- Foto: Richard Stettiner, Archiv des Lette-Vereins, LV_Archiv_B_12_F2_22
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Über Handels- und Gewerbeschule des Lette-Vereins
Förderung neuer Berufe
Mit dem Ziel der Förderung von Erwerbsfähigkeit und höherer Bildung der Frauen gegründet, unterstützte der Lette-Verein seit 1866 die Ausbildung von Frauen auf gewerblichem, kaufmännischem und technischem Gebiet in Berlin. In Preußen gab es seit dem frühen 19. Jahrhundert spezielle Fachschulen für die berufliche Bildung – die Gewerbeschulen für junge Männer.1 Gewerbeschulen für Frauen bekamen keine Förderung, viele Familien oder gar Witwen konnten die Schulkosten für die Töchter nicht aufbringen. Zunächst förderte der Lette-Verein durch Freistellen die bereits bestehenden privaten Handels- und Gewerbeschulen Clement in der Behrenstraße 50, später Hausvogteiplatz 5, und Lohff in der Neuen Königstraße 14, später Poststraße 11, sowie die Zeichen-Akademie Scholz-Troschel in der Neuen Friedrichstraße 5–8 und die Gewerbe-Akademie.2 Hier erhielten Frauen ab 15 Jahren Ausbildungen in Sprachen, Handelsschrift, Korrespondenz, Rechnen, Buchhaltung, Physik, Chemie, Warenkunde, Technologie, Kunstzeichnen und industriellem Zeichnen. Die Töchter von Lehrern, Beamten, Ärzten, Militärs, Kaufleuten und Handwerkern arbeiteten nach der Ausbildung meist im Geschäft der Eltern oder als Angestellte in Berliner Betrieben.3
Diese Frauen setzten das von der Frauenbewegung seit Mitte des 19. Jahrhunderts geforderte Recht auf Arbeit für Frauen der bürgerlichen Mittel- und Oberschicht4 in die Tat um. Schülerinnen gab es genug. Die Ausbildungsqualität jedoch genügte den Anforderungen der Wirtschaft noch nicht und der Unterhalt dieser Schulen war schwierig.
Die erste eigene Schule
1872 erwarb der Lette-Verein ein eigenes Haus in der Königgrätzer Straße 90. Hier konzentrierte die Vorsitzende Anna Schepeler-Lette die Aktivitäten des Vereins und begründete die erste eigene Schule des Vereins – die Handels- und Gewerbeschule mit angeschlossener Zeichenschule. Das Ausbildungsangebot orientierte sich am Bedarf der Industrie und der Wirtschaft. Dort kamen viele neue Techniken zum Einsatz, die Frauen neue Berufsmöglichkeiten eröffneten. In Trägerschaft des angesehenen Vereins hatte die Schule eine flexible wirtschaftliche Basis. Umfangreiche Spenden und staatliche Förderung konnten so gesichert und gut angelegt werden. Die liberal eingestellte Kronprinzessin Victoria unterstützte die Entwicklung und war regelmäßig Gast bei Feiern und Abschlusspräsentationen, bei denen Schülerinnen vorführten, was sie in Maschinennähen, Wäscheanfertigung, Buchhaltung sowie im Putzfach und Ornamentzeichnen5 gelernt hatten. In der Handelsschule wurde in allen neuen Techniken wie Stenographie, Maschineschreiben, Telegraphie ausgebildet. In der Zeichenschule wurden Ausbildungsgänge für kunstgewerbliches Zeichnen und ab 1875 für Zeichenlehrerinnen aufgebaut. Die Absolventinnen des Lehrerinnenseminars erhielten vom Kultusministerium die Erlaubnis, ihre Prüfung an der Königlichen Kunstschule abzulegen.6 In den folgenden Jahren wurden Ausbildungsgänge für Handarbeits-, Gewerbe-, Industrie-, Hauswirtschafts- und Handelslehrerinnen aufgebaut, der Lette-Verein wurde so zu einer zentralen Einrichtung der Lehrerinnenausbildung in Preußen.
Die Schülerinnenzahlen der neuen Schule stiegen stetig, nahezu alle Absolventinnen fanden Arbeit.7 Erwerbliche Tätigkeit von Frauen außerhalb der Wohnung war zunehmend auch in bürgerlichen Schichten möglich.
