- gedruckt in der Zeitschrift Kinderheil 1905
- CC BY-SA 3.0
Über Johanna Elberskirchen
„Der reine Feminismus ist nolens volens radikal. Notwendig schließt er [...] Mäßigung, Beschränkung, Halbheit aus. Feministisch sein heißt keineswegs un à tout prix ein Recht für eine kleine Anzahl Frauen auf Kosten der anderen Frauen ergattern zu wollen – feministisch sein, das heißt immer nur für Gesamt-Befreiung des gesamten weiblichen Geschlechts kämpfen.“1
Mit diesen durchaus zeitlosen Sätzen intervenierte Johanna Elberskirchen 1913 in die hitzige Debatte zum Frauenstimmrecht, die sie einen ‚schlimmen Schwesternkrieg‘ nannte: In der Auseinandersetzung gaben sich schließlich selbst radikal-bürgerliche Feministinnen mit einem Stimmrecht nur für bürgerliche und adelige Damen zufrieden und verwarfen so den Kampf für ein demokratisches Wahlrecht und gegen das Dreiklassenwahlrecht. Für Johanna Elberskirchen war das nichts anderes als indiskutable ‚Frauenstimmrechts-Klassenpolitik‘ und die Verweigerung von Solidarität.
Hürden nehmen
Johanna Carolina Elberskirchen wurde am 11. April 1864 in Bonn geboren.
Sie wuchs mit vier Geschwistern auf, ein älterer Bruder, drei jüngere Schwestern. Ihre Eltern betrieben eine kleine Obst- und Gemüsehandlung in der Innenstadt. Der Vater war später zudem als Waren- und Immobilienagent tätig. Trotz geschlechter- und klassenbedingter Bildungsbenachteiligung gelang es Johanna Elberskirchen, ihre Wünsche durchzusetzen: Bonner höhere Töchterschule, Lohnarbeit als Kassiererin in Rinteln ab 1884, sogar ein Studium in der Schweiz, weil Frauen in Deutschland akademische Bildung verwehrt war: ab 1891 Medizin in Bern, dann Jura und Volkswirtschaft in Zürich. Ihr Wissensdurst brachte ihr in der Familie den Spitznamen ‚Hannes‘ ein. Als Pseudonym für ihre Texte wählte sie zunächst ‚Hans Carolan‘; rasch publizierte sie jedoch unter ihrem Geburtsnamen.
Sich Raum verschaffen
Sich verstecken, zurückhalten oder wegducken – das war ihre Sache nicht. Egal, wen sie zum Gegenüber hatte, ob feministische Schwestern, Genossen oder universitäre Autoritäten: „Ich hätte auch schreiben können, Feminismus und Schwachsinn, denn die Kritik, die im Namen der Wissenschaft am Feminismus verbrochen wird, hat oft mit Wissenschaft wenig zu tun.“2 So rechnete sie 1903 mit sexistischer Forschung ab; Rezensent*innen nannten ihre Schrift die ‚schärfste Replik‘ auf das antifeministische Machwerk Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes des Neurologen Paul Julius Möbius (1853–1907).
Schon im Alter von 23 Jahren schrieb Elberskirchen ihren ersten (bislang bekannten) Text sogleich mit einer radikalen, gleichheitsfeministischen Perspektive. Später vertrat sie zunehmend auch biologistische Thesen, die sie aber weiterhin sozial und kulturell verknüpfte. Bis zum erzwungenen Ende 1933 finanzierte sie ihren Lebensunterhalt mit Schreiben und Vorträgen. Ihr Stil ist temperamentvoll, frech, ironisch, bissig, polemisch, provokativ, mitunter selbstgerecht und bisweilen unerträglich pathetisch.
Spätestens während ihrer Schweizer Studienzeit kam Johanna Elberskirchen mit der Sozialdemokratie in Kontakt und engagierte sich für Lohnarbeit von Frauen und den Schutz von Arbeiterinnen. Unbeliebt machte sie sich mit ihrer offensiven Kritik an sozialdemokratischer Doppelmoral mit Blick auf das ‚System sexueller Ausbeutung‘, das für sie „genauso antisocialistisch“ war „wie die ökonomische des Arbeiters“.3 Denn als ein bekannter Genosse, Karl Moor (1852–1932), eine junge Arbeiterin vergewaltigt hatte, stellten sich nicht wenige Männer, aber auch Frauen, hinter den Täter oder schwiegen. Elberskirchen wählte – wie so oft – die Öffentlichkeit und skandalisierte die Geschehnisse 1897 in einer Publikation.
Vielseitig politisch aktiv
Um 1900 kehrte sie aus der Schweiz ins Rheinland zurück und lebte in Bonn, Mehlem und Alfter. Ab etwa 1911 arbeitete sie als Vorsitzende des Jugendausschusses und als Schriftführerin des sozialdemokratischen Vereins Bonn-Rheinbach. Polizeilich galt sie als eine der „Hauptagitatorinnen“4 der Stadt.
Neben der Sozialdemokratie engagierte sie sich in Bonn ab 1910 unter anderem mit Margarete Herz (1872–1947)5 und Helene Wolff (1871–1917) in der Ortsgruppe des Preußischen Landesvereins für Frauenstimmrecht. In der erwähnt erbittert geführten Diskussion um Frauen- oder Damenwahlrecht rief Elberskirchen schließlich den Reichsverein für Frauenstimmrecht (Bonn Rheinbach)6 ins Leben – nicht zu verwechseln mit dem Reichsverband für Frauenstimmrecht, der erst 1916 entstand und eine gegenteilige Programmatik verfolgte.
Zu Jahresbeginn 1913 schloss man Elberskirchen aus der sozialdemokratischen Partei aus: Ihr paralleles Engagement im Preußischen Landesverein für Frauenstimmrecht als Bonner Ortsvorsitzende etikettierte man als ‚bürgerlich‘ und behauptete, dies vertrage sich nicht mit der Sozialdemokratie. Ein besonders bitteres Urteil, war sie doch eine aufrechte Streiterin für ein demokratisches Wahlrecht. Sie verließ das Rheinland.
1914 wählte man sie in Berlin als eine der wenigen Frauen in das Amt eines ‚Obmannes‘ des Wissenschaftlich humanitären Komitees (WhK). Das 1897 entstandene WhK kämpfte vor allem für die Abschaffung des die männliche Homosexualität kriminalisierenden § 175 RStGB und war zentral mit dem Namen des Berliner Arztes Magnus Hirschfeld (1868–1935) verknüpft. Auch mit dessen 1919 gegründeten Institut für Sexualwissenschaft in Berlin war sie eng verbunden. In den 20er-Jahren referierte sie für die Weltliga für Sexualreform in Kopenhagen und London, zuletzt in Wien 1930. Offen lesbisch, war Johanna Elberskirchen eine ungewöhnliche Grenzgängerin zwischen Homosexuellen- und Frauenbewegung; ihr Cross-over-Engagement in verschiedenen sozialen Bewegungen war alles andere als typisch.
Neue Liebe – neue Wege
Während ihrer Tätigkeit als Naturärztin in einem Sanatorium in Finkenwalde (Zdroje) bei Stettin (Szczecin) hatte sie 1914 ihre Lebensgefährtin Hildegard Moniac (1891–1967) kennengelernt. Zusammen waren sie nach Berlin gegangen, wo Elberskirchen in der städtischen Säuglingsfürsorge arbeitete, bis die beiden Frauen 1920 nach Rüdersdorf bei Berlin zogen. In ihrem gemeinsamen Haus in der Luisenstraße 32 (heutige Rudolf-Breitscheid-Straße 57) eröffnete sie eine Praxis für homöopathische Heilbehandlungen, die sie bis zu ihrem Tode führte.
Offenbar unbeeindruckt von dem Rauswurf aus der rheinländischen Sozialdemokratie engagierte sich Johanna Elberskirchen parteipolitisch im Rüdersdorfer Ortsverein der SPD und hielt mit dem USPDler Emil Eichhorn (1863–1925) – dem aus Revolutionszeiten bekannten Berliner Polizeipräsidenten – die Festrede zum 1. Mai 1920.
Zäsur 1933
1933 entließen die Nazis Hildegard Moniac, als sogenannt politisch unzuverlässig aus dem Berliner Schuldienst. Denn sie war zuvor Mitglied in der Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD). Johanna Elberskirchen hat während des Nationalsozialismus keinen Antrag an die Reichsschrifttumskammer gestellt, was nötig war, um publiziere zu können. Das sich daraus ergebende Schreibverbot muss bitter für sie gewesen sein, war sie doch eine Person, die über das Wort wirkte. Ökonomisch hatte dies ebenso wie die Zwangsentlassung von Moniac massive Auswirkungen: Die beiden Frauen lebten in Armut und zurückgezogen ins Private. Elberskirchen wurde krank und körperlich immer schwächer. Nach einem atemlosen, hürdenreichen und erfüllten Leben starb sie am 17. Mai 1943 im Alter von 79 Jahren.
Ein Freigeist – und offen lesbisch
Johanna Elberskirchen war ein Freigeist und keineswegs eine Freundin von Haupt- und Nebenwidersprüchen. Auch bestimmten politischen Strömungen oder wissenschaftlichen Schulen fühlte sie sich nicht verpflichtet. Dabei waren ihre querdenkerischen Positionen nicht gerade eine Steilvorlage, um auf der Beliebtheitsskala der Aktivist*innen sozialer Bewegungen im frühen 20. Jahrhundert ganz oben zu rangieren. Dass sie mit lässiger
Nonchalance offen lesbisch war, half dabei auch nicht weiter: „Sind wir Frauen der Emanzipation homosexual – nun dann lasse man uns doch! Dann sind wir es doch mit gutem Recht“, schrieb Elberskirchen 1904 – und eckte an: als Linke und offen Homosexuelle im radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung, als lesbische und radikale Feministin in der Arbeiterbewegung und in der Homosexuellenbewegung, als Nicht-Ärztin unter Sexualwissenschaftlern. Den einen war sie zu viel, den anderen zu wenig bürgerlich. Und zu radikal. Zu feministisch. Zu laut. Zu angriffslustig.
Durch ihre Schriften und Aktivitäten bekam Johanna Elberskirchen europäische Aufmerksamkeit, auch amerikanische Rezeptionen und eine Rezension sind bekannt. Dennoch blieb ihr viel Anerkennung versagt, vor allem feministische.
Widersprüche eines emanzipatorischen Lebens
Insbesondere an ihren sexualreformerischen Arbeiten zeigen sich am deutlichsten die Bruchstellen und Widersprüche auch ihres emanzipatorischen politischen Lebens – vor allem, weil sie seit der Jahrhundertwende beliebte ‚eugenische‘/‚rassenhygienische‘ Behauptungen und Argumente aufgriff und selbst zu deren Weiterverbreitung beitrug. Das heißt, sie teilte die Idee, es sei notwendig, sogenannte hochwertige Kinder hervorzubringen. Hier schwamm sie nicht – wie so oft – gegen den Strom, sondern mit dem Zeitgeist. Auch das war eine Entscheidung. Ausgewiesen rassistische oder antisemitische Überlegungen formulierte sie nicht. Dennoch sucht man in ihrem Werk eine klare Stellungnahme dazu beziehungsweise dagegen vergeblich. In der Kaiserzeit entschied sie sich zudem, einige Jahre nationalistisch gefärbte Thesen im Kontext sozialer Wohlfahrt zu vertreten.
Viele der Themen, denen sich Johanna Elberskirchen widmete, sind
für eine Frauenrechtlerin ihrer Zeit klassisch: Bildung und Lohnarbeit
von Frauen, Sozialisation, Wahlrecht, Sexualität. Gleichzeitig ist vieles in ihrem Werk zeitlos und modern: Ob es um Alibi-Frauen7 geht, um vorgeschobene
Qualifikationsargumente, Verharmlosung von Gewalt, Machtfragen, soziale Gerechtigkeit, Freiheit oder Menschenrechte. Hervorstechend ist ihr Engagement vor allem, wenn sie Tabus brach, etwa mit ihrer frühen Kritik an Männergewalt oder durch ihre Auseinandersetzung mit weiblicher und männlicher Homosexualität.
Kritik an der ‚Mannweiber‘-Theorie: Weibliche Homosexualität als Zug zum Weiblichen
Außergewöhnlich ist Johanna Elberskirchens Bedeutung für die homosexuelle, speziell lesbische Emanzipationsgeschichte. Diese Teile ihrer Forschungsarbeiten sind herausragend und innovativ: Als einzige (bislang bekannte) Person kritisierte sie scharf die sexualwissenschaftliche ‚Mannweiber‘-Theorie über weibliche Homosexuelle, denen man ‚Männlichkeit‘ unterstellte, diese gar in lesbische Frauen hineinprojizierte. Stattdessen setzte sie in ihren Überlegungen die Subjekte lesbischer Liebe wieder als Frauen und sprach von einem „Zug“ vom „Weiblichen“ zum „Weiblichen“.8
Bestattung 30 Jahre später – erinnern und gedenken
Johanna Elberskirchen starb 1943 in Rüdersdorf bei Berlin. Die Urne mit ihrer Asche wurde aber erst 1975 – also 30 Jahre nach ihrem Tod – von zwei Frauen gefunden und heimlich in der Grabstätte ihrer Partnerin Hildegard Moniac beigesetzt.
Inzwischen erinnern an verschiedenen Orten Gedenktafeln an die beiden Frauen: in Rüdersdorf bei Berlin auf dem Friedhof Rudolf-Breitscheid-Straße in der Nähe des anonymen Bestattungsfeldes (2002/2003)9, an ihrem Bonner Geburtshaus in der heutigen Sternstraße 37 (2005/2006)10 und in der Nähe ihres letzten Wohnhauses (heute Rudolf-Breitscheid-Straße 57) auf dem oberen Ende der Peter-Lübkes-Brücke in Rüdersdorf (2017).
Netzwerk von Johanna Elberskirchen
Zitate von Johanna Elberskirchen
Biografie von Johanna Elberskirchen
Fußnoten
- 1 Sofern nicht anders nachgewiesen entstammen alle Angaben, Zitate und Verweise aus der vorliegenden Biografie: Leidinger, Christiane: Keine Tochter aus gutem Hause. Johanna Elberskirchen (1864-1943), Konstanz 2008.
- 2 Elberskirchen, Johanna: Feminismus und Wissenschaft, Leipzig-Reudnitz 1903, 2. Aufl., S. 3 ff; 7 f.
- 3 Elberskirchen, Johanna: Socialdemokratie und sexuelle Anarchie. Beginnende Selbstzersetzung der Socialdemokratie? Zürich 1897, S. 8 f; S. 11; S. 19.
- 4 Brief des Polizeiinspektors an den Oberbürgermeister am 21.11.1913. Stadtarchiv Bonn (StA Bonn) PR 4240.
- 5 Boxhammer, Ingeborg: „Herrin ihrer selbst“: Zahnkunst, Wahlrecht und Vegetarismus – Margarete Herz (1872–1947) und ihr Freundinnen-Netzwerk. Berlin/Leipzig: Hentrich & Hentrich 2019.
- 6 Dies. unter Mitarbeit von Christiane Leidinger 12/2015: Johanna Elberskirchen, ihr politisches Netzwerk im Bonn-Kölner Raum und die Idee einer Frauenfriedensdemonstration zu Beginn des Jahres 1913. Zugriff am 2.2.2018 unter http://lesbengeschichte.org/aktuelles_d.html#Anchor-Forschungssplitter-17150.
- 7 Als Alibi-Frau wird eine Frau bezeichnet, die (meist als einzige) Frau in einer Organisation oder mit Leitungs- oder Entscheidungskompetenz in einem Zusammenschluss tätig ist und als solche immer wieder genannt wird – insbesondere, wenn es darum geht, dass die fehlende Repräsentation von Frauen kritisiert wird. Dann wird die Existenz just dieser Frau(en) als Alibi für und in der Organisation funktionalisiert.
- 8 Elberskirchen, Johanna: Was hat der Mann aus Weib, Kind und sich gemacht? Revolution und Erlösung des Weibes. Eine Abrechnung mit dem Mann – Ein Wegweiser in die Zukunft! o.O., o.J. [3. Aufl. 1904?], S. 4.
- 9 Leidinger, Christiane, 2005: Einführung (zu: erinnern & gedenken, Johanna Elberskirchen, Gedenkfeier Rüdersdorf), Zugriff am 2.2.2018 unter http://lesbengeschichte.org/erinnern_feiern_einfg_d.html.
- 10 Boxhammer, Ingeborg, 2006: Gedenkfeier für Johanna Elberskirchen (zu: erinnern & gedenken, Johanna Elberskirchen, Gedenkfeier Bonn), Zugriff am 2.2.2018 unter lesbengeschichte.org/erinnern_feiern_bonn_d.html.
Ausgewählte Publikationen
-
Boxhammer, Ingeborg: „Herrin ihrer selbst“: Zahnkunst, Wahlrecht und Vegetarismus – Margarete Herz (1872–1947) und ihr Freundinnen-Netzwerk. Berlin/Leipzig: Hentrich & Hentrich 2019.
-
Leidinger, Christiane: Johanna Elberskirchen – Radikale Feministin und unbeugsame Streiterin für das demokratische Wahlrecht. Zum 75. Todestag von Johanna Elberskirchen (1864-1943) am 17. Mai 2018, in: Journal. Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW, 2018, H. 42, S. 36-39.
-
Oellers, Norbert: Die Bonner Schriftstellerin Johanna Elberskirchen – von der Zeit verschluckt?, in: Rey, Manfred/Schloßmacher, Norbert (Hg.): Bonn und das Rheinland. Beiträge zur Geschichte und Kultur einer Region. Festschrift zum 65. Geburtstag von Dietrich Höroldt. Bonner Geschichtsblätter. Jahrbuch des Bonner Heimat- und Geschichtsvereins, Bd. 42, Bonn 1992, S. 527-544.
-
Krettmann, Ulrike: Johanna Elberskirchen, in: Lautmann, Rüdiger (Hg.): Homosexualität. Handbuch zur Theorie- und Forschungsgeschichte. Frankfurt a. M./New York 1993, S. 111-116.
-
Pataky, Sophie: Lexikon deutscher Frauen der Feder. Eine Zusammenstellung der seit dem Jahre 1840 erschienenen Werke weiblicher Autoren nebst biographischen der Lebenden und einem Verzeichnis der Pseudonyme, Berlin 1898. Eintrag Johanna Elberskirchen, S. 186f.