Der Schwangerschafts­abbruch in der BRD

Nach der NS-Zeit wurde der § 218 in der BRD nicht abgeschafft oder neu angepasst. Erst feministische Aktionen wie die Kampagne „Wir haben abgetrieben!“ im Stern vom 6. Juni 1971 gaben Anstoß zu Reformen.

Nach dem Zeiten Weltkrieg war die Situation hinsichtlich des § 218 unübersichtlich in den drei Besatzungszonen der westlichen Alliierten Großbritannien, Frankreich und den USA. Da dieser noch keine medizinische Indikation ermöglichte, orientierten sich einige Bundesländer an der Reichsgerichtsentscheidung von 1927.1  ÄrztInnen konnten Einzelfallentscheidungen treffen und zum Teil weit gefasste medizinische Indikationen stellen.2

An Weimar anknüpfen

Das Öffentliche Leben wurde neugestaltet, Frauenorganisationen wieder aufgebaut. Wichtige Rollen übernahmen erfahrene Politikerinnen aus der SPD und KPD. Sie waren bereits in der Weimarer Republik für Sexualreformen, für Verhütung und gegen den § 218 eingetreten und versuchten nun an diese Kämpfe anzuknüpfen. Exemplarisch sei der Einsatz von Paula Westendorf (SPD) und Magda Langhans (KPD)3  erwähnt, beide Mitglieder der 1946 ersten frei gewählten Hamburger Bürgerschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. 1947 brachte Magda Langhans einen KPD-Antrag zur Einstellung der Strafverfahren bei Verstoß gegen den § 218 ein. Paula Westendorf stellte dazu einen ergänzenden SPD-Antrag: Sie forderte die Einrichtung öffentlicher Ehe- und Sexualberatungsstellen und setzte sich für die soziale Indikation ein. Eine Strafverfolgung wegen Abtreibung lehnte sie ab und betonte: „Es geht bei unserer Stellungnahme gar nicht darum, ob das Ungeborene leben soll oder nicht. Es geht darum, ob wir den Frauen helfen wollen, den Müttern, die sich den Verhältnissen nicht gewachsen fühlen.“4  Zwar gab es Beifall im Parlament, doch der Gesundheitsausschuss verwarf den Antrag der KPD unter Angabe juristischer Gründe. Positiv beschieden wurde Paula Westendorfs ergänzender Antrag. So entstanden in den Räumen des Hamburger Gesundheitsamtes eine öffentliche Ehe- und Sexualberatungsstelle, die als erste ihrer Art im August 1948 ihre Arbeit aufnahm.5  Auch Paula Westendorfs Einsatz zur Freigabe des Vertriebes von Verhütungsmitteln hatte Erfolg. Am 1. Juni 1948 gab der Senat bekannt, dass die Polizeiverordnung vom Juni 1941 über „Verfahren, Mittel und Gegenstände zum Schwangerschaftsabbruch" aufgehoben sei.6

An  die Sexualreformbewegung der Weimarer Republik knüpfte auch pro familia7  an,  die 1952 in Kassel als Verein gegründet wurde. Zu den Gründungsmitgliedern zählten Anne-Marie Durand-Wever und Ilse Völker (geb. Lederer). 1947 wurde die Beratungsstelle für bewusste Elternschaft in Kassel eingerichtet. Es folgten Beratungsstellen in Berlin (1957), Frankfurt am Main (1961) und Nürnberg (1962). „Jedes Kind hat ein Recht, erwünscht zu sein“ – unter diesem Motto waren Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit über Verhütungsmethoden und Familienplanung das Ziel. Denn immer noch bis 1961 galt ein Erlass von 1941, der die Werbung für und den Verkauf von Verhütungsmitteln verbot – mit Ausnahme von Kondomen.8

Dr. med. Annemarie Durand-Wever, ärztliche Leiterin der Eheberatungsstelle Berlin, 1930

Restriktive Abtreibungspolitik

Traditionelle Familien- und Geschlechterbilder, eine repressive Sexualmoral und entsprechende Familienpolitik blockierten jedoch Reformversuche des § 218. Mit den Kinsey-Reports Mitte der 1950er Jahre wurden zwar medienwirksame Debatten über die Sexualität des Mannes und der Frau entfacht und bei einem Großteil der Bevölkerung mehr Freizügigkeit zumindest ersehnt.9  Hier versuchten Verfechter der Sittlichkeit einzugreifen, oftmals Akteure, die in der Nazizeit aktiv waren oder kirchlichen Kreisen angehörten.10  Hinzukamen bevölkerungspolitische Ziele zu Beginn des Kalten Krieges.11  So beschränkte sich die Reform im dritten Strafrechtsänderungsgesetz von 1953 vornehmlich auf eine verfassungskonforme Anpassung des § 218. Diese sah die Aufhebung der 1943 eingeführten Todesstrafe12  vor. Auch in der BRD stand der Umgang mit reproduktiven Rechten im Dienst der Staatsdoktrin, die rechtliche und strukturelle Situation von Frauen unterschied sich jedoch zur DDR: Hier wurde die soziale Indikation in den 1950er Jahren wieder gestrichen, den jungen Müttern aber Kinderkrippen und soziale Hilfe angeboten, um weiterhin berufstätig zu sein. Die BRD hingegen beließ es bei einer Beratung zu Verhütung, ohne die Möglichkeit, Säuglinge betreuen zu lassen. Diese restriktive Abtreibungspolitik förderte die Angst vor ungewollten Schwangerschaften und führte in der Praxis zu illegalen Abtreibungen, die mehrere tausend Frauen pro Jahr das Leben kostete. 

