Über Ute Geissler
Ute Geissler wurde 1943 in Kiel geboren. Sie ist die Älteste von sechs Geschwistern und „hätte natürlich erst mal ein Junge werden sollen“.1 Der „Sohnersatz“2 war für den Vater „Ansprechpartner“3, umso mehr litt Ute unter den vielen Restriktionen, die ihr als Mädchen auferlegt wurden. „Sehr früh als Kind hab ich das empfunden, dass man vieles nicht durfte und dass das nicht in Ordnung ist.“4 Der Vater war Arzt mit eigener Praxis, die Mutter Kinderkrankenschwester, die jedoch nicht in diesem Beruf arbeitete, sondern den Haushalt mitsamt den Hausangestellten organisierte. Der älteren Tochter der „gutbürgerlichen Familie“ wurde signalisiert, dass man zwar eine Ausbildung von ihr erwartete, diese aber letztlich nicht für eine eigene berufliche Karriere vonnöten sei, weil sie „später irgendwann mal heiraten“5 würde.
Statt Kapital-Studium Arbeit an der Frauenfrage
Ute Geissler absolvierte in Tübingen eine Ausbildung zur Buchhändlerin, ging dann zunächst als Au-pair nach Marseille und schließlich nach Paris, wo sie als Buchhändlerin arbeitete und den Mai ’68 erlebte. Zurück in Deutschland, zog sie 1969 nach München und wurde Teil einer Frauengruppe, die sich im AStA der Universität traf. Die Hälfte der rund 30 Teilnehmerinnen waren Studentinnen, die andere Hälfte war berufstätig. Die Gruppe las Das Kapital, was einige Mitglieder, darunter auch Ute Geissler, „absurd“6 fanden: „Und dann gab’s zwischendrin auch so kleine Revolten, dass welche gesagt haben: ‚Wir wollen jetzt mal über was Persönliches reden‘“.7 Dieser Teil der Gruppe konnte sich aber zunächst noch nicht durchsetzen.
„Ja, und dann kam Alice Schwarzer und reiste herum und hat uns erzählt (…), wie sie diese Anzeigen-Kampagne im Nouvel Observateur gemacht hatten, und ob wir das nicht auch machen wollten. Sie war offensichtlich vorher schon in Berlin und in Frankfurt gewesen. Und dann hat sich unsere Gruppe gespalten. Die einen haben gesagt, wir müssten den Hauptwiderspruch – so hieß es damals – weiterhin erstmal verfolgen und lösen und natürlich erstmal die ganze Arbeiterklasse befreien. Die anderen, wir, haben dann gesagt: Das ist Quatsch! (...) Wir werden jetzt einfach an der Frauenfrage arbeiten, der Abtreibungsfrage.“8
„Das Thema Abtreibung war einfach immer da“
Auch Ute Geissler kannte „persönlich einige Frauen“9, die „unter scheußlichen Umständen“10 abgetrieben hatten. „Zum Beispiel eine, die nach Jugoslawien fuhr und in Zagreb bei irgend so einem furchtbaren Arzt eine Abtreibung hatte. Das war ein Thema. Das war einfach immer da.“11
Ute Geissler sammelte mit ihrer Frauengruppe, die sich – wie Frauengruppen in anderen Städten auch – von nun an Aktion 218 nannte, in der Fußgängerzone und vor der Universität Selbstbezichtigungen und organisierte Hilfe für ungewollt schwanger gewordene Frauen. „Das fing dann aber auch schon an, dass Frauen zu uns kamen und Hilfe wollten. Die sagten: ‚Ihr beschäftigt euch damit, ihr wisst vielleicht, was wir machen können.‘ Wir haben dann Geld gesammelt, (...) wir haben auch Kontakte mit Ärzten in Holland und Belgien und auch England gehabt, oder mit Kliniken. Und dann haben wir die Reisen organisiert für Frauen. (…) Da waren wir sehr aktiv.“12
Ute Geissler entschied sich, auch selbst namentlich als Unterzeichnerin bei der Selbstbezichtigung im Stern mitzumachen. Sie selbst hatte – wie viele Unterzeichnerinnen – niemals abgetrieben, für sie war die Unterschrift kein persönliches Geständnis, sondern ein politisches Statement. Da Abtreibung in Deutschland zu diesem Zeitpunkt mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden konnte, ging sie, wie die anderen Unterzeichnerinnen, ein nicht unbeträchtliches Risiko ein. Aber: „Wir waren sehr aufgeregt, wir fanden das einfach irgendwie toll. Wir hatten keine Angst in dem Sinne (...). Die Stimmung war einfach so. Es war überfällig, dass was gemacht wurde mit dem 218.“13
Nachdem der Stern erschienen war, leitete die Staatsanwaltschaft München tatsächlich ein Strafverfahren wegen ‚Vorspiegelung einer Straftat‘ ein. In der Wohnung von Ute Geissler kam es zu einer Hausdurchsuchung, bei der Unterschriftenlisten beschlagnahmt wurden. Bald darauf wurde das Verfahren eingestellt.
Münchner Frauenzentrum und Lillemor’s Frauenbuchladen
Ute Geisslers Engagement im Kampf gegen das Abtreibungsverbot ging weiter, aber ihr Themenspektrum erweiterte sich. Im Münchner Frauenzentrum in der Schraudolphstraße, zu dessen Mitgründerinnen Geissler 1972 gehörte, ging es bald auch um Consciousness Raising – Frauen tauschten sich in ‚bewusstseinsbildenden‘ Gruppen über die Zusammenhänge zwischen ihren persönlichen Erfahrungen und den gesellschaftlichen (Macht)Verhältnissen aus – oder Männergewalt gegen Frauen.
Im November 1975 gründete die Buchhändlerin Ute Geissler gemeinsam mit fünf weiteren Frauen Deutschlands erste Frauenbuchhandlung: Lillemor’s Frauenbuchladen. Der Buchladen sollte feministische Literatur zugänglich machen, kultureller Treffpunkt und Beratungsstelle für Frauen sein sowie Arbeitsplätze für Frauen schaffen.
Trainerin für feministische Selbstverteidigung
Ute Geissler holte das Abitur nach und studierte Pädagogik, Soziologie und Psychologie. Sie ließ sich zur Trainerin für feministische Selbstverteidigung ausbilden und gab schließlich selbst in ganz Deutschland Selbstverteidigungskurse für Mädchen und Frauen.
1980 lernte Ute Geissler ihre Lebensgefährtin kennen, eine Australierin, und wanderte 1985 mit ihr nach Australien aus, wo sie bis heute lebt. „In Australien – die Leute denken das wohl nicht – gab es sehr wohl eine starke Frauenbewegung, und in der war ich dann. Da habe ich weiter Kontakte gehabt und weitergemacht. Das hat eigentlich nie aufgehört.“14