Über Marianne Koerner
„In Bewegung bleiben“
Eine langjährige Freundin Marianne Koerners beschrieb sie mit den Worten, Marianne habe immer „in Bewegung bleiben“1 wollen. Koerners Lebenslauf zeigt, dass Bewegung sowohl politisch und intellektuell, jedoch auch konkret geografisch zu verstehen ist, war sie im Laufe ihres Lebens doch einige Male umgezogen.
Am 8. Mai 1957 in Krefeld geboren ging sie 1978 für ihr Studium der Geschichte, Soziologie, Germanistik und Philosophie nach Gießen und zwei Jahre später nach Göttingen.2 Eine Weiterbildung zur Verlagskauffrau führte sie Ende 1992 nach Bonn.3 Viel lieber hätte die passionierte Historikerin in ihrem studierten Beruf gearbeitet, doch in diesem Bereich gab es kaum bezahlte Stellen.4 So schrieb sie während ihrer Ausbildung weiter an ihrer Dissertation, die 1997 als Buch erschien.5 Auch als promovierte Historikerin arbeitete sie – oft unbezahlt – in verschiedenen Frauen-Geschichtsprojekten. Der letzte Umzug vor ihrem frühen Tod führte Koerner nach Bochum. Ins Ruhrgebiet zog sie wegen einer Arbeitsstelle. Sie arbeitete ab 1998 an der Ruhr-Uni Bochum und zuletzt im FIAB, dem Forschungsinstitut für Arbeiterbildung.6
Bereits 1994 hatte Marianne Koerner beim Archivetreffen in Bonn zwei Mitarbeiterinnen des feministischen Archivs ausZeiten in Bochum kennengelernt. Nun, da sie selbst in Bochum wohnte, besuchte sie das Archiv, um die lokale Geschichte der Frauen zu erforschen und neue Projekte zu entwickeln.
„Für Marianne hat Frauengeschichte den Anspruch, Frauenunterdrückung sichtbar zu machen“7
Die Spezialgebiete von Marianne Koerners historischer Forschung waren Alltags- und Frauengeschichte.8 In diesem Kontext setzte sie sich mit den alltagsgeschichtlichen Theorien und Methoden auseinander, denn: Im Alltag offenbart sich verdrängte Frauengeschichte. In den späten 1980er-Jahren, nachdem Marianne Koerner bereits einige Frauenstadtrundgänge konzipiert und durchgeführt hatte, brachte sie die Verquickung der beiden Forschungsstränge auf den Punkt: „Frauen sollen in ihrem Leben sichtbar gemacht werden: nicht nur die berühmten Frauen, sondern gerade die ,schweigende Mehrheit‘ der ,dienenden‘ Frauen soll gezeigt werden: dabei sollen Unterdrückungszusammenhänge und Widerstandsformen deutlich werden.“9
In den 1980er-Jahren, sie war inzwischen von Gießen nach Göttingen gezogen, führte sie ihr politischer Anspruch an historisches Arbeiten zu den Geschichtswerkstätten, die zu dieser Zeit in ganz (West-)Deutschland entstanden.10 Sie arbeitete in der Göttinger Geschichtswerkstatt, wo sie in den Jahren 1987 und 1988 eine ABM-Stelle (Arbeitsbeschaffungsmaßnahme) innehatte.11 Später engagierte sie sich im Bundesvorstand der Geschichtswerkstätten. Bereits in den frühen 1980er-Jahren etablierte Koerner die Rubrik ,Frauengeschichte/n‘ in der Vereinszeitschrift Geschichtswerkstatt.12 Dort stellte sie auf mehreren Seiten Aktuelles aus dem Bereich der Frauengeschichtsforschung vor, von Veröffentlichungen über Frauenstadtrundgänge und Museumsausstellungen bis hin zu Einrichtungen der Frauenforschung wie Lehrstühle, Netzwerke und autonome Archive.13
Marianne Koerner baute Frauen-Netzwerke innerhalb der feministischen Geschichtswissenschaft auf. In einem Brief an eine Freundin im Jahr 1994 schrieb sie von der herausragenden Bedeutung, die historisch-politisches und feministisches Arbeiten für sie als „lesbische Feministin“14 hatte: „Dann war mir wichtig zu merken, […] dass es mir überlebenswichtig ist, in Frauenzusammenhängen zu leben und politische Arbeit in die Richtung zu machen. Gerade habe ich angefangen, die Stadt [Bonn, K.H.] und die Frauenbewegung genauer unter die Lupe zu nehmen.“15 Bereits 1979, im Alter von 22 Jahren, war sie in der Frauenbewegung aktiv gewesen.16
