Eine tiefliegende Misogynie

Das Archiv der deutschen Frauenbewegung gibt Einblick in sein Bestände und zeigt dabei Diskriminierungsmuster in der Debatte um den Schwangerschaftsabbruch auf.

Welche Bestände zum Thema „§ 218 und die Frauenbewegung“ sind im Archiv der deutschen Frauenbewegung (AddF) zu entdecken?

In der Spezialbibliothek des AddF ebenso wie in dem vom AddF übernommenen Archivgut finden sich vielfältige Quellen zum § 218. Es handelt sich um Zeitschriften, Monografien und Broschüren/graue Materialien und um zahlreiche Dokumente wie zum Beispiel Briefe, Rundschreiben, Petitionen, Flugblätter, Berichte, Erklärungen, Stellungnahmen oder Zeitungsartikel aus vielen Beständen und Nachlässen.

Gertrud Bäumer über den Meinungskampf um den § 218

Beispielhaft seien hier genannt: die Stellungnahme zum § 218 des Stadtbundes Münchner Frauenvereine (NL-K-16 ; J-439), die Erklärung bezüglich der Position des Bundes Deutscher Frauenvereine  BDF) zum § 218 von 1914 (NL-K-16 ; H-102), ein Schreiben über die Agitation für die Aufhebung des § 218 in Hanau von 1924 (NL-K-16 ; J-251) oder die Zeitungsartikel Der Meinungskampf um den Paragraphen 218 St.G.B. von Gertrud Bäumer von 1925 und Die Behandlung des §218 bei der Generalversammlung des Bundes Deutscher Frauenverein von Margarete Keyserlingk aus demselben Jahr (NL-K-16 ; L-109).

In der Sitzung des Leipziger Vorstandes vom Allgemeinen Deutschen Frauenverein (ADF) mit Helene Lange wird 1908 beschlossen, auf der späteren Generalversammlung des BDF in Breslau gegen die Abschaffung des § 218 zu stimmen (NL-K-08 ; 18-5/12). Spannend dazu sind auch die Herausgaben Die Strafrechtsreform und die §§ 218 und 219 St.G.B. von Camilla Jellinek oder Vernichtung des keimenden Lebens. Eine Laienbetrachtung von Anna Pappritz, beide aus dem Jahr 1909.

Protokoll der Vorstandssitzung, Juli 1908

Welche Quellen sind besonders hervorzuheben?

Alle Unterlagen zeigen eines sehr gut: Auch die Frauenbewegung in all ihren Flügeln hatte große Schwierigkeiten, eine einheitliche Position zu diesem Thema zu finden. Das sieht man vor allem an einem Protokoll aus dem Jahr 1931, welches sich im Bestand des Deutschen Evangelischen Frauenbundes findet (NL-K-16; H-424). Eingeladen war die Crème de la Crème des BDF und anderer Frauen(berufs)vereine. In diesem dreiseitigen Protokoll wird deutlich, dass sich die Anwesenden nicht auf eine gemeinsame Position einigen konnten. Hintergrund waren die zivilgesellschaftlichen Proteste der späten 1920er und frühen 1930er Jahre, auf die die bürgerliche Frauenbewegung eine Antwort suchte – vergeblich. Auch in der Frauenbewegungspresse wird diese Zerrissenheit von Anfang an deutlich, und auch an der grauen Literatur kann dies abgelesen werden.

In den 1920er Jahren sind die Berichte aus dem ‚realen Leben‘ gerade von Arbeiterinnen und ihren Familien sehr eindrücklich, genauso wie die literarischen Erzeugnisse. Diese entsprechen zwar nicht mehr unseren Lesegewohnheiten, trotzdem wird das große soziale Problem deutlich, welches der § 218 darstellt. Erschreckend ist an der Literatur, dass es fast nie um das Selbstbestimmungsrecht der Frau ging – auch nicht bei den Protagonistinnen der Frauenbewegung – und dass es extrem viele Gruppen gab (und bis heute gibt), die sich mit diesem Thema beschäftigten. Eine der schwierigsten Gruppen waren sicher die Eugeniker:innen , die den Paragrafen dazu nutzten, ihre Thesen zu diskutieren. Dies zeigt sich auch in der Frauenbewegung, in der ebenfalls eugenische Argumente besprochen wurden. Besonders spannend ist, dass auch Frauen aus der Frauenbewegung immer wieder argumentieren, dass schwangere Frauen nicht in der Lage seien, eine rationale Entscheidung zu treffen. Hier schwingt eine tiefliegende Misogynie mit, die sich bis heute gehalten hat. Die Angst, Frauen würden wahllos abtreiben, wenn der Schwangerschaftsabbruch freigegeben würde, durchzieht alle Debatten – auch die der verschiedenen Flügel der Frauenbewegung.

