Die Fristenlösung in der DDR: Inge Lange

Inge Lange war eine der wenigen Frauen im Machtzirkel der DDR. Als Leiterin der Abteilung Frauen des Zentralkomitees der SED war sie für Koordinierung und Umsetzung der Frauenpolitik verantwortlich. 1971 war sie wesentlich an der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in der DDR beteiligt.

Ingeburg (‚Inge‘) Lange wurde an 24. Juli 1927 in Leipzig geboren. Ihr Vater Alfred Rosch arbeitete als Drehschlosser und war in Leipzig ein bekannter Arbeiterführer und in der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) aktiv. Die Mutter Ingeburg (‚Ida‘) Rosch (geb. Münzner) war zunächst Arbeiterin, später Hausfrau.

Nach der Beendigung der Grundschule absolvierte Inge Lange von 1943 bis 1946 eine Ausbildung zur Schneiderin. 1945 trat sie in die KPD ein und wurde nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD 1946 Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Von 1946 bis 1961 arbeitete Inge Lange hauptberuflich für die FDJ. In dieser Zeit war sie unter anderem 1. Sekretär der FDJ-Gebietsleitung Wismut. Parallel dazu studierte sie an der Komsomol-Hochschule in Moskau und absolvierte ein Fernstudium an der Parteihochschule Karl Marx.

Inge Lange mit ZK
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Gruppenfoto der Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, aufgenommen etwa 1980 im Haus des ZK in Berlin, mit Inge Lange (hinten, 4. v. r.).

Einen wichtigen Wendepunkt im Leben der Inge Lange und für ihren weiteren politischen Werdegang markierte das Jahr 1961. Am 8. August beschloss die SED, Inge Lange als Leiterin der Arbeitsgruppe Frauen des Zentralkomitees (ZK) der SED einzusetzen.1  „Du wirst viel kämpfen müssen“, soll Walter Ulbricht ihr in einem persönlichen Gespräch gesagt haben.2  Der Amtsantritt von Inge Lange als neuer Leiterin der Arbeitsgruppe Frauen beziehungsweise der Abteilung Frauen im ZK fiel mit einer neuen Phase der SED-Frauenpolitik zusammen, die sich durch innovative Impulse in den Bereichen Bildung und Berufstätigkeit von Frauen auszeichnete.3  Stellvertretend für diese Entwicklung steht das am 16. Dezember 1961 erschienene Kommuniqué Die Frauen – der Frieden und der Sozialismus, das die wesentlichsten programmatischen Zielvorgaben der Frauenpolitik der SED enthielt.4

„Drei Anläufe“ – Die Fristenregelung in der DDR

„Meine Mutter war eine relativ kühle Person, einerseits distanziert, aber auch leidenschaftlich, wenn es um ihren politischen Willen und um die Frauen ging“, beschrieb die Schriftstellerin Katja Lange-Müller ihre Mutter jüngst in der taz.5  Dies galt insbesondere bei der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Frauen über ihre Schwangerschaft. In ihren Erinnerungen an Walter Ulbricht schrieb Inge Lange über die Folgen des Abtreibungsverbots in ihrer eigenen Familie: „Mir persönlich war in guter Erinnerung, dass ich gemeinsam mit meiner Mutter meine Großmutter im Gefängnis besucht hatte, die dort mehrere Jahre einsaß. Warum? Sie hatte in einigen Fällen jungen Frauen, vor allem Arbeiterfrauen, geholfen, unerwünschte Schwangerschaften nicht austragen zu müssen. Das war natürlich strafbar. Irgendwann wurde sie denunziert und musste dafür schwer büßen.“6  Doch auch Inge Lange selbst soll mehrfach ungewollt schwanger gewesen sein. Ihre Tochter Katja Lange-Müller berichtet, dass ihre Mutter selbst „mithilfe von Essigsäurebädern“ zwei oder drei Abtreibungen hinter sich hatte.7  Zwar ist unklar, wann Inge Lange die Abbrüche selbst durchgeführt hat. Dennoch kann die Anwendung von unprofessionellen Abtreibungsmethoden als Indiz dafür gelesen werden, dass Inge Lange von den gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen der DDR für einen Schwangerschaftsabbruch zwischen 1945 und 1971 nicht Gebrauch machte oder gar – als hoffnungsvoller weiblicher Nachwuchskader – nicht Gebrauch machen konnte.

