- Foto: Emil Friedrich Rothe, Cassel; Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel; F-ST36_005
- Gemeinfrei
Über Marie Calm
Kindheit in der Provinz
Marie Calm kam am 3. April 1832 in Arolsen zur Welt, Residenzstadt im damaligen Kurfürstentum Waldeck, von dem sie selber sagte: „[…] während meiner Jugendzeit führte es in seiner Abgeschiedenheit vom großen Weltverkehr ein obskures Dasein.“1 Arolsen war zwar provinziell, hatte aber Künstler wie Christian Daniel Rauch und Wilhelm von Kaulbach hervorgebracht.
Marie Calms Vater war Kaufmann und zudem Bürgermeister der 2000-Einwohner*innengemeinde, ihre Mutter, „eine heitere, geistesfrische, ungemein liebevolle Frau ergänzte und unterstützte ihren Gatten aufs Beste in dieser Aufgabe, und die Kinder genossen, in jeder Weise durch die Verhältnisse begünstigt, den unschätzbaren Vorzug einer freien, sorglosen glücklichen Jugendzeit“2. Marie wuchs gemeinsam mit einer Schwester und einem Bruder auf, die Talente der Kinder „wurden nach allen Richtungen hin ausgebildet, und ein geistig anregender Verkehr, sowohl im häuslichen, wie im Freundeskreise, begünstigte namentlich die Entwickelung der hochbegabten Marie“3. Trotz provinzieller Abgeschiedenheit bekam Marie Calm offenbar eine für ein Mädchen jener Zeit ungewöhnlich gründliche Bildung.
Sie besuchte das Steyersche Institut, eine private Mädchenschule, deren Leiterin Ida Speyer eine begnadete und sehr engagierte Lehrerin gewesen sein muss. Hier wurden die Keime für Marie Calms Lebensweg als Pädagogin gelegt; sie hat viele Jahre später mit dem Artikel Eine Lehrerin von Gottes Gnaden der von ihr so sehr geschätzten Lehrerin ein kleines Denkmal gesetzt4 und ihr auch eines ihrer Bücher gewidmet.5
Lehrjahre im Ausland
Folgerichtig reifte in dem jungen Mädchen der Wunsch, selbst Lehrerin zu werden. Eine geregelte Ausbildung gab es dafür Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht. Marie Calm arbeitete zunächst als Hilfslehrerin am Steyerschen Institut und ging dann in die französische Schweiz, nach England und nach Moskau, wo sie als Hauslehrerin und Erzieherin Berufspraxis sammelte und Sprachen erlernte. Danach lehrte sie an verschiedenen Mädchenschulen in Deutschland. 1865 ließ sie sich schließlich in Kassel (damals noch Cassel) nieder, wo ihre zwischenzeitlich verwitwete Mutter und ihre verheiratete Schwester lebten.
Die Lehrerin
Marie Calm hat sich mit dem Beruf der Lehrerin in ihrer Zeit intensiv auseinandergesetzt und dessen Professionalisierung vorangetrieben. 1869 gründete sie gemeinsam mit Auguste Schmidt den Verein Deutscher Lehrerinnen und Erzieherinnen, er ist als ein früher Versuch zu sehen, die Lage von Lehrerinnen zu analysieren und Initiativen zur fachlichen Verbesserung des Unterrichts, aber auch zur pekuniären Absicherung von Lehrerinnen zu ergreifen. Es ging dem Verein um drei Forderungen: „Vermehrung und Verbesserung der Lehrerinnen-Seminarien, Erhöhung der Gehälter und Ausdehnung des Wirkungskreises.“6 Der von Marie Loeper-Housselle, Helene Lange und wiederum Auguste Schmidt über 20 Jahre später ins Leben gerufene Allgemeine Deutsche Lehrerinnen Verein (ADLV) hat ungleich größeren Einfluss entwickeln können, doch hat Calms Initiative 1869 dazu beigetragen, die Probleme überhaupt erst einmal zu thematisieren. Mit der Stellung der Lehrerinnen hat sich Marie Calm nicht nur im Verein, sondern auch in Artikeln und Vorträgen auseinandergesetzt.
