
Über Ina Merkel
Studium und Tätigkeit in SED und FDJ
Ina Merkel wurde am 28. Juli 1957 in Wriezen (Oderbruch) geboren und wuchs in Potsdam und Ost-Berlin auf. Von 1976 bis 1978 absolvierte sie ein Volontariat bei der Jungen Welt, dem Zentralorgan der Freien Deutschen Jugend (FDJ) der DDR. Im Jahre 1977 wurde sie Mitglied der SED und begann im Folgejahr ihr Studium der Kultur- und Theaterwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität. Nach ihrem Diplom im Jahre 1983 arbeitete sie als Forschungsstudentin in der dortigen Sektion Kulturwissenschaft und Ästhetik und legte 1986 ihre Dissertation vor.1 1983 war sie zum stellvertretenden ‚Sekretär‘ der Abteilungsparteiorganisation ihrer Sektion gewählt worden und nahm diese Aufgabe – wie es in einer Jahresbeurteilung ihrer Dozentin Irene Dölling hieß – „mit großem Einsatz und Erfolg in Angriff“2 . Zudem übertrug man ihr die Sektionsleitung der FDJ-Grundorganisation (FDJ-GO). In der Rückschau erklärte Merkel zur Übernahme dieser politischen Funktionen, sie habe „immer zu den sogenannten gesellschaftlich aktiven Leuten“ gehört und an den Universitäten seien ihrer Ansicht nach „die Parteigruppen bei den Geisteswissenschaften die aufmüpfigsten“ gewesen.3 1986 forderte Merkel in einer Festansprache der FDJ-GO zum 40. Jahrestag der SED-Gründung „die Möglichkeit der Veränderung festgefahrener Verhältnisse“ und „das Aufbrechen traditioneller Denk- und Verhaltensweisen bei Jungen und Alten“4 . Im Folgejahr betonte sie in einem Bericht über die Stimmung in ihrer FDJ-Grundorganisation, viele seien der Ansicht, „dass die Formen sozialistischer Demokratie […] entwicklungs- und erneuerungsbedürftig seien“.5
Engagement in der Frauenbewegung im Herbst 1989
Ein grundlegendes Erneuerungsbedürfnis sah Ina Merkel, die sich an der Humboldt-Universität bereits seit ihrer Studienzeit wissenschaftlich mit der Frauenfrage beschäftigt hatte, zwei Jahre später im Hinblick auf das patriarchalisch geprägte Geschlechterverhältnis im ‚Realsozialismus‘ der DDR. Nach eigenem Bekunden besaß Merkel in der „Frauenpolitik […] überhaupt keine Vergangenheit“6 .
Sie war also „ohne Frauengruppenhintergrund“, hatte sich demnach in keiner der nichtstaatlichen Gruppierungen engagiert und kam auch nicht „aus der politischen Opposition“7 . Dennoch kritisierte sie im Oktober 1989 in einem Positionspapier entschieden die „soziale Benachteiligung von Frauen in der sozialistischen Gesellschaft“8 . Obwohl Frauen die Hälfte aller Berufstätigen stellten, seien sie „in allen Entscheidungsgremien entschieden unterrepräsentiert“9 . Ihre besonderen Interessen würden – so fuhr sie fort – in den politischen Organisationen nicht „angemessen artikuliert und vertreten“ und es bestünden „weder adäquate gesellschaftliche Räume noch Medien oder Formen für eine spezifische Frauenöffentlichkeit“10 .
In den folgenden Wochen war es das Ziel bereits existierender informeller oder neu entstehender Frauengruppen, diese Öffentlichkeit herzustellen und sich in den Prozess der Gesellschaftserneuerung aktiv einzumischen. Gemeinsam mit Vertreterinnen der Sozialistischen Fraueninitiative und der Lila Offensive zählte Ina Merkel im November 1989 zu den Mitgliedern des Initiativkomitees zur Gründung eines autonomen Frauenverbandes der DDR, die für den 3. Dezember 1989 zu einem Frauentreffen in die Berliner Volksbühne einluden. Um einer „erneute[n] Ausgrenzung von Frauen bei wichtigen politischen und ökonomischen Entscheidungen“ entgegenzuwirken, sollten sich die unabhängigen Frauengruppen und -initiativen sowie Frauenfraktionen in Parteien und Organisationen unter Beibehaltung ihrer Eigenständigkeit „zu einer politischen Interessenvertretung zusammenschließen“11 .