Während zu Beginn der 1950er Jahre einzelne Ostblockstaaten wie die Volksrepublik Polen liberale Bestimmungen über den Schwangerschaftsabbruch erließen, galt mit dem 1950 eingeführten Gesetz Mutter- und Kindschutz und die Rechte der Frau in der DDR eine restriktive Handhabung, wonach ein Abbruch beantragt und von einer Kommission beschieden werden musste. Gegen dieses Gesetz regte sich im Laufe der 1950er und 1960er Jahre immer stärkeren Unmut, der sich unter anderem in einer steigenden Zahl an Eingaben und Widersprüchen zu den Kommissionsentscheidungen äußerte. 8  

1963 stimmte das Zentralkomitee (ZK) für die Gründung einer Arbeitsgruppe, die sich mit den Fragen und Problemen des Schwangerschaftsabbruchs beschäftigen sollte.9  Als Vorsitzende der Frauenkommission war Inge Lange nicht direkt an den Diskussionen über den Paragrafen 11 in der Arbeitsgruppe beteiligt, sondern in den anschließenden (nachgeordneten) Beratungen.10  An einer wie auch immer gearteten öffentlichen Diskussion über den § 11 war Inge Lange jedoch nicht interessiert, wie die Historikerin Donna Harsch anhand ihrer Aktenanalyse über die parteiinternen Debatten nachweist.11

Gleichberechtigung der Frau auf fester Basis, Berlin 1971.

„Die Abschaffung [des §11, d. A.] war ein dringendes politisches Anliegen meiner Mutter. Dafür hat sie alles getan, was in ihrer Macht stand“, erinnert sich Katja Lange-Müller.12  Nach eigener Aussage benötigte Inge Lange drei Anläufe um eine liberalere Gesetzgebung durchzusetzen: „Das war nicht einfach!“13  Die an Fahrt aufkommende Frauenbewegung in Westdeutschland und die bereits vorhandenen liberaleren Gesetzgebungen in den sozialistischen Staaten drohten die DDR als rückständig erscheinen zu lassen. Inge Lange nutzte die Gunst der Stunde, um die Männer im Politbüro für die Einführung der Fristenlösung zu gewinnen. Die zunehmende Integration der Frauen in die Arbeitswelt und die damit verbundene modernere Stellung der Frau in der Gesellschaft sei mit dem bisherigen restriktiven Abtreibungsgesetz nicht vereinbar. Und so erhielt Inge Lange den Auftrag, bis Mitte Dezember 1971 einen Vorschlag für die Einführung der Fristenlösung in der DDR auszuarbeiten. Die Beschlussvorlage diskutierte Inge Lange am 14. Dezember 1971 mit dem Politbüro, den Ministern für Gesundheit und dem Leiter der Abteilung für Gesundheitspolitik im ZK. Am selben Tag empfahl das Politbüro dem Ministerrat der DDR, eine gesetzliche Regelung auszuarbeiten, die einen Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten straffrei und kostenlos ermöglichen sollte. „Das Kernstück der Frauenunterdrückung gab es in der zweiten DDR-Halbzeit nicht mehr“, schlussfolgert die Soziologin Ursula Schröter.14

Stillstand und Ausschluss

Obgleich die Einführung der Fristenregelung in der DDR wohl den größten politischen Triumph für Inge Lange darstellte, gingen von ihr in den folgenden Jahren keine wesentlichen innovativen frauenpolitischen Impulse aus. Die Gleichberechtigung der Frau in der DDR galt Anfang der 1970er Jahre als verwirklicht. Zwar nahm Inge Lange die mit dem veränderten weiblichen Rollenbild einhergehende Doppel- und Dreifachbelastung der Frauen wahr, aber sie vermied darüber jegliche Ursachendiskussion. Ebenso wurden die Vorschläge der von ihr geleiteten Abteilung Frauen, die Situation schwangerer vietnamesischer Vertragsarbeiterinnen in der DDR zu verbessern, nicht umgesetzt.15

Inge Lange in Leipzig
Grubitzsch (geb. Raphael), Waltraud / Bundesarchiv
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Inge Lange (Mitte), Kandidatin des Politbüros und Sekretärin des Zentralkomitees der SED, noch am 2. Oktober 1989 zur Übergabe einer neuen Anlage zur Fellveredlung im VEB Edelpelze Schkeuditz.

Im Zuge der Massendemonstrationen trat Inge Lange am 8. November 1989 zusammen mit dem Politbüro und dem Zentralkomitee zurück. Wenige Wochen später, am 20. Januar 1990, erfolgte ihr Ausschluss aus der SED. Über das Parteiausschlussverfahren gibt es eine Tonbandaufnahme. Hier äußert Inge Lange: „Ja, ich würde mir wünschen Mitglied der Partei bleiben zu können. Aber wenn die Kommission zu dieser Überzeugung kommt, dann muss ich das akzeptieren. (Pause) Ich war 1945 achtzehn Jahre. Und die Partei war mein Leben.“16  Zugleich nutzt sie die Anhörung vor dem Parteischiedsgericht, um auf ihr zähes Ringen bei der Änderung der Abtreibungsregelung hinzuweisen: „Trotzdem habe ich für die Frauen einiges gemacht. […] Ich denke zum Beispiel an den Paragraphen 218.“17  Nach ihrem Parteiausschluss zog sich Inge Lange aus dem öffentlichen Leben zurück. Sie starb am 13. Juli 2013 in einem Berliner Krankenhaus.