Es zeigt sich also: Das Thema Schwangerschaftsabbruch wurde und wird bis heute viel zu selten als Frauenrecht diskutiert. Was dominiert sind Argumente aus dem Bereich der Bevölkerungspolitik.

Was lässt sich heute mit Blick auf Diskriminierungs- und Machtstrukturen aus diesen Quellen ablesen? 

Beim Thema Schwangerschaftsabbruch durchkreuzen sich vielfältige soziale, gesellschaftliche und politische Kategorien und produzieren dadurch vielfältige Diskriminierungsmuster. Arbeiter:innen argumentierten zum Beispiel stark mit dem ‚Klassencharakter‘ des Paragrafen und wiesen darauf hin, dass Frauen mit einem bürgerlichen Hintergrund einen leichteren Zugang zu finanziellen Ressourcen und damit zu ‚besseren‘ Abbrüchen hätten. Für sie stach in dieser Debatte die Klassenfrage die Geschlechtsfrage. Die kirchlichen Frauenbewegungsflügel diskutierten den Abtreibungsparagrafen vor dem Hintergrund der Auslegung in ihren Kirchen und versuchten diese dann für Frauen vertretbar zu machen. Oder sie arbeiteten daran, die Auslegung in ihren Kirchen zu diesem Paragrafen zu ändern – was allerdings gerade in der katholischen Kirche extrem mühsam war. Spannend ist immer wieder, dass die als so gemäßigt bezeichnete bürgerliche Frauenbewegung die einzige Richtung war, die konsequent das Geschlecht in den Fokus ihrer Betrachtungen stellt. Dieser – im Duktus der Zeit so genannte – ‚rein feministische‘ Standpunkt wurde teilweise scharf kritisiert und es zeigte sich ja auch immer wieder sehr deutlich, dass ‚Frau-Sein‘ kein Programm war und ist. Trotzdem ist es extrem wichtig, immer wieder zu fragen, welche Auswirkungen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die verschiedenen Geschlechter hatten. So ist es möglich, auf Diskriminierungserfahrungen ‚als Frau‘ hinzuweisen, auch in den 1920er Jahren als das allgemeine Wahlrecht eingeführt worden war und Frauen und Männer ‚grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten‘ hatten.

Wie sind diese Bestände erfasst und wo bestehen Forschungspotenziale?

In den bereits erschlossenen Nachlässen und Aktenbeständen finden sich viele Hinweise auf Quellen über den § 218. Auf dieses Schlagwort wird während der Erschließung immer ein besonderes Augenmerk gelegt und so können bei einer Recherche viele Quellen aus allen Richtungen der Frauenbewegung(en) zusammenkommen, die über den META-Katalog oder den AddF-Katalog gefunden werden können. Vor allem aber: Gehen Sie in die Archive und setzen Sie sich in den Lesesaal, um die Originale der Quellen anzuschauen und mit ihnen zu arbeiten. Denn aufgrund des derzeit bestehenden Urheberrechts und ggf. den noch zu beachtenden Persönlichkeitsrechten können und werden nicht alle Quellen digital zur Verfügung gestellt. Also, machen Sie sich auf und kommen Sie in unsere Lesesäle.

Stand: 17. Mai 2021
Lizenz (Text)
Verfasst von
Archiv der deutschen Frauenbewegung

Das Archiv der deutschen Frauenbewegung  wurde 1984 in Kassel eröffnet und ist Mitglied des i.d.a.-Dachverbandes. Es sammelt, forscht und publiziert zur Geschichte von Frauen und Frauenbewegungen von 1800 bis in die 1960er Jahre.

Empfohlene Zitierweise
Archiv der deutschen Frauenbewegung (2021): Eine tiefliegende Misogynie, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/218-und-die-frauenbewegung/eine-tiefliegende-misogynie
Zuletzt besucht am: 16.04.2024
Lizenz: CC BY 4.0
Rechteangabe
  • Archiv der deutschen Frauenbewegung
  • Digitales Deutsches Frauenarchiv
  • CC BY 4.0