Erst durch die Einführung der Einheitsfreiheitsstrafe 196913 wurde der Schwangerschaftsabbruch in der BRD zum Vergehen herabgestuft. Nun galt der § 218 hier wieder in der Fassung von 1926. Der Schwangerschaftsabbruch wurde als Vergehen bestraft, nicht mehr als Verbrechen, das heißt er wurde mit einer geringeren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe belegt.

Erhöhter Reformdruck 

Seit Ende der 1960er Jahre ermöglichte es die Pille Frauen, Sexualität und Fruchtbarkeit zu entkoppeln.14  Noch galt die Pille als Bedrohung für die Moral und wurde in den Arztpraxen zunächst nur zögerlich verordnet. Mit der sogenannten sexuellen Revolution nahm jedoch die Infragestellung traditionellen Geschlechterrollen und Familienleitbilder zu. Und auch die Kritik aus der Weimarer Republik am ‚Klassenparagraphen‘ erwachte wieder, als westdeutsche Frauen mit entsprechenden Ressourcen im Ausland wie Holland Abtreibungen vornehmen lassen konnten.

Stern-Cover 6. Juni 1971
Coverbild Stern 6. Juni 1971, Verlag Gruner + Jahr
Kampagne im Stern-Magazin, 6. Juni 1971, initiiert von Alice Schwarzer
In ihrem ersten Buch beschreibt Schwarzer die Frauen der Studierendenbewegung, die sich innerhalb des Sozialistischen Studentenbundes (SDS) gegen die männlich dominierten Strukturen der Gruppierung auflehnten.

Einen wegweisenden Schub löste die bundesweite Selbstbezichtigungskampagne aus, von Alice Schwarzer nach französischem Vorbild initiiert und im Stern vom 6. Juni 1971 publiziert. In dieser bekannten 374 Frauen: ‚Wir haben abgetrieben‘  – darunter Prominente wie Inge Meysel, Senta Berger oder Romy Schneider. Weitere Selbstbezichtigungen folgten und Massendemonstrationen unter dem Motto ‚Aktion 218‘. Der außerparlamentarische Druck der 1970er Jahre löste öffentliche Debatten und schließlich auch Reformversuche des Abtreibungsrechts aus. Die Vorschläge reichten von der Einführung einer Fristenlösung, über die Indikationslösung bis zur Forderung nach völliger Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch.

Mit mächtigen Stimmen mischten sich auch die Kirchen ein: So stellten sich die deutschen Bischöfe hinter die Papst-Enzyklika Humanae vitae von 1968. Sie blieben bei ihrer früheren Position zur Abtreibung, wonach der Staat das ungeborene Leben unter allen Umständen zu schützen hatte. Etwas liberaler war das Modell der Evangelischen Kirche, das eine medizinische Indikation unter Berücksichtigung der Lebensumstände der Schwangeren sowie unter bestimmten Beratungs- und Feststellungsvoraussetzungen auch eine eugenische und eine kriminologische Indikation zuließ.15

Die Humanistische Union vertrat das Recht auf eine selbstbestimmte Schwangerschaft und setzt sich seit den 1970er Jahren für eine Liberalisierung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch ein. Sie richtete eine freie Beratungsstelle für Frauen ein, die ethisch und weltanschaulich unvoreingenommen über die Möglichkeiten von Schwangerschaftsabbrüchen und die damit verbundenen Fragen informierte. Diese Beratungsstelle in Lübeck existiert heute noch.

Für den späteren Koalitionsentwurf wegweisend waren jedoch die Beschlüsse des 76. Deutschen Ärztetages von 1973. Hier bekräftigte die ÄrztInnenschaft ihre bereits seit der Nachkriegszeit praktizierte weite sozial-medizinische Indikationsstellung zum Schwangerschaftsabbruch16 . So sollten sie sich weiterhin ihre seit Beginn des 20. Jahrhunderts gewachsene  standesrechtlich bedeutsame Kontrollfunktion sichern, die ihnen bei einer reinen Fristenlösung versagt geblieben wäre.