Nach dem Tod von Anna Schepeler-Lette 1897 übernahm Elisabeth Kaselowsky den Vereinsvorsitz. Inzwischen hatte Victorias Schwiegertochter, Kaiserin Auguste Viktoria großen Einfluß, die vornehmlich ‚weibliche Berufe‘ förderte. Gewerbliche Ausbildungen wie Kunstweberei, Kunststickerei, Putzmacherei, Frisierkunst, Damenschneiderei und Wäschezuschneiderei wurden ausgebaut. Ausstellungsstücke aus diesen Klassen hatten die Aufmerksamkeit internationaler Gäste auf der Weltausstellung in Chicago 1893 erregt: „Du konntest hier die historische Entwicklung der Damenmode verfolgen, beginnend vom Weinblatt bis zu prunkvollsten und verstörend kostbaren Kostümen. Alle möglichen Erzeugnisse des Schneiderhandwerks und der Nähkunst sahst du hier sowie haufenweise Kindersachen und Spielzeug, dazu äußerst geschmackvolle Handarbeiten, Produkte gesicherter Existenzen, für die weder die aufgewendete Zeit noch die Arbeit berechnet wurden.“8, berichtete der eher sozialistisch eingestellte Journalist Aleko Konstantinow seinem Lesepublikum über seinen Besuch im Women’s Building. Elisabeth Kaslowsky hatte die besten Schülerinnenarbeiten ausgewählt und zur Schau beigesteuert.9 Das Berliner Publikum konnte die Stücke auf der Gewerbeausstellung 1896 bewundern.
Neuordnung
1902 zog der Lette-Verein in sein neu erbautes Haus am Viktoria-Luise-Platz in Schöneberg, wo er sich bis heute befindet. Auf dem großen Campus konnten alle inzwischen entstandenen Einrichtungen, Schulabteilungen, Werkstätten und die Photographische Lehranstalt untergebracht werden. 1904 präsentierte sich der Verein dem Internationalen Frauenkongress als Ausbildungsstätte für vielfältige Frauenberufe und zeigte in seinen Räumen Ergebnisse der gewerblichen Ausbildung.
Die von Milly Cossmann geleitete Handelsabteilung und die gewerbliche Abteilung mit den Vorsteherinnen Antonie Arndt und Käthe Blau boten neben der Lehrerinnenausbildung vor allem verschiedene Einzelkurse an, die in unterschiedlichen Zusammensetzungen absolviert werden konnten. Werkstätten und Fachklassen wie Kunstweberei unter Maria Brinkmann, Hauswirtschaft unter Elise Hannemann, Schneiderei unter Hermine Bartesch waren angegliedert.
Nun sollten Berufslehrgänge mit Rahmenplänen entwickelt werden. Die Schule bekam eine vom Vereinsvorsitz getrennte Leitung, die eine moderne Schulverwaltung aufbauen sollte.10 1912 wurde für diesen Posten Lilly Hauff gewonnen. Bis 1933 blieb sie Direktorin der Schule und als solche verantwortlich für Personal, Organisation und Lehrpläne. Der organisatorische Umbau ist an den Broschüren mit Statuten und Programmen abzulesen. Aus einem losen Zusammenschluss der Abteilungen, Werkstätten und Klassen entwickelte sie nach und nach eine zentral organisierte Schulstruktur.11
Neue Berufe
Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des Kaiserreichs 1918 reagierten die neue Vereinsvorsitzende Katharina von Haxthausen und die Direktorin Lilly Hauff auf die neuen Erfordernisse und förderten die Entwicklung von Ausbildungen, mit denen Frauen auf dem Arbeitsmarkt der Weimarer Republik bestehen konnten. Ab 1919 wurde in der Handelsschule ein neuer Beruf – die Gutssekretärin – angeboten. Für die Nahrungsmittelindustrie wurde der Versuch gestartet, Prüflaborantinnen auszubilden. Maria May richtete eine Stoffdruckerei ein. Charlotte Siebert-Wernekink übernahm die erste Fachklasse für Modezeichnen. Sie spezialisierte sich später auf Kostümgeschichte und historische Schnitttechnik. Theaterschneiderei und Dekorationskunst, Buchbinderei und Textiles Kunstgewerbe, Reklamegrafik und Modejournalismus gehörten zum Programm. Lilly Hauff versuchte, staatliche Anerkennungen für Ausbildungsgänge zu erwirken und Ausbildungs- und Prüfungsordnungen genehmigen zu lassen. Sie sorgte für vielfältige Verbindungen der Schulen zu Schulverwaltung und Berufsberatung einerseits und zur Frauenbewegung andererseits. Sie nahm selbst an Frauenkongressen teil und beteiligte sich an Publikationen zu Frauenberufen , unterstützte und förderte Publikationen, Reisen und Fortbildungen ihrer Mitarbeiterinnen.12
Internationale Arbeit
