Über „Wild durch die Lüfte, Kontinente und Zeiten“ – die Gründungsjahre des Frauenarchivs an der Ruhr-Universität Bochum
1977 formierte sich unter dem Motto „Aufbruch in die Zukunft durch die Entdeckung unserer Geschichte“1 eine Gruppe von Historikerinnen, die sich CLARAs nannten und sich im Rahmen des ersten Frauenseminars innerhalb der Geschichtswissenschaft zur Geschichte der amerikanischen Frauenbewegung 1848–1920 zusammenfanden. Sie wollten die Situation von Frauen an der Universität sowie die männerzentrierten Wissenschaftsinhalte verändern. 1978 löste sich die Gruppe in die Frauenarchivgruppe auf, in der die Idee entstand, eine eigene Sammlung anzulegen. In einem ersten Papier der Frauenarchivgruppe steht: „Wir haben uns zum Ziel gesetzt, Anfänge einer Frauenforschung aufzubauen […]. Darüberhinaus [sic] aber ist das Frauenarchiv Anlaufstelle für alle Frauen, die sich inhaltlich mit Frauenthemen oder -literatur auseinandersetzen wollen, um einen Austausch und eine weiterführende Diskussion über Frauenforschung zu ermöglichen.“2
Am 14. März 1979, ein Jahr nach der Gründung des Archivs, wurde die erste Satzung vom Plenum der Frauenarchivgruppe einstimmig angenommen. Darin heißt es unter Punkt 3 zum Status: „Die Frauenarchivgruppe ist eine autonome Arbeitsgruppe, die von keiner anderen Organisation abhängig ist. Sie ist nicht Teil oder Untergruppe einer anderen Frauengruppe/-organisation an oder außerhalb der Universität, kann jedoch mit solchen punktuell zusammenarbeiten.“3 In diesem Plenum wurde Magdalena Gugel zur ersten Sprecherin der Frauenarchivgruppe gewählt.
Der Sprachgewandtheit der Archivmitbegründerin Astrid Petermeier sind eine Vielzahl an Texten und Artikeln zu verdanken, die die Situation und Geschichte des Frauenarchivs anschaulich erzählen und Vergnügen bereiten – unter anderem der Artikel „Wild durch die Lüfte, Kontinente und Zeiten“4, den sie für die vom autonomen Frauen- und Lesbenreferat der RUB herausgegebene Zeitschrift Emanzenexpress schrieb.
Wild – die Gründungsjahre des Frauenarchivs
Die ersten Jahre von der Gründung des Archivs 1978 an waren begleitet von dauernden Kämpfen um Ressourcen wie Stellen, Gelder und Räumlichkeiten. Dank zahlreicher Generationen von Studentinnen und deren Bereitschaft, viel unbezahlte Arbeit zu leisten, konnte das feministische Projekt weiterwachsen. In einem Dokument mit dem Titel „Schlagwortkatalog A-Z"5 und einem Papier mit Überlegungen und Umsetzungsstrategien zu einer neuen Systematik im Frauenarchiv mit dem Titel „Logik ins Bochumer Frauenarchiv"6 von ca. 1978 wird der Aufbau des Archivs anschaulich. Besonders wichtig hierbei war die Auffindbarkeit von Literatur von und über Frauen. So schreiben die Archivfrauen in einem Flugblatt von ca. 1979: „Wir sind eine kleine Gruppe von Studentinnen, die versucht, jede Art von Frauenliteratur zu archivieren und zugänglich zu machen.“7
Widerständiges und kluges Vorgehen der Frauenarchivgruppe ermöglichten den Fortbestand des Frauenarchivs bis heute. Mit Witz und Engagement wurden immer wieder Wege und Mittel gefunden, um Archivarbeit und Projekte voranzubringen. Auch die Windmühlen der Universitäts-Bürokratie wurden so kontinuierlich bekämpft, wie die Unterlagen belegen. Etwa 1979, ein Jahr nach der Gründung des Archivs, schrieben die ersten Mitarbeiterinnen auf einem Flugblatt zur Vorstellung des Archivs über ihre Bemühungen: „Doch schien uns die Arbeit im Archiv aufzufressen. Eine Systematik mußte erstellt werden, Karteikarten geschrieben werden, kurz unglaublich langweiliger Bürokram kam auf uns zu. Für eine inhaltliche Arbeit blieb keine Zeit mehr.“8 Für die Archivgründerinnen waren die ersten Jahre des Aufbaus eine Zerreißprobe: „Die Probleme wuchsen uns über den Kopf und schienen unlösbar. Der Markt an Frauenbüchern wuchs dauernd und wurde immer umfassender, das hieß noch mehr Arbeit, um in etwa auf dem Laufenden zu bleiben. Andererseits wurde das Bedürfnis nach Gesprächen und Diskussionen über die Bücher und Arbeiten immer größer. Für einige von uns schien die damalige Situation unüberwindbar. Sie hörten mit der Archivarbeit auf.“9 Vermutlich aufgrund dieser ernüchternden Bestandsaufnahme gab es mehrfach Diskussionen darüber, ob das Frauenarchiv ein Dienstleistungsbetrieb oder eine Frauengruppe sei. 1979 wurden in einem internen Papier folgende Fragen gestellt: „Worum geht es bei dem Projekt Frauenarchiv eigentlich? um die Frauen, die das Archiv nutzen – also die ZIELGRUPPE? oder um eine ZIELVORSTELLUNG – eine Vorstellung davon, was ein Frauenarchiv überhaupt bewirken kann und sollte?“10 Die Fragen werden bis heute in Archiven der autonomen Frauen- und Lesbenbewegung diskutiert. Trotz vieler Diskussionen und Fragen zu Aufgaben und dem spezifischen Status des Archivs an der Universität äußerten sich die Archivfrauen deutlich: „Das Frauenarchiv – unser Projekt – versteht sich als Teil der Frauenbewegung.“11