„Natürlich war jede Art der Arbeit von Marianne eine politische Arbeit“17, erinnert sich Freundin Gabriele. So auch bei ,Miss Marples Schwestern . Frauengeschichte vor Ort‘18. Koerner war Mitbegründerin und spätere „Generalsekretärin“19 dieses aus der autonomen Frauenbewegung entstandenen Netzwerks. Darin hatten sich 1989 Frauen zusammengeschlossen, die frauengeschichtliche Stadtrundgänge erarbeitet hatten.20
1991 gründete Koerner die Gruppe ‚Göttinger Historikerinnen‘, deren Ziel die Vernetzung und der Austausch von Historikerinnen war, die sowohl institutionell angebunden waren als auch nicht institutionell agierten.21
Doch Koerner war auch außerhalb ihrer historisch-politischen Arbeit engagiert. Eine besondere Rolle nahm die „Gruppe schreibender Frauen Göttingen“ ein, die Marianne gemeinsam mit ihrer Freundin Dagmar im Rahmen der Göttinger Frauenwoche 1987 gründete.22 Die Gedichte und Prosa, die Marianne schrieb, beschreibt Dagmar: „Sie hat ganz zarte und sehnsüchtige Gedichte geschrieben. Aber auch einige, die sehr hellsichtig politische Themen [...] aufgegreifen [sic].“23
Ihr frauenpolitischer Tatendrang sollte nach ihrem Umzug nach Bonn nicht abbrechen. Obwohl wenig begeistert von der Ausbildung als Verlagskauffrau, organisierte sie sich auch in diesem Bereich. Sie war Aktive in der Regionalgruppe Köln/Bonn der Bücherfrauen und schließlich Vorstandsmitglied.24 Nach ihrer Ausbildung arbeitete sie wieder in frauengeschichtlichen Projekten, unter anderem wirkte sie in Annette Kuhns Projekt ,100 Jahre Frauenstudium an der Universität Bonn‘ mit.25 Zu ihren Aufgaben im Projekt gehörte neben der redaktionellen Arbeit die Mitarbeit an einer Ausstellung und einem Katalog.26
Weitere Beispiele für Koerners Frauen-Geschichtsarbeit sind im Nachlass zu finden: So war Koerner in den 1990er-Jahren Redaktionsmitglied der Zeitschrift Hypatia. Historische Frauenforschung in der Diskussion.27 Schon in den 1980er-Jahren hatte sie ein Praktikum im Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel absolviert.28 Sie war in der Laura Kulturgruppe in Göttingen aktiv,29 gab über Jahre hinweg Volkshochschulkurse in Göttingen zur Frauen(bewegungs-)geschichte,30 wirkte an frauengeschichtlichen Ausstellungen mit, hielt dutzende Vorträge, veröffentlichte Bücher, Broschüren und Aufsätze.31
„Erstaunlicherweise haben hier auch Frauen gelebt; sogar mehr als Männer!“32
Koerners erstes großes Projekt war der Göttinger Frauenstadtrundgang, den sie anfangs mit einer weiteren Frau konzipiert hatte, recht bald aber in Eigenregie weiterentwickelte und durchführte.33 Im April 1988 verteilten sie die ersten Flugblätter und Einladungen zum Rundgang „Auf die Spur gekommen. Frauenstadtrundgang für Göttingen“.34 Sie verwiesen darin auf die jahrhundertealte, jedoch unbekannte Geschichte von Frauen in Göttingen: „Aber die Geschichte der Frauen ist in dieser Stadt kaum noch wahrnehmbar, denn sie ist verborgen, verschüttet, verpackt. Auf einem Stadtrundgang, den wir speziell für Frauen anbieten, wollen wir die Spuren dieser namenlosen Frauen zurückverfolgen und Einblicke in das alltägliche und besondere Leben in Göttingen geben.“35 Kurz darauf veröffentlichte Koerner die erste Broschüre zum Göttinger Frauenstadtrundgang.36 In einem Vortrag Koerners über das Konzept der Frauenstadtrundgänge wurde die politische Bedeutung von Frauengeschichte für Frauen deutlich. Mit den Rundgängen sollten „Frauen neue Identifikationsmöglichkeiten“37 angeboten werden.