Die internationalen Kontakte der Frauenbewegung beförderten Schulgründungen und den Austausch mit Schulen in anderen Ländern. Belegt sind die Gründung einer bulgarischen sozialen Frauenschule nach dem Muster der von Alice Salomon geführten Schule in Berlin13 sowie die langjährige Beziehung der Gewerbeschule des Lette-Vereins zu der 1893 gegründeten Gewerbeschule Maria Luisa in Sofia.14 Lilly Hauff hatte 1931 auf Bitten der Vorsitzenden des bulgarischen Frauenverbands Dimitrana Iwanowa die Leiterin der Fachklasse für Modezeichnen, Charlotte Siebert-Wernekink, nach Sofia reisen lassen, um dort Fortbildungskurse für Gewerbelehrerinnen zu geben. Gemeinsam mit Stefana Pisarewa-Schnitter, Lehrerin an der Sofioter Gewerbeschule und ehemalige Lette-Schülerin, gab Wernekink, wie sie sich nach dem Tod ihres Mannes nannte, im Anschluss ein Lehrbuch der Kostümgeschichte heraus.15 Weitere Reisen folgten 1940 und 1941 und führten zu einer langjährigen Verbundenheit mit bulgarischen Kolleginnen.16
Wernekinks Klassen für Mode, Modeillustration und Reklamegrafik waren neben denen für Kunsthandarbeit, Kunststickerei, Wäscheanfertigung, Schneiderei und Kunststopfen in der Gewerblichen Abteilung übriggeblieben, nachdem im Nationalsozialismus die Ausbildungsgänge des Lette-Vereins reduziert worden waren. Die Kaufmännische Abteilung hatte ihre Handelslehrgänge und die Gutssekretärinnen-Ausbildung aufrecht halten können. Die Hauswirtschaftliche Abteilung führte noch Haushaltungslehrgänge durch.
Ab 1938 wurden die Abteilungen nach aktueller Gesetzgebung als Gewerbliche, Kaufmännische und Hauswirtschaftliche Berufsfachschule geführt.17
Charlotte Siebert-Wernekink übernahm 1945 die Leitung der Gewerblichen Berufsfachschule, die heute als Berufsfachschule für Foto-, Grafik- und Modedesign weiterbesteht. Aus der Hauswirtschaftlichen Berufsfachschule wurde die heutige Berufsfachschule für Ernährung und Versorgung. Die Kaufmännische Berufsfachschule wurde 1975 geschlossen.
Zur Geschichte des Lette-Vereins und seiner Einrichtungen in der Zeit von 1933 bis 1945 besteht noch erheblicher Forschungsbedarf.
Netzwerk von Handels- und Gewerbeschule des Lette-Vereins
Biografie von Handels- und Gewerbeschule des Lette-Vereins
Fußnoten
- 1 Obschernitzki, Doris: Der Frau ihre Arbeit!, Berlin 1986, S. 47 f.
- 2 Cossmann, Milly: 50 Jahre Lette-Verein, Berlin 1916, S. 14; 3. Rechenschaftsbericht des Lette-Vereins, Berlin 1870, S. 6, digitalisiert unter https://reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10767206.html.
- 3 Ebenda, S. 16‒26.
- 4 Schiersmann, Christiane: Frauenbildung: Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven, Weinheim 1993, S. 12 f.
- 5 Wäsche waren damals waschbare Teile der Bekleidung, Putz waren die Verschönerungen über der Kleidung.
- 6 Cossmann, Milly: 50 Jahre Lette-Verein, Berlin 1916, S. 22, digitalisiert unter https://easydb.lette-verein.de/detail/2620.
- 7 18. Rechenschaftsbericht des Lette-Vereins, Berlin 1891, S. 9 f, digitalisiert unter https://zs.thulb.uni-jena.de/receive/jportal_jpvolume_00226544.
- 8 Konstantinow, Aleko: Nach Chicago und zurück, Klagenfurt 2016, S. 68.
- 9 The World's Congress of Representative Women / edited by May Wright Sewall, Chicago 1894, Bd. 2.
- 10 Obschernitzki, Der Frau ihre Arbeit!, S. 112.
- 11 Ebenda, S. 159.
- 12 Jahresberichte des Lette-Vereins 1912-1932.
- 13 Popova, Kristina: Traces of Rayna Petkova: in search for a balance between social control, profession and charity, in: Need and care : glimpses into the beginnings of Eastern Europe's professional welfare, Opladen 2005, S. 37‒52.
- 14 Nazǎrska, Žoržeta: Devičeskite zanajatčijski praktičeski učilišta, in: Balkanistic Forum, 2019, H. 1, S. 219.
- 15 Sibert Vernekink, Lotte: Istorija na oblekloto, Sofija, 1933.
- 16 Lette Verein Berlin, Archiv - LV_A_240_01_Siebert-Wernekink_Nachlass.
- 17 Obschernitzki, Der Frau ihre Arbeit!, S. 191.
Ausgewählte Publikationen
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Rechenschaftsberichte des Lette-Vereins 1890-1932
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Obschernitzki, Doris: Der Frau ihre Arbeit!. Berlin 1986