Der Casseler Frauenbildungsverein
Als Marie Calm in Cassel ansässig geworden war, kam sie in Kontakt mit den Leipziger Frauen, die 1865 den Allgemeinen Deutschen Frauenverein (ADF) gegründet hatten. 1869 trug sie die Ideen des ADF in ihr Kasseler Umfeld und organisierte dort dessen sehr erfolgreiche dritte Wanderversammlung7. In seiner Folge wurde der Casseler Frauenbildungsverein (CFBV) gegründet, der faktisch als Ortsgruppe des ADF fungierte8. Der CFBV wurde schnell aktiv und erfolgreich, er konnte in wenigen Jahren 200 Mitglieder werben, um die Jahrhundertwende waren es 350. Direkt nach der Vereinsgründung begann der Vorstand mit der Planung für eine Mädchenschule und richtete erste Kurse ein, im Februar 1870 konnte die Schule bereits eröffnet werden. Sie hatte das Ziel, „die Schülerinnen zu eigenem Denken [anzuregen]“9, doch den Anfang und das Herzstück bildeten erst einmal Handarbeiten und Hauswirtschaft. Sowohl Marie Calm als auch ihre Mitarbeiterin und Nachfolgerin Auguste Förster waren überzeugt von der Notwendigkeit fundierter hauswirtschaftlicher Kenntnisse für Mädchen. Damit sollten sie nicht nur in die Lage versetzt werden, später den eigenen Haushalt zu führen, sondern auch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu steigern und sich ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. In der Satzung des Vereins war als einer der Vereinszwecke „die Vermittlung des Vorstandes zur Erlangung von Stellen für die Schülerinnen“10 verankert. Deshalb richtete der CFBV nicht nur eine Fachschule für Handarbeiten (Flicken und Stopfen, Weißstickerei, Bügeln, später Maschinenähen, aber immer ergänzt mit allgemeinbildenden Kursen wie Literatur und Geographie) und eine Kochschule ein, sondern ergriff auch praktische Maßnahmen für die Zeit nach der Ausbildung. Die Schülerinnen der Kochschule boten einen ‚Mittagstisch für berufstätige Damen‘ an, präsentierten also ihre Erzeugnisse direkt in der Öffentlichkeit und waren damit als Könnerinnen ihres Faches wahrnehmbar. Die Schülerinnen der Fachschule präsentierten ihre Produkte regelmäßig in gut besuchten Ausstellungen.
Organisatorin im Allgemeinen Deutschen Frauenverein
Marie Calm galt als „der gute Genius des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins“11, sie war von 1875 bis zu ihrem Tod Mitglied des Vorstandes und vertrat den ADF auch auf den Verbandstagen deutscher Frauenbildungs- und Erwerbsvereine und dem Lehrertag12. Nach ihrem erfolgreichen Debut 1869 in Kassel übernahm sie als Vorsitzende des Präsidiums für die Frauentage die Organisation der Wanderversammlungen des ADF. Von ihren Zeitgenossinnen wurde ihr dafür eine besondere Qualifikation bescheinigt: „Gern ging sie als Pionierin in die Städte, in denen der nächste Frauentag abgehalten werden sollte. Und stets gelang es ihrem feinen Takt, ihrem sicheren Blick, die richtigen Personen herauszufinden und mit ihrer warmen Begeisterung und ihrer klaren überzeugenden Rede sie so für die Frauensache zu erwärmen […] Nur so erklärt sich […] der großartige Erfolg, daß bei jeder Wanderversammlung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins ein neuer Frauenbildungsverein entstand. Diese Lokalvereine bezeichneten als Etappen den zurückgelegten Weg der Frauenbewegung und verteidigten zugleich als vorgeschobene Posten die Sache der Frauenbildung und Aufklärung und führten ihr immer neue Streitkräfte zu.“13 Louise Otto-Peters schätzte die Mitgliederzahlen des ADF 1877 auf „mindestens 11 - 12.000“14, zu dieser Entwicklung dürfte demnach Marie Calm mit „ihrer liebenswürdigen Weiblichkeit und feinsinnigen Entschiedenheit“15 einiges beigetragen haben. 1873 wurde gar vorgeschlagen, den Vereinssitz von Leipzig nach Cassel zu verlegen, was aber an Marie Calms entschiedenem Widerstand scheiterte.16
Die Schriftstellerin
Neben der Pädagogik war Marie Calm von der Literatur fasziniert, sie schrieb Romane, Gedichte und Benimmbücher für junge Mädchen. Auch mit ihren literarischen Texten verfolgte sie pädagogische Ansprüche: „[…] der Roman soll zur Erheiterung des Lebens, nicht aber zur täglichen Beschäftigung dienen; er nimmt bei unserer geistigen Nahrung gewissermaßen die Stelle des Kuchens ein, der, hier und da genossen, sehr wohl mundet, […] aber zur alleinigen Nahrung gemacht, uns den Magen verdirbt“.17 Eine Frau sollte nur solche Romane lesen, „die das Leben mit wahren Farben malen, die ihr Menschen zeigen, deren reines, ideales Streben sie zur Nachahmung auffordert, welche, von einem erhabenen edlen Geiste durchdrungen, auch ihren Geist erheben und veredeln“18. Keine Groschenromane also, sondern Erbauungsliteratur – und solche wollte sie auch mit ihren eigenen Geschichten produzieren. Marie Calms Frauenbild, ihre Vorstellungen vom Verhältnis der Geschlechter und der gesellschaftlichen Stellung von Frauen lassen sich daher nicht nur aus ihren Fachartikeln, sondern ebenso aus ihren literarischen Werken herauslesen. Es waren die Vorstellungen der frühen bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland, und zwar die des sehr gemäßigten Flügels. Sie waren im Kern auf bessere, vor allem höhere Bildung und die Schaffung von angemessenen Erwerbsmöglichkeiten für notgedrungen unverheiratet bleibende Frauen ausgerichtet, wobei Ehe und Familie als eigentliche Wirkungsstätte und ureigenste Bestimmung der Frau unangefochten blieben.