Das Interesse am neuen Göttinger Frauenstadtrundgang war groß – von der DKP-(Deutsche Kommunistische Partei)Frauengruppe38 bis zur evangelischen Frauengruppe39. Koerner führte allein im ersten Jahr nach der Veröffentlichung der Broschüre 15 Frauen-Stadtrundgänge durch40, vielfach unbezahlt, wegen ihrer Erwerbslosigkeit ab 1989 gegen ein Honorar.41
In den folgenden Jahren entwickelte Koerner ihren Rundgang weiter, sie ergänzte Stationen und veröffentlichte ein Buch dazu.42 Für diese Arbeit erhielt sie 1989 den SPD-Frauenpreis der niedersächsischen Parlamentarierinnen.43
Frauengeschichte in Stadtrundgängen zu vermitteln und mit den Frauengruppen gemeinsam zu erlaufen, war zu Koerners Thema geworden. Einige Jahre später entwarf sie eine Station des Bonner Frauenstadtrundgangs zu den „erste[n] Studentinnen“44 der Stadt.
Und auch während ihrer Zeit in Bochum nahm Koerner die Arbeit an einem Frauenstadtrundgang auf.45 Mit anderen Frauen arbeitete sie in der AG Frauenstadtrundgänge des Forums Geschichtskultur an Ruhr und Emscher. Dort vernetzten sich geschichtlich interessierte Frauen und Historikerinnen aus Städten des Ruhrgebiets.46 Wie essenziell Koerners Mitarbeit in dieser AG war, geht aus einem Brief hervor, den ihr eine Kollegin kurz vor ihrem Tod schickte: „Eins steht jedoch fest: die Arbeitsgruppe steht und fällt mit Deiner Person. Ich habe nicht den background, um eine solche Gruppe zu leiten, und ansonsten sehe ich innerhalb der AG keine Frau, die dies leisten könnte. Also, Marianne: komm’ schnell wieder auf die Beine!“47
„Wir Frauen sollten uns wieder selbst sichtbar machen“48
Politische, intellektuelle und geografische Bewegung scheinen sich im Projekt des Frauenstadtrundgangs ähnlich wie in Marianne Koerners Leben zu überschneiden: Mit den Rundgängen soll für Frauen ihre Stadt „durch neues Sehen anders erfahrbar werden. […] Die Stadt wird neu erlebt, Frauen setzen sich mit ihr anders auseinander, sie können sich mit ihr und der Geschichte identifizieren“49.
Diesen feministischen Anspruch an Frauengeschichte teilte Koerner mit vielen Wissenschaftlerinnen der zweiten Frauen- und Lesbenbewegung.50 Die Geschichte vor Ort als Geschichte von Frauen zu erleben und sich damit zu identifizieren, ist Bestandteil antipatriarchaler Bewegungen und damit ein politischer Akt der Befreiung. Die Stadt wird damit zu einem Ort, den sich Frauen in Bewegung aneignen.
Somit ist Bewegung in Koerners Leben als eine Form der Weltaneignung zu verstehen. Sie schrieb in einem ihrer Gedichte über gesellschaftliche Anpassung:
„Mir darüber bewußt zu werden,
Damit ich mich nicht leben lasse,
Sondern aktiv lebe, das ist mein Ziel!“51
Weggefährtinnen betonen, dass bei Marianne Koerner oft ein Gefühl der Heimatlosigkeit zu spüren war.52 Ihr Bedürfnis nach der Sichtbarkeit von Frauen – dem sie durch feministische Geschichtsarbeit nachkam53 – bedeutet somit auch die Aneignung von (gesellschaftlichen) Räumen und Widerstand gegen herrschende Narrative. Koerner bezeichnete sich selbst als von „Rollenkonflikten geschüttelt“54. Vielleicht fand sie in der Frauengeschichte eine Heimat.
Netzwerk von Marianne Koerner
Zitate von Marianne Koerner
Biografie von Marianne Koerner
Fußnoten
- 1 Interview mit Gabriele Eden, Transkript S. 5 f.
- 2 Vgl. NL-MK_005, Bl. 215, Vgl. auch NL-MK_009, Bl. 193.
- 3 Vgl. NL-MK_038, Bl. 93.
- 4 Vgl. NL-MK_061, Bl. 43.
- 5 Vgl. Lebenslauf Marianne Koerner im Anhang der Email ihrer langjährigen Partnerin Ricarda Berg vom 20.09.2023; Koerner, Marianne: Auf fremdem Terrain. Studien- und Alltagserfahrungen von Studentinnen 1900 bis 1918, Bonn 1997.
