Frauenreport `90

Statistiken, Analysen und Meinungsumfragen: Der Frauenreport `90 legte erstmals die soziale Lebenslage der Frauen in der DDR offen. Brisant ist das historisch einmalige Dokument noch heute, meint DDF-Historikerin Dr. Jessica Bock.

Am 13. Mai 1990 ernannte die DDR-Regierung unter Lothar de Maizière Dr. Marina Beyer (heute Grasse) zur Gleichstellungsbeauftragten. Zu ihren Aufgaben gehörten unter anderem die Begutachtung von Gesetzesvorlagen, die Entwicklung und Umsetzung eigener Handlungsstrategien sowie der Austausch mit den kommunalen Gleichstellungsbeauftragten in den einzelnen Regierungsbezirken. Ihre persönliche Referentin war Tinka Wolf. Als eine ihrer ersten Amtshandlungen beauftragte Marina Grasse das Ost-Berliner Institut für Soziologie und Soziologie mit der Erstellung eines Frauenreports.

Nötige Handlungsgrundlage

Doch warum solch ein Bericht in einem sich auflösenden Staat? Die Antwort darauf gibt Marina Grasse gleich in ihrem Vorwort: „Ausgangspunkt und Grundlage von Gleichstellungspolitik muss zum einen die Kenntnis der sozialen Situation von Frauen und Männern sein, das Wissen, wo in der Gesellschaft Menschen wegen ihres Geschlechts diskriminiert werden und wo die primären Ursachen erfahrbarer und auch indirekter Diskriminierung zu suchen sind.“1 Der Bedarf an aktuellen Zahlen war dringlich, denn in den Jahren zuvor wurden Analysen über die soziale Entwicklung in der DDR erstellt und veröffentlicht, aber zur Lage der Frauen fehlten sie. Diese schwierige Datenlage stellte für die Erarbeitung des Reports eine Herausforderung dar. 

Die zusammengetragenen Analysen, Statistiken und Meinungsumfragen beruhten in der Folge auf „unbürokratisch zur Verfügung gestellte Materialien“ des Statistischen Amtes der DDR, auf langjährigen und neueren demografischen, sozialpolitischen und soziologischen Forschungen und empirische Untersuchungen zu den verschiedensten Gebieten der Lebensbedingungen von Frauen.2 Damit ist der 250-seitige Report die erste und einzige umfassende Dokumentation der sozialen Situation von Frauen in der DDR. Die Studie ist in acht Kapitel strukturiert: demografische Entwicklung, berufliche Bildung, Berufstätigkeit, Frau und Familie, Frauen und Gesundheit, Frauen im Rentenalter, Frauen und Kriminalität und Frauen in Politik und Gesellschaft.

Bilanz der Frauenpolitik in der DDR

Das wissenschaftlich zusammengetragene Datenmaterial belegt eindrücklich die Erfolge, aber vor allem auch die Widersprüchlichkeit der SED-Frauenpolitik. So verdeutlichen die Zahlen, dass die einseitig auf die Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft orientierte Politik die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen nicht aufgelöst, sondern weiter manifestiert hat. Damit blieb nach Meinung von Marina Grasse die historische Wurzel einer patriarchalen Gesellschaft unberührt. Gestützt wird ihre These durch die im Kapitel Berufstätigkeit aufgeführten Ergebnisse. Zwar waren 91 Prozent der Frauen im Jahr 1989 berufstätig, allerdings konzentrierten sich ihre Tätigkeitsbereiche vor allem auf die als traditionell weiblich geltenden und daher schlechter bezahlten Branchen wie Textil- und Lebensmittelindustrie, Gesundheitswesen oder Verwaltung. 

Grafik zum Anteil von Frauen in Leitungsfunktionen 1989 in der DDR
Grafik Frauenreport ’90, S. 94, Abb. 3.11. / Verlag Die Wirtschaft Berlin GmbH, 1990
„In keinem anderen Bereich der Erwerbsarbeit war die soziale Benachteiligung der Frau so groß wie in der Leitungsfunktion“, heißt es im Frauenreport ’90. „Frauen besaßen kaum Chancen, in Spitzenpositionen vorzurücken; einflußreiche Ämter und Bereiche mit Machteinfluß blieben ihnen fast völlig verschlossen.“

Zugleich belegen die Zahlen und Statistiken, dass  Frauen weitaus mehr als Männer unter ihrem Qualifikationsniveau arbeiteten. Als Folge der einseitig auf die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf ausgerichtete Frauenpolitik und der daraus resultierenden Doppelbelastung verzichteten Frauen auf berufliche Qualifikationen, Aufstiegsmöglichkeiten und damit auf ein besseres Einkommen. Auch nahm die Tendenz zu, dass Frauen ihren Beruf in Teilzeit ausübten. „Nicht wenige Frauen sahen ihren Lebensinhalt auch überwiegend in der Familie und waren bereit, für eine größere Fürsorge gegenüber dem Partner und den Kindern die eigene berufliche Entwicklung zurückzustellen, indem sie in Teilzeitarbeit übergingen“, stellt der Report fest.3  