Durch die Lüfte – Hexen als Inspiration fürs Frauenarchiv
Ihre Inspiration nahmen die Archivfrauen unter anderem aus der Beschäftigung mit historischen Vorbildern und aus der Auseinandersetzung mit künstlerischen feministischen Positionen und Perspektiven. Auch hier wurde sich tatkräftig an der Verbreitung feministischer Inhalte beteiligt. Bereits 1980 organisierte die Frauenarchivgruppe die erste Ausstellung von Marianne Wex im Ruhrgebiet, die vom 10. bis 15. April des Jahres in der Evangelischen Studentengemeinde in Bochum gezeigt wurde. In der Fotoausstellung ging es um weibliche und männliche Körpersprache als Folge patriarchaler Machtverhältnisse. Ein Jahr darauf folgte die Wanderausstellung zum Thema Hexen, die von der gleichnamigen Arbeitsgruppe unter anderem von Heidi Staschen in Hamburg entwickelt worden und zuvor in der Galerie Andere Zeichen in Berlin zu sehen war. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte von Hexen spiegelt sich bis heute im Buchbestand wider.
Durch die Kontinente – das Frauenarchiv vernetzt sich
Eines der zentralen Anliegen des Frauenarchivs war Vernetzung – Vernetzung von Frauen, Lesben und den innerhalb der Frauen-Lesbenbewegungen generierten Wissensbeständen. Diese sollten zentral gesammelt werden, um Grundlagen für wissenschaftliche Theoriebildung zu schaffen. Die Dokumente im Vorlass des Frauenarchivs bezeugen die frühe Vernetzung von Frauenarchiven und -bibliotheken im westdeutschen Bundesgebiet, so beispielsweise das Einladungsschreiben vom 13. September 1980 vom Frauenforschungs-, -bildungs- und -informationszentrum (FFBIZ) Berlin, das im Rahmen der Berliner Sommeruni zu einem Erfahrungsaustausch zur Arbeit in Frauenarchiven und -bibliotheken einlädt.
Am 17. Dezember 1997 wurde ein bundesweit einmaliges spanischsprachiges Frauen-Lesbenarchiv mit Materialien aus Lateinamerika und der Karibik im Frauenarchiv an der RUB eröffnet. Es beinhaltet eine spanisch- und portugiesischsprachiges Sammlung von Zeitschriften, Plakaten, Broschüren und Texten, die zum Beispiel aus Chile, Guatemala, Brasilien, Peru, Bolivien und Venezuela stammen und von Frauen aus Süd- und Mittelamerika geordnet, klassifiziert und archiviert wurden.
Beeindruckend ist die enorme Anzahl an Anfragen, die nicht nur aus dem gesamten bundesdeutschen Gebiet kamen, sondern auch aus Großbritannien, den Niederlanden, Österreich und den USA. Außerdem erreichten das Frauenarchiv an der RUB Anfragen von den ersten an Universitäten angegliederten Instituten für Frauenforschung, so zum Beispiel eine vom 1984 gegründeten Frauenforschungslehrstuhl12 der Universität Frankfurt am Main13. Aber auch zahlreiche Anfragen von einzelnen Wissenschaftlerinnen, von Frauenhäusern und anderen autonomen feministischen Projekten gingen ein, alle auf der Suche nach Material und Literatur für ihre Arbeit. So kann rückblickend die Mitarbeit des Frauenarchivs an unzähligen Abschlussarbeiten und Dissertationen im Bereich der Frauen- und Geschlechterforschung angenommen werden. Auch an der Erstellung von Bibliografien arbeiteten die Archivfrauen in Bochum tatkräftig mit, so beispielsweise an der 1980 von Ulla Bock und Barbara Witych veröffentlichten Bibliographie der deutschsprachigen Literatur zur Frauenfrage 1949–1979. So entstanden aus autonomen Strukturen und feministischen Kämpfen sowie mit viel unbezahlt geleisteter Arbeit und dem Engagement einzelner Frauen die Grundlagen einer frühen Frauenforschung, aus der sich Jahre später die mittlerweile institutionell etablierten Gender Studies entwickelt haben.14
Durch die Zeiten – das Frauenarchiv, bis heute ein vielgestaltiger Ort
Rückblickend ist das Frauenarchiv an der RUB maßgeblich am Aufbau der Frauen- und Geschlechterforschung in der ehemaligen BRD beteiligt gewesen. Die enorme Anzahl an Anfragen von feministischen Projekten, Lehrstühlen und Studentinnen, die ihre Abschlussarbeiten und Dissertationen zu Themen der Frauen- und Geschlechterforschung verfasst haben, belegen diese frühe Vernetzungsarbeit und das Bereitstellen und Zugänglichmachen von Materialien, die sich mit feministischen, frauenzentrierten Perspektiven sowohl im Wissenschaftsbetrieb als auch in autonomen feministischen Projekten auseinandersetzen.