Die Fristenregelung scheitert am Bundsverfassungsgericht

Das Gesetzgebungsverfahren zog sich hin. Zu Beginn und im Verlauf der 6. und 7. Legislaturperiode (1969–1972/1972–1976) wurde das politische Ziel deutlich, das ungeborene Leben besser als bisher zu schützen und auch den Konfliktsituationen Schwangerer Rechnung zu tragen. Doch gab es keine Einigung über Fristen- oder Indikationsmodell, eine völlige Abtreibungsfreigabe stieß auf Ablehnung. Hauptstreitpunkt der Koalitionsparteien SPD/FDP und oppositionellen Unionsparteien war, inwieweit das ungeborene Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu schützen sei. Die SPD-Fraktion konnte sich bis kurz vor der Schlussabstimmung im Bundestag nicht eindeutig zwischen dem Fristen- oder dem Indikationsmodell entscheiden. Die Partei befürwortete bis Juni 1971 ein Indikationsmodell. Erst die Kampagne im Stern bewirkte einen Stimmungswandel, worauf der SPD-Parteitag im November 1971 ein klares Votum zur Fristenregelung abgab.17

Die politische Einigung sollte jedoch erst drei Jahre später erfolgen. „Nach mehreren Anläufen durch die sozial-liberale Regierungskoalition wurde am 26. April 1974 in einer Stichabstimmung im Bundestag mit 247 zu 233 Stimmen bei 9 Enthaltungen eine Strafrechtsreform verabschiedet, welche eine Fristenlösung mit Beratungspflicht vorsah“, schreibt die Juristin Prof. Dr. Ulrike Lembke.18  Zehn Monate später erklärte das Bundesverfassungsgericht diese Regelung für verfassungswidrig und nichtig, da der Staat den Schutz des ungeborenen Lebens nicht hinreichend garantierte. 

Ab 1976 galt deshalb eine Indikationenregelung, die in vier unterschiedlichen Konstellationen einen von der Krankenkasse finanzierten Schwangerschaftsabbruch zuließ. „Drei Indikationen kamen kaum jemals in Betracht, die vierte war die sogenannte Notlagen-Indikation, welche ärztlich festgestellt werden musste“, führt Lembke aus und verweist auf die heftige Kritik von konservativer Seite.19  Insbesondere mit dem Regierungswechsel 1982/83 gewannen Stimmen an Gewicht, die den Frauen Missbrauch der Notlagen-Indikation unterstellten. In Bayern und Baden-Württemberg waren die Ausführungsbestimmungen bereits so gestaltet, dass kaum noch legale Schwangerschaftsabbrüche möglich waren. Frauen, die diesen durchführen konnten, erlebten weitere Demütigungen und Hindernisse wie Mangel an ärztlicher Versorgung und Fehlinformationen.20

taz-Artikel von Helga Lukoschat, 18. Juni 1990

Autonom und außerparlamentarisch

Parallel dazu bildeten sich in den 70er Jahren in den autonomen Frauenszenen diverse Initiativen, die sich gegen den § 218 einsetzten. Sie wurden vielfach unterstützt von kommunistischen oder sozialistischen Parteien und Verbänden. Autonome Gruppierungen wie die Aktion 218-Dortmund oder die Aktionseinheit Hamburger Frauengruppen21  organisierten Fortbildungen, Feste und Demonstrationen, zu Beginn noch mit Männern. Neue Erfahrungen und Forderungen wurden in selbstproduzierten Frauenhandbüchern und Ratgeber herausgebracht, am Frauenhandbuch Nr.1 der Westberliner Gruppe Brot und Rosen orientiert. 

Im Herbst 1988 kam es unter dem Motto „Memmingen ist überall“22  zu erneuten Protesten. Von September 1988 bis Mai 1989 fand vor dem Landgericht Memmingen der Strafprozess gegen den Arzt Horst Theissen statt, der darauf wegen angeblich illegaler Schwangerschaftsabbrüche verurteilt wurde. Gegen weitere 279 Frauen und 78 Männer wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, deren ,Notlagen‘ als Indikationsgrund aberkannt werden sollten.23  Feministische Hoffnungen seitens der westdeutschen Frauenbewegung lagen in den Jahren 1989/90 schließlich darin, im Zuge des bevorstehenden Einigungsprozesses, von der liberaleren Fristenlösung der DDR zu profitieren. „Bloß kein einig Memmingen“  forderten noch 15.000 Frauen aus Ost und West auf einer gemeinsamen Demo gegen den § 218 im Juni 1990.

Stand: 17. Mai 2021
Lizenz (Text)
Verfasst von
Dr. Birgit Kiupel

wissenschaftliche Mitarbeiterin im Digitalen Deutschen Frauenarchiv

Empfohlene Zitierweise
Dr. Birgit Kiupel (2021): Der Schwangerschafts­abbruch in der BRD, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
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Zuletzt besucht am: 20.04.2024
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Rechteangabe
  • Dr. Birgit Kiupel
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Fußnoten