Früher Tod und schmaler Nachlass
Marie Calm wurde nur 55 Jahre alt, sie starb 1887 überraschend an einer Herzschwäche. Sie hinterließ erstaunlich wenige Spuren. Ihr Nachlass blieb nicht erhalten, über ihr Leben und Wirken gibt es kurze, von ihren Zeitgenossinnen Anna Plothow, Alice Bousset und Johanna Waescher erstellte Portraits. Nach ihrem frühen Tod wurde sie überschwänglich gelobt und als großer Verlust für die Frauenbewegung bezeichnet, in der heutigen Forschung wird sie als deren Protagonistin nur am Rande wahrgenommen. Gelegentlich findet sie als Schriftstellerin Erwähnung in literarischen Nachschlagewerken und einige ihrer Werke sind inzwischen digital zugänglich. Die Neue Frauenbewegung der 1970er-Jahre hat Marie Calm wiederentdeckt, auch hier wurde aber überwiegend ihre regionale Bedeutung wahrgenommen und weit weniger ihr nicht zu unterschätzender Einfluss auf die ersten Jahrzehnte des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins.
Netzwerk von Marie Calm
Zitate von Marie Calm
Biografie von Marie Calm
Fußnoten
- 1 Calm, Marie: Eine Lehrerin von Gottes Gnaden, in: Die Lehrerin in Schule und Haus, 2.1885/1886, H. 18, S. 563.
- 2 Bousset, Alice: Zwei Vorkämpferinnen für Frauenbildung, Hamburg 1893, S. 30.
- 3 Ebenda.
- 4 Calm, Marie: Eine Lehrerin von Gottes Gnaden, in: Die Lehrerin in Schule und Haus, 2.1885/1886, H. 18, S. 563‒572.
- 5 Calm, Marie: Weibliches Wirken in Küche, Wohnzimmer und Salon, Berlin 1879.
- 6 Calm, Marie: Die Stellung der deutschen Lehrerinnen, Berlin 1870, S. 31.
- 7 So nannte der ADF seine Generalversammlungen, weil sie im Zweijahresrhythmus in verschiedenen Städten durchgeführt wurden.
- 8 Vgl. dazu Wenzel, Cornelia: Initialzündung ─ Der ADF und die Folgen in Kassel (1869-1920), in: Frauenaufbruch in die Moderne. Zum 140. Jahrestag der Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, Leipzig 2006, S. 68‒73.
- 9 Bericht über die Thätigkeit des Casseler Frauenbildungsvereins seit seiner Gründung vom Jahre 1869 bis 1872, Kassel 1872, S. 1.
- 10 Statuten des Frauenbildungsvereins zu Cassel, zitiert nach: Wahlfeldt, Andrea / Willerding, Rita: Mädchenbildung in Frauenhand, Kassel 1987, S. 197.
- 11 Plothow, Anna: Die Begründerinnen der deutschen Frauenbewegung, Leipzig 1907, S. 67.
- 12 Vgl. dazu: Otto-Peters, Louise: Das erste Vierteljahrhundert des Allgemeinen deutschen Frauenvereins, Leipzig 1890, S. 18, 47, 51 und 58.
- 13 Ebenda.
- 14 Otto-Peters: Das erste Vierteljahrhundert, S. 44.
- 15 Vorstand des ADF: Nachruf auf Marie Calm, in: Neue Bahnen, 22. Jg., 1887, H. 7, S. 1.
- 16 Vgl. dazu: Otto-Peters: Das erste Vierteljahrhundert, S. 32.
- 17 Calm, Marie: Ueber Roman-Lektüre, in: Der Frauen-Anwalt, 1873, Nr. 6, S. 175.
- 18 Calm: Weibliches Wirken, S. 66.
Ausgewählte Publikationen
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Calm, Marie: Weibliches Wirken in Küche, Wohnzimmer und Salon, Berlin 1879.
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Calm, Marie: Die Sitten der guten Gesellschaft, Stuttgart 1886.
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Bousset, Alice: Zwei Vorkämpferinnen für Frauenbildung, Hamburg 1893.
-
Plothow, Anna: Die Begründerinnen der deutschen Frauenbewegung, Leipzig 1907.
-
Wahlfeldt, Andrea / Willerding, Rita: Mädchenbildung in Frauenhand, Kassel 1987.