westdeutsch“ sei, ihm eine „ostdeutsche Perspektive“ fehle.  Das sagen heute besonders auch Frauen, die (kleine) Kinder waren, als die Mauer fiel, die also die DDR kaum oder gar nicht aus persönlichem Erleben kennen, aber aus Familien mit ostdeutscher Biografie stammen. 

Fakt ist: Der DF hat eine westdeutsche Historie. Gegründet wurde er 1951 als „Informationsdienst für Frauenfragen e.V.“ von Vertreterinnen aus 14 Frauenverbänden in den Sektoren der Westalliierten. Zweck des Vereins war, eine qualifizierte Öffentlichkeit über Gesetzesinitiativen der Bundesregierung und andere frauenpolitisch relevante Ereignisse zu unterrichten. So entstand die Publikation Informationen für die Frau zunächst als monatlicher Nachrichtendienst. Ideell und materiell unterstützt wurde das Projekt von der Frauenabteilung der US-amerikanischen Militärregierung, die in der staatsbürgerlichen Bildung von Frauen einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung, der „Reeducation“, der jungen Bundesrepublik sah. Die Zeitschrift Informationen für die Frau – aus dem später das 2-Monatsmagazin FrauenRat wurde, das bis 2015 erschien –war eine wichtige Plattform für aktuelle frauenpolitische Fragestellungen und blieb es über viele Jahrzehnte.

Völlig fremde Sprachen

Kontakte des DF zu organisierten Frauen in der DDR gab es bis 1989 selten. Doch gab es einige Mitgliedsverbände, die aufgrund ihrer speziellen Geschichte schon lange einen kontinuierlichen Austausch mit „drüben“ hatten. Zu ihnen zählten vor allem der Deutsche Landfrauenverband und verschiedene katholische und evangelische Verbände. Im April 1989 trafen sich zum ersten Mal organisierte Frauen aus Ost und West in Bad Neuenahr in der Nähe von Köln. Der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung standen damals noch in den Sternen. Irmgard Jalowy, spätere Vorsitzende des DF, erinnerte sich Jahre später an dieses Treffen: Grundsätzliche Anliegen wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten von Frauen hätten beide Seiten geteilt, aber es hätte auch „eine Reihe gravierender Unterschiede“ gegeben. „Wir kannten unsere gegenseitigen Lebensumstände überhaupt nicht. Der größte Unterschied bestand nach meinem Empfinden in der Sprache. Es war, als würden wir völlig fremde Sprachen sprechen.“1  

Dieses Phänomen der „völlig fremden Sprachen“ wird die Frauenverbände und -bewegungen in den Jahren der Annäherung und Vereinigung lange begleiten. Aber noch steht dieser Prozess am Anfang. Der DF macht sich gleich nach Mauerfall auf den Weg, um bei den „Schwestern“ im Osten als Lobby der Frauen vorstellig zu werden und sie für die nun gemeinsame Sache zu mobilisieren. Themen einer Serie von Ost-West-Seminaren, gefördert durch die Bundesregierung sind: „Mauer weg – was nun?“, „Sozialpolitik im Vergleich BRD/DDR“ oder „EG und die Frauen“. Im Juni 1991 bricht eine Delegation aus DF-Vorstandsfrauen und Geschäftsführerin zu einer Info-Tour in die neuen Bundesländer auf. Mitten in Dresden, Chemnitz, Erfurt, Jena, Gera, Leipzig, Halle und Magdeburg – und unterstützt von den dortigen Gleichstellungsbeauftragten – parken sie ihren Kleinbus, stellen einen Informationstisch und eine Lautsprecheranlage auf, reden mit den Passant*innen und verteilen Infomaterial über den DF.  

Verbindungsbüros

Das von der Bundesregierung aufgelegte Sonderprogramm „Aufbau und Förderung von Frauenverbänden, Frauengruppen und -initiativen in den neuen Bundesländern“ ermöglicht dem DF von Februar 1992 bis Dezember 1995 das Projekt „Verbindungsbüros“. In jedem der fünf neuen Länder plus Berlin wird eine Kontaktstelle eingerichtet, die den Aufbau von Frauenverbandsstrukturen fördern soll. Jede dieser Kontaktstellen ist mit einem „Ost-West-Tandem“ besetzt. „Ohne die Einbeziehung der gesellschaftspolitischen Vorarbeit im vorparlamentarischen Raum bliebe die parlamentarische Arbeit ein rein legislativ-normatives Unterfangen ohne Bezug zu den Lebensräumen und den Erfahrungsschätzen der Menschen!“2 So umschreibt Irmgard Jalowy, damals DF-Vorsitzende, später die Aufgabe der Verbindungsbüros. Was diese Kontaktstellen den Frauen im Osten und der Verbandsarbeit des DF letztendlich gebracht haben, dazu formuliert Dorotea Lieber, erstes DF-Vorstandsmitglied mit DDR-Hintergrund, später vorsichtig: „Der Prozess des gegenseitigen Wahrnehmens und Geltenlassens unterschiedlich gelebter Leben ist lange noch nicht abgeschlossen.“3  

Die Ost-West-Zusammenarbeit bleibt im DF weiter Thema, auch wenn deutlich wird, dass sich Frauenverbandsarbeit à la Westdeutschland nicht auf den Osten übertragen lässt. Zu unterschiedlich ist die politische Geschichte der beiden Staaten, zu weit gehen die Erfahrungen mit Emanzipation und Gleichberechtigung, mit zivilgesellschaftlichem Engagement auseinander, zu drückend sind ökonomische und soziale Probleme für Frauen nach der Wende im Osten. 