Die Geschichten, die die Sammlungsbestände bis heute erzählen, sind so dicht und vielfältig, dass sie hier kaum Platz finden. Die Sammlung erstreckt sich über alle Wissenschaftsbereiche, beinhaltet aber auch Belletristik von und über Frauen und Lesben. So befindet sich in der LIESELLE (bis 2010 Frauenarchiv Leihse) beispielsweise eine enorme Lesbenkrimisammlung, die ihresgleichen sucht. Vor Ort können Interessierte den Vorlass des Frauenarchivs einsehen und anhand von Protokollen, Flugblättern und Korrespondenzen den zahlreichen Spuren und Forschungsfeldern folgen, die diese eröffnen. In diesem Sinne „in heller lila Freude [die] Frauenarchivgruppe“15.
Netzwerk von „Wild durch die Lüfte, Kontinente und Zeiten“ – die Gründungsjahre des Frauenarchivs an der Ruhr-Universität Bochum
Biografie von „Wild durch die Lüfte, Kontinente und Zeiten“ – die Gründungsjahre des Frauenarchivs an der Ruhr-Universität Bochum
Fußnoten
- 1 Frauenbibliothek LIESELLE (im Folgenden: LIESELLE), Vorlass Frauenarchiv an der Ruhr-Universität Bochum, „Archiv Protokolle“, VL-FARub-AP-15, Bl. 5r
- 2 LIESELLE, VL-FARub-AF-05, Aktuelles Flugblätter, Bl. 1r.
- 3 LIESELLE, VL-FARub-AD-18, Archiv Dokumente, Bl. 1r.
- 4 LIESELLE, VL-FARub-AD-11, Archiv Dokumente, Bl. 1r.
- 5 LIESELLE, VL-FARub-AP-16, Archiv Protokolle, Bl. 1r.
- 6 Ebenda, Bl. 2r.
- 7 LIESELLE, VL-FARub-AD-17, Archiv Dokumente, Bl. 1r.
- 8 LIESELLE, VL-FARub-AF-10, Aktuelles Flugblätter, Bl. 1r.
- 9 Ebenda.
- 10 LIESELLE, VL-FARub-AP-13, Archiv Protokolle, Bl. 3r.
- 11 Ebenda, Bl. 2r.
- 12 Die Soziologin Ute Gerhard wurde 1987 die erste Lehrstuhlinhaberin des Lehrstuhls für Frauenforschung in Frankfurt am Main.
- 13 „Wir bekommen an der Frankfurter Uni (nach 4 Jahren Kampf darum) endlich einen Frauenforschungslehrstuhl. (Sozwiss.) Dafür wollen wir eine umfassende Bibliographie der gegenwärtigen Frauenforschung (national/international) erstellen. Könnt ihr uns bitte zur vorläufigen Sichtung des Materials eine Bibliographie/oder Überblick über eure Arbeit zuschicken? Habt ihr z.B. auch die Examens- und Doktorarbeiten erfaßt? Für uns ist es erst einmal wichtig zu wissen, wie wir kooperieren können, evtl. würden wir zur Erfassung eures Materials nach Bochum kommen.“ (LIESELLE, VL-FARub-PE-02, Post Eingang, Bl. 34r.)
- 14 1997 wurde das damals Leihse genannte Frauenarchiv mit dem an der RUB eingerichteten Lore-Agnes-Preis gewürdigt, einem Förderpreis für Projekte an der RUB, die eine eigene Gleichstellungsstrategie entwickelt, erfolgreich umgesetzt und dabei neue Wege beschritten haben.
- 15 LIESELLE, VL-FARub-PA-02, Post Ausgang, Bl. 48r.
Ausgewählte Publikationen
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Teichmann, Katja: Einladung zum Schreiben. Schreibende Frauen und Dokumente der FrauenLesbenbewegungsgeschichte, in: Betrifft Mädchen Betrifft Mädchen, 35, 2022, 1, S. 8‒13.
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Frauenbibliothek LIESELLE an der Ruhr-Universität Bochum: Arbeit und Aktivismus im Archiv sichtbar machen, in: Under feminist construction. Feministische Schaufensterausstellung Bochum 07.03 - 04.04.2021. atelier automatique. 2021.