Über Gymnastikschule Schwarzerden
Die Geschichte der Frauengymnastikschule Schwarzerden begann, als sich die beiden Lehrerinnen Marie Buchhold (1890–1983) und Elisabeth Vogler (1892–1975) sowie die ausgebildete Gärtnerin Martha Neumayer (1900–1976) im Jahr 1922 in der hessischen Rhön niederließen, um dort eine Berufsausbildungsstätte für Gymnastiklehrerinnen ins Leben zu rufen. Vogler und Buchhold kamen aus der Frauen- und Jugendbewegung und hatten sich in der Lebensreformsiedlung Frankenfeld kennengelernt. Als dieses gemischtgeschlechtliche Siedlungsprojekt scheiterte, zogen die beiden in die Rhön, um hier eine Frauensiedlung zu gründen; Neumayer stieß dazu.
Um Frauen eine eigenständige Berufsausbildung zu ermöglichen, initiierten die Gründerinnen eine Schule, in der Gymnastik, Körperhaltung sowie sozialpädagogische Inhalte gelehrt werden sollten.1 Die Gemeinschaft der ersten Siedlerinnen, die aus zwölf Frauen bestand, lehnte kapitalistische Gesellschaftsstrukturen ab. Sie verstand sich hingegen als Wirtschaftsgemeinschaft, die eine allumfassende Gütergemeinschaft praktizierte.2 Dementsprechend wurden zu Beginn sowohl Garten- und Landwirtschaft als auch ein Handwerksbetrieb betrieben .
Bevor der erste offiziell anerkannte Ausbildungslehrgang zum Beruf der Sozialgymnastin angeboten wurde, hatten Vogler und Buchhold ihre spezielle Schwarzerdener Gymnastik für Kinder und Erwachsene ausgearbeitet, die sich durch eine ganzheitliche Auffassung von Körper und Bewegung auszeichnete und Vorstellungen der Lebensreformbewegung aufgriff.3 Die Entwicklung von einer ländlichen Siedlungsgemeinschaft hin zur Schule Schwarzerden als Ausbildungsstätte für sozial angewandte Gymnastik und Körperarbeit war 1927 abgeschlossen, nachdem die Schule die offizielle Genehmigung als private Berufseinrichtung durch den Kasseler Regierungspräsidenten erhalten hatte.4 Damit konnte die in Schwarzerden entwickelte Ausbildung zur Sozialgymnastin aufgenommen werden.
Sport, Beruf, Emanzipation
Für Marie Buchhold und Elisabeth Vogler war ihr Körper- und Bewegungskonzept nicht nur ein individueller Emanzipationsweg für Frauen. Ebenso ging es ihnen darum, Frauen durch die Möglichkeit einer professionellen Ausbildung neue Berufsperspektiven zu eröffnen, denn diese waren auch in der Weimarer Republik immer noch unzureichend. Damit knüpften sie praktisch an die Ideen der liberal-bürgerlichen Frauenbewegung an, die es als eines ihrer Arbeitsfelder ansah, Berufsfelder für Frauen zu öffnen und ihnen damit ein selbstbestimmteres Leben zu ermöglichen.
Der Beruf der Sozialgymnastin stellte im Spektrum weiblicher Berufsmöglichkeiten ein Novum dar. Mit der Verbindung von Gymnastik und Heilkunde orientierten sich die Berufsinhalte an den ganzheitlichen Gesundheits- und Körperkonzepten, die aus der Lebensreformbewegung um 1900 hervorgegangen waren. Entsprechend dieser Vorstellungen, nach denen die Komponenten Luft, Licht, Wasser, Natur und gesunde Ernährung als natürliche Heilmittel betrachtet wurden, konzipierte sich das pädagogische Programm in Schwarzerden. Lehrinhalte waren unter anderem: gymnastische Übungen, teilweise begleitet durch Musikinstrumente, Körperfunktions- und Bewegungslehre, Anatomie, Hygiene, Ernährungslehre, Luft- und Sonnenbadtechnik sowie Leichtathletik. Darüber hinaus fanden Soziologie, Psychologie, Gesetzeskunde und Wirtschaft Eingang in den Fächerkanon.5
Angehende Sozialgymnastinnen sollten somit befähigt werden, in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen zu arbeiten und die Tätigkeiten von Fürsorgerinnen, Kindergärtnerinnen sowie Hortnerinnen in Kinder-, Jugend- und Erziehungsheimen gewinnbringend zu unterstützen. Darüber hinaus wurden Zusatz- und Weiterbildungskurse angeboten, die sich vorrangig an Ärztinnen richteten. Im Winterhalbjahr 1929 besuchten insgesamt 51 Schülerinnen Schwarzerden.6
Ab den 1930er-Jahren begab sich Marie Buchhold vermehrt auf Vortragsreisen, um gezielt für die Schule zu werben. Begleitet wurde diese Werbestrategie durch die Teilnahme an diversen Ausstellungen, wie zum Beispiel der Internationalen Hygieneausstellung 1930 in Dresden oder der Ausstellung Die Frau in Familie, Haus und Beruf, die als Kooperationsprojekt zwischen dem Berliner Messe- und Verkehrsamt, dem Hygienemuseum und den Frauenverbänden Deutschlands 1933 in Berlin stattfand.7 Darüber hinaus betrieben die Schwarzerdnerinnen eine rege Presse- und Publikationsarbeit. So erschienen regelmäßig Artikel und Anzeigen in einschlägigen Zeitschriften, wie unter anderem in Die Frau, Der Naturarzt, Deutsche Frauen-Kultur sowie in diversen Tageszeitungen. Durch