Ostfrauen auf DF-Führungsebene

Zwei Ostverbände traten dem DF in den Neunzigerjahren bei: 1992 die Gruppe „Frauenarbeitslosigkeit des Arbeitslosenverbandes Deutschland“, die heute nicht mehr existiert. Und so bleibt der Demokratische Frauenbund (dfb) der einzige Mitgliedsverband, der aus der DDR stammt und der bis heute nur in Ostdeutschland verwurzelt ist. Der dfb gründete sich 1990 aus dem Demokratischen Frauenbund Deutschland (DFD), der staatlichen Frauenorganisation der DDR. Er wurde 1993 in den DF aufgenommen – nach einer Anhörung durch die Mitgliederversammlung, wie sie es vorher nie gegeben hatte. Dabei ging es u.a. um die demokratische Glaubwürdigkeit des Verbands und seiner Vertreterinnen. 

Doch haben Frauen aus der DDR im DF durchaus ihre Spuren hinterlassen. Ihre Themen aus der Wendezeit – existenzsichernde Beschäftigung, armutsfeste Renten, flächendeckende, bedarfsgerechte und vor allem bezahlbare Kinderbetreuung – stehen weiterhin oben auf der frauen- und gleichstellungspolitischen Agenda. Und einige Ostfrauen haben als Mitglieder des Vorstands und stellvertretende Vorsitzende die Lobby der Frauen persönlich mitgestaltet. Neun Frauen waren es von 1994 bis heute. Das entspricht natürlich in keiner Weise einer angemessenen „Ostquote“4 und ist, verglichen z.B. mit dem Bundesfrauenministerium, das zwischen 1991 und heute von fünf Frauen mit Ostbiografie und vier Frauen mit Westbiografie geleitet wurde, für den DF kein Ruhmesblatt. Sicher gibt es heute in den meisten DF-Mitgliedsverbänden Vertreterinnen mit Ostbiografie; und nicht nur die katholischen, die evangelischen und die Frauen des DGB haben Gruppen und Aktivistinnen in den östlichen Bundesländern. Konkrete Zahlen darüber liegen nicht vor. Sicher ist aber auch, dass der DF im Osten nie so Fuß fassen konnte wie im Westen.  Und so bleibt das Verhältnis von „Ostfrauen“ und „Westfrauen“ im DF eine interessante Frage, die auch 30 Jahre nach Wiedervereinigung eine Untersuchung zum Selbstverständnis der größten Frauenlobby Deutschlands lohnt. 

 

Literaturangaben

Icken, Angela (2002): Der Deutsche Frauenrat. Etablierte Frauenverbände im Wandel. Opladen: Leske&Budrich

Stoehr, Irene/ Pawlowski, Rita (2002): Die unfertige Demokratie. 50 Jahre „Informationen der Frau“. Deutscher Frauenrat (Hg.), Eigenverlag 
 

Stand: 17. September 2020
Verfasst von
Ulrike Helwerth

ist Diplom-Soziologin und Journalistin. Von 2001 bis Oktober 2020 arbeitete sie beim Deutschen Frauenrat als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und seit 2015 auch als Referentin für internationale Gleichstellungspolitik. Sie ist Mitautorin des Buches Von Muttis und Emanzen. Feministinnen in Ost- und Westdeutschland.

i.d.a.-Dachverband

ist der Dachverband der Lesben- und Frauenarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen aus Deutschland, der Schweiz, Österreich, Luxemburg und Italien, Träger des DDF, ist Mitglied im Deutschen Frauenrat.

Empfohlene Zitierweise
Ulrike Helwerth/i.d.a.-Dachverband (2020): Was heißt hier deutsch?, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/30-jahre-geteilter-feminismus/was-heisst-hier-deutsch
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Fußnoten

  • 1vgl. Icken, Angela (2002): Der Deutsche Frauenrat. Etablierte Frauenverbände im Wandel. Opladen, Leske&Budrich.
  • 2Stoehr, Irene/ Pawlowski, Rita (2002): Die unfertige Demokratie. 50 Jahre „Informationen der Frau“. Deutscher Frauenrat (Hg.), Eigenverlag, S. 79  
  • 3Ebd.
  • 4Diese entspräche ca. 25 Prozent, wenn z.B. die Wohnbevölkerung der BRD und der DDR im Jahr 1989 zugrunde gelegt würde: Im Westen waren es rund 62 Mio. und im Osten rund 16 Mio.