- 6 Vgl. NL-MK_45, Bl. 23.
- 7 NL-MK_009, Bl. 194.
- 8 Vgl. Opitz-Belakhal, Claudia: Geschlechtergeschichte, Frankfurt/New York 2010, S. 64.
- 9 NL-MK_009, Bl.135 r.
- 10 Vgl. Grotrian, Etta: Barfuß oder Lackschuh? Geschichtswerkstätten und „neue Geschichtsbewegung“ in den 1980er Jahren, Berlin 2023, S. 18–19.
- 11 NL-MK_009, Bl. 193r.
- 12 Vgl. NL-MK_009, Bl. 193r; Vgl. auch NL-MK_032.
- 13 Vgl. NL-MK_032, Bl. 23r.-28r., Bl. 34r., 44r.,46r.-48r.,52r.-54r.
- 14 Interview mit Gabriele Eden, Transkript S. 4.
- 15 NL-MK_061, Bl. 43r.
- 16 Vgl. bspw. NL-MK_035, Bl. 48r. u.49r. Vgl. auch Interview mit Gabriele Eden, Transkript S. 24–27.
- 17 Interview mit Gabriele Eden, Transkript S. 29.
- 18 von Gélieu, Claudia (2019): Miss Marples Schwestern (MMS), in: Digitales Deutsches Frauenarchiv abgerufen am 4.7.2024 unter /akteurinnen/miss-marples-schwestern-mms
- 19 Vgl. NL-MK_025, Bl. 11r.
- 20 Vgl. NL-MK_026, Bl. 42r. u. NL-MK_025, Bl. 11r.
- 21 Vgl. NL-MK_038, Bl. 2r. u. 24r.
- 22 Vgl. Gruppe schreibender Frauen Göttingen (Hg.): Drachin gesucht für Mitflug, Göttingen 1988, S. 3.
- 23 Email von Dagmar Bielstein an Katharina Hugo, 12.7.2023.
- 24 Vgl. NL-MK_60 (I), Bl. 21r. u. NL-MK_60 (II), Bl. 154r.
- 25 NL-MK_030, Bl. 33 r.u.v.-34 r.u.v.
- 26 Vgl. 100 Jahre Frauenstudium. Frauen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn 1996.
- 27 Vgl. NL-MK_019.
- 28 Vgl. NL-MK_032, Bl. 1r.
- 29 Vgl. NL-MK_035.
- 30 Vgl. NL-MK_008.
- 31 Siehe Literaturverzeichnis, Veröffentlichungen Marianne Koerner.
- 32 NL-MK_009, 82.
- 33 NL-MK_038, Bl.138; NL-MK_009, Bl. 7–9.
- 34 NL-MK_009, Bl. 82.
- 35 NL-MK_009, Bl. 82.
- 36 NL-MK_017, Bl. 262.
- 37 NL-MK_038, Bl. 115.
- 38 NL-MK_009, Bl. 109.
- 39 NL_MK_009, Bl. 194.
- 40 NL-MK_009, Bl. 135.
- 41 NL-MK_009, Bl. 138; Vgl. auch NL-MK_038, Bl. 144; vgl. auch NL-MK_009, Bl. 193.
- 42 NL-MK_009, Bl. 185; Vgl. Koerner, Marianne: Auf die Spur gekommen. Frauengeschichte in Göttingen, Neustadt 1989.
- 43 Vgl. NL_MK_011, Bl. 46-67, insb. Bl. 54r., 55r., Bl. 57 r.u.v.
- 44 NL-ML_29, Bl. 98.
- 45 Vgl. NL-MK_45, Bl. 23.
- 46 NL-MK_055.
- 47 NL-MK_055, Bl. 47.
- 48 NL-MK_009,196.
- 49 NL-MK_38, Bl. 112.
- 50 Vgl. Richter, Isabel / Schraut, Sylvia: Geschichte: Geschlecht und Geschichte, in: Becker, Ruth / Kortendiek, Beate (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2004, S. 626–632.
- 51 Gedicht an Onkel Andreas, zitiert aus einer Mail von Ricarda Berg vom 24.6.2023.
- 52 Vgl. Interview mit Gabriele Eden, Transkript S. 5, und Vorgespräch mit Gabriele Eden; vgl. außerdem Email von Ricarda Berg vom 24.6.2023.
- 53 Vgl. NL-MK_009, 196.
- 54 Interview mit Gabriele Eden, Transkript S. 3.