Trotz der Materialfülle weist der Frauenreport auch Leerstellen auf. So enthält der Bericht Zahlen über ‚Ausländerinnen‘, die eher einen ersten rudimentären Überblick über ihre Lebenslage geben. Allerdings dürfte dieser Umstand eher der bereits angesprochenen schwierigen Datenlage geschuldet sein. Ferner finden sich im Bericht keine Angaben über Lesben und deren Lebenssituation der DDR.

Die Situation ostdeutscher Frauen in der Bundesrepublik

Wie hat sich die soziale Lage der Frauen in Ostdeutschland im Zuge der Transformation seit 1990 verändert? Ein vergleichbarer Report, der in dieser Quantität statistisch fundierte Aussagen über die soziale Lebenslage von ostdeutschen Frauen gibt, liegt nicht vor. Allerdings gibt es vereinzelte Untersuchungen, die Aufschlüsse über Kontinuitäten und Brüche geben. Ein Beispiel ist die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beauftragte Studie „25 Jahre Deutsche Einheit. Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit in Ostdeutschland und Westdeutschland“.4  

Hier lässt sich mit Blick auf die Teilzeitarbeit ostdeutscher Frauen eine interessante Kontinuität feststellen. 1989 waren etwa 27 Prozent der Frauen in der DDR in Teilzeit berufstätig, um die Doppelbelastung von bezahlter Erwerbs- und unbezahlter Familienarbeit zu bewerkstelligen.5 Im Jahr 2015 favorisieren in Ostdeutschland 27,3 Prozent der Befragten eine teiltraditionelle Rollenteilung, wonach der Mann der Hauptverdiener ist, während sich die Frau um Haushalt und Kinder kümmert und durch Erwerbstätigkeit etwas dazuverdient.6  

Gleichstellungspolitischer Auftrag

Als Sozialwissenschaftlerin warnt Marina Grasse im Vorwort davor, die vielfach als ,Errungenschaften‘ bezeichneten ,Frauenrechte‘ in der DDR als Beweise oder Garantien einer tatsächlichen Gleichstellung zu interpretieren.7 Sie betont, dass es für die Realisierung „wirklicher Gleichheit“ völlig andere ökonomische und soziale Prioritäten sowie weitestgehender Rechtsreformen braucht, die eine Diskriminierung wegen der Geschlechtszugehörigkeit untersagen.8  

Der im Herbst 1990 veröffentlichte Frauenreport `90 ist nicht nur Bilanz einer 40-jährigen Frauenpolitik in der DDR. Er ist zugleich ein Auftrag, über die bestehenden Geschlechterverhältnisse immer wieder neu nachzudenken und daraus Handlungen abzuleiten. „Dringend notwendig ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Normen und Wertvorstellungen für Leistung, Lebensqualität und Wohlstand, wie sie die hochindustrialisierte Gesellschaft setzen“, fordert Marina Grasse 1990.9 In Anbetracht der gegenwärtigen Krisen ist dieses Anliegen aktueller denn je.

Stand: 01. Juli 2020
Verfasst von
Dr. Jessica Bock

geb. 1983, Studium der Mittleren und Neueren Geschichte an der Universität Leipzig, Promotion zur ostdeutschen Frauenbewegung von 1980 bis 2000 am Beispiel Leipzigs an der TU Dresden, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim DDF im Bereich neue und ostdeutsche Frauenbewegung

Empfohlene Zitierweise
Dr. Jessica Bock (2020): Frauenreport `90, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/30-jahre-geteilter-feminismus/frauenreport-90
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Fußnoten

  • 1Beyer, Marina: Vorwort von Marina Beyer, in: Frauenreport `90, Berlin 1990, S. 7‒12, hier S. 7.
  • 2Winkler, Gunna: Vorbemerkungen, in: Frauenreport `90, Berlin 1990, S. 13‒15, hier S. 13.
  • 3Miethe, Horst et al.: Berufstätigkeit, in: Frauenreport `90, Berlin 1990, S. 55‒100, hier S. 86.
  • 4Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): 25 Jahre Deutsche Einheit. Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit in Ostdeutschland und Westdeutschland, Berlin 2015.
  • 5Miethe, Berufstätigkeit, S. 83.
  • 6Bundesministerium, 25 Jahre Deutsche Einheit, S. 9.
  • 7Beyer, Vorwort, S. 11.
  • 8Ebenda.
  • 9Ebenda.