‚Ohne Frauen ist kein Staat zu machen‘ – Ina Merkels Manifest
Diesem Aufruf folgten etwa 1.200 Frauen und wenige Männer, die zirka 60 Gruppierungen vertraten. Als Gastgeberin und Vertreterin des einladenden Initiativkomitees trug die Schauspielerin Walfriede Schmitt ein von Ina Merkel verfasstes programmatisches Papier vor, welches den Titel trug: Ohne Frauen ist kein Staat zu machen. Einige Frauen-Fragen an ein alternatives Gesellschaftskonzept oder: Manifest für eine autonome Frauenbewegung. Sie hatte es wenige Tage vor der Veranstaltung auf Bitten von Schmitt ausgearbeitet. Merkel bemerkte rückblickend, es sei „ein Zufallsprodukt gewesen, entstanden in einer Nacht, aus der Wut heraus geschrieben, weil ich mich bei einem Vorbereitungstreffen für das große Frauentreffen nicht durchsetzen konnte“12 .
Der Umbruch der DDR-Gesellschaft, so konstatierte sie in ihrem achtseitigen Manifest, wurde von den Massen auf der Straße und somit auch von zahlreichen Frauen eingeleitet. „Aber bei der Ausarbeitung zukünftiger Gesellschaftsstrategien zur Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft“ blieben die Frauen erneut „außen vor“13 .
Neben einer radikalen Quotierung plädierte Merkel dafür, dass allgemeine und spezifische Frauenfragen gesamtgesellschaftlich betrachtet werden müssten. Eine Frauenbewegung, „die ohne ein gesamtgesellschaftliches Konzept sich nur auf die Durchsetzung weiblicher Partikularinteressen“ orientiere, werde „sich am Ende selbst marginalisieren“14 . Man brauche zunächst „eine eigene politische Organisation“, die dafür sorge, „dass Frauenfragen Öffentlichkeit gewinnen und so politikfähig werden“15 . Da Gefahr drohe, dass die berufstätigen Frauen „Rationalisierungs- und Effektivierungsstrategien“ zum Opfer fielen, sollten gezielte Maßnahmen eines Sofortprogramms helfen, absehbare „soziale Härten abzufedern“16 . Die in der Volksbühne Anwesenden einigten sich schließlich auf fünf Punkte, die am Ende des Manifestes genannt wurden und als Minimalkonsens die Basis des zu gründenden Frauenverbandes liefern sollten: Dieser Konsens sah das Eintreten „für einen modernen Sozialismus auf deutschem Boden in einem gemeinsamen europäischen Haus, für eine ökologische Reorganisation der Wirtschaft, für Demokratie, Selbstverwaltung und Öffentlichkeit, für eine multikulturelle Gesellschaft und für ein solidarisches Miteinander aller sozialen Gruppen“ vor.17 Per Akklamation wurde dieses Manifest zum provisorischen Gründungsprogramm des Unabhängigen Frauenverbandes (UFV) und gilt bis heute als eines der zentralen Dokumente der autonomen Frauenbewegung in der DDR. Es war, wie Christian Schenk in der Rückschau bemerkt, „Kondensationspunkt“ des UFV-Gründungstreffens und habe „genau in die Stimmung gepasst“18 . Seine Verfasserin Ina Merkel und Walfriede Schmitt, die es in der Volksbühne vortrug, wurden zu den ersten Sprecherinnen gewählt, die den UFV vier Tage später bei der ersten Sitzung des Zentralen Runden Tisches vertraten.19
Rückzug aus der aktiven Politik
Ina Merkel war zu diesem Zeitpunkt noch Mitglied der SED, die sie aber für „moralisch bankrott“ hielt.20 Am 21. Januar 1990 verließ sie die Partei.21 „Ich weiß nicht, warum ich das solange ausgehalten habe“, erklärte sie wenig später. „Das ist wahrscheinlich eine komische Mischung aus falschem Idealismus und falscher Treue.“22 Aufgrund des beschlossenen Rotationsprinzips vertrat Ina Merkel den UFV in der 1. und 14. Sitzung des Zentralen Runden Tisches. Im März gab sie ihren Posten als UFV-Sprecherin auf und zog sich in der Folge aus der aktiven Politik zurück. Ihr missfiel die starke politische Polarisierung des UFV, die ihrer Ansicht nach „dem ursprünglichen Gründungsinteresse nach einem pluralistischen Dachverband verschiedenster Frauenorganisationen zuwiderlief“23 .
Die Marginalisierung der neuen politischen Gruppierungen der Bürgerbewegung bei den Wahlen im Frühjahr 1990 traf auch den UFV, der mit den Grünen eine Listenverbindung eingegangen war. Was in der kurzen Umbruchphase geblieben sei, so Merkel in der Rückschau, „ist die Erfahrung von Selbstermächtigung. […] Die Frauen haben mit einer bis dahin nie dagewesenen Präsenz ihre Kompetenz, Klugheit, Lebens- und Berufserfahrung eingebracht“24 .
Ina Merkel widmete sich in der Folge wieder ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Nach einem Forschungsaufenthalt in den USA war sie von 1993 bis 1999 als Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Europäische Ethnologie an der Berliner Humboldt-Universität tätig.25 Im Jahre 1999 habilitierte sie26 und wurde Gastprofessorin an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Im Folgejahr übernahm Ina Merkel eine Professur am Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität in Marburg und ist dort bis heute tätig.