Das Leben und Wirken von Politikerinnen in der DDR stellen ein dringendes Forschungsdesiderat dar. Während über Walter Ulbricht oder Erich Honecker bereits mehrere Untersuchungen vorliegen, sind Publikationen über die „Machtfrauen“ eher eine Ausnahme.18

Dr. Jessica Bock, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Digitalen Deutschen Frauenarchiv.

Stand: 17. Mai 2021
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Verfasst von
Dr. Jessica Bock

wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Digitalen Frauenarchiv

Empfohlene Zitierweise
Dr. Jessica Bock (2021): Die Fristenlösung in der DDR: Inge Lange, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
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Fußnoten

  • 1Onnasch, Christina: Der Einfluß von Frauen in politischen Führungspositionen der DDR: das Beispiel Inge Lange, in: Deutschland Archiv, 1999, H. 3 Band: 32, S. 419‒430, hier S. 420.
  • 2Lange, Inge: In der Frauenpolitik, so Ulbricht, dürfen nicht die Buchhalter reden, in: Krenz, Egon (Hg.): Walter Ulbricht. Zeitzeugen erinnern sich, Berlin 2013, S. 539‒547, hier S. 539.
  • 3Onnasch: Der Einfluß von Frauen in politischen Führungspositionen der DDR, S. 424.
  • 4Kaminsky, Anna: Frauen in der DDR, Berlin 2016, S. 42.
  • 5Gottschalk, Katrin: „Für den Weltfrieden und Frauenrechte“, in: die tageszeitung vom 6./7./8. März 2021, S. 25.
  • 6Lange: In der Frauenpolitik, so Ulbricht, dürfen nicht die Buchhalter reden, S. 546.
  • 7Gottschalk: „Für den Weltfrieden und Frauenrechte“, S. 25.
  • 8Harsch, Donna: Society, the State and Abortion in East Germany 1950-1972, in: The American Historical Review, Bd.102, 19977, H. 1, S. 53–84, hier S. 71‒79; Grossmann, Atina: “Sich auf Kinder freuen.” Frauen und Behörden in Auseinandersetzungen um Abtreibungen, Mitte der 1960er Jahre, in: Lüdke, Alf/Becker, Peter (Hg.): Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte, Berlin 1997, S. 241‒256.
  • 9Harsch: Society, the State and Abortion in East Germany 1950-1972, S. 62.
  • 10Ebenda, S. 62.
  • 11Ebenda, S. 70.
  • 12Gottschalk: „Für den Weltfrieden und Frauenrechte“, S. 25.
  • 13Heller, Lydia/ Nichelmann, Johannes: Herrscher am Ende –Die verschollenen Tonbänder des Politbüros, Erstsendung: Freitag, 25.09.2020, S. 19, abgerufen am 19.3.2021 unter https://www.deutschlandfunkkultur.de/herrscher-am-ende-pdf.media.01bcb92dfadf4bcb0ff46b403c8a621d.pdf.
  • 14Schröter, Ursula: Über Privates und Öffentliches. Eine ostdeutsche Sicht auf das geteilte Deutschland, Manuskripte Neue Folge H. 28, Berlin 2020, S. 126.
  • 15Onnasch: Der Einfluß von Frauen in politischen Führungspositionen der DDR, S. 429.
  • 16Heller, Lydia/ Nichelmann, Johannes: Herrscher am Ende –Die verschollenen Tonbänder des Politbüros, Erstsendung: Freitag, 25.09.2020, S. 19, abgerufen am 19.3.2021 unter https://www.deutschlandfunkkultur.de/herrscher-am-ende-pdf.media.01bcb92dfadf4bcb0ff46b403c8a621d.pdf.
  • 17Ebenda, S. 20.
  • 18Ein Beispiel ist die Biografie über Hilde Benjamin: Brentzel, Marianne: Die Machtfrau. Hilde Benjamin 1902-1989, Berlin 2013; Gast, Gabriele: Die politische Rolle der Frau in der DDR, Düsseldorf 1973; Steiner, Helmut: Blockierte Emanzipation: Frauen in der politischen Leitung der DDR, in: Das Argument, 2001, H. 1, S. 83‒95.