Netzwerk von Ina Merkel
Zitate von Ina Merkel
Biografie von Ina Merkel
Fußnoten
- 1Merkel, Ina: Historisch-gesellschaftliche Individualitätsformen und Formen der Vergesellschaftung des Individuums. Kulturtheoretische Studie zur Geschlechtsspezifik individueller Vergesellschaftung, Dissertation, Berlin 1985.
- 2„Betr.: Jahresbeurteilung der Forschungsstudentin Ina Merkel“ von Irene Dölling, 28.6.1984; Archiv der DDR-Opposition der Robert-Havemann-Gesellschaft, Berlin, RHG/GZ-UFV/334.
- 3Maschinenschriftliche Abschrift eines Interviews von Ina Merkel für die Zeitung ‚die andere‘, o. D. [März 1990]; RHG/GZ-UFV/337.
- 4Ansprache bei einer FDJ-Veranstaltung der Sektion Ästhetik/Kunstwissenschaft der HU Berlin zum 40. Jahrestag der SED-Gründung, o. D. [April 1986], RHG/GZ-UFV/334.
- 5„Erste Stellungnahme zur Rede des Gen. Honecker vor den 1. Kreis.[ekretären]“. Bericht der FDJ-GO Ästhetik und Kunstwissenschaften, o. D. [Ina Merkel, 1987]; RHG/GZ-UFV/334.
- 6„Die Frauenbewegung braucht großen politischen Anspruch.“ Interview mit Ina Merkel, in: taz, 6.12.1989; RHG/GZ-AHU/20.
- 7Merkel, Ina: Was war Utopie – und was bleibt? in: Schäfer, Eva et al. (Hg.): Frauenaufbruch '89. Was wir wollten – Was wir wurden, Berlin 2011, S. 30 f.
- 8„Position für eine Strategie zur Aufhebung geschlechtsspezifischer sozialer Unterschiede in der sozialistischen Gesellschaft im Zusammenhang mit einer qualitativen Erneuerung des Systems der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ (Ina Merkel), 19.10.1989, RHG/GP/83a.
- 9Ebenda.
- 10Ebenda.
- 11Aufruf des ‚Initiativkomitees zur Gründung eines autonomen Frauenverbandes der DDR‘, 26.11.1989; RHG/GZ-UFV/335.
- 12Merkel: Was war Utopie, S. 30.
- 13Dies.: Ohne Frauen ist kein Staat zu machen. Einige Frauen-Fragen an ein alternatives Gesellschaftskonzept oder: Manifest für eine autonome Frauenbewegung, Dezember 1989. (Hektographie), RHG/GZ-UFV/335.
- 14Ebenda.
- 15Ebenda.
- 16Ebenda.
- 17Ebenda.
- 18Urgast, Steff (2020): „Unser politischer Ansatz war ein anderer“, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv. Zugriff am 15.03.2021 unter https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/30-jahre-geteilter-feminismus/unser-politischer-ansatz-war-ein-anderer.
- 19Sänger, Eva: Begrenzte Teilhabe. Ostdeutsche Frauenbewegung und Zentraler Runder Tisch in der DDR (Reihe Politik der Geschlechterverhältnisse, Bd. 29), Frankfurt/New York 2005, S. 178 ff.
- 20Merkel, Ina: Ohne Frauen ist kein Staat zu machen. Einige Frauen-Fragen an ein alternatives Gesellschaftskonzept oder: Manifest für eine autonome Frauenbewegung, Dezember 1989. (Hektographie), RHG/UFV/335.
- 21Teilenehmerliste des Treffens der Plattformen, die am 21.1.90 den Beschluss zum kollektiven Austritt aus der ‚SED-PDS‘ gefasst haben, RHG/GZ-UFV/334.
- 22Maschinenschriftliche Abschrift eines Interviews von Ina Merkel für die Zeitung ‚die andere‘, o. D.; [März 1990], RHG/GZ-UFV/337.
- 23„…und alle Frauen fliegen hoch – 10 Jahre Frauenwende, in: Weibblick. Zeitschrift aus Frauensicht, Nr. 4/1999, S. 44.
- 24Merkel: Was war Utopie, S. 37.
- 25https://www.uni-marburg.de/de/fb03/euroethno/institut/personendetails/ina-merkel (Zugriff am 15.03.2021).
- 26Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln u.a. 1999.
Weiterführende Informationen
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Alles zu Ina Merkel im Digitalen Deutschen Frauenarchivhttps://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/suche?term=Ina%20Merkel
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Alles zu Ina Merkel im META-Kataloghttps://meta-katalog.eu/Search/Results?lookfor=Ina%20Merkel
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weitere Informationen zu Prof. Dr. Ina Merkel bei der Uni Marburghttps://www.uni-marburg.de/de/fb03/euroethno/institut/personendetails/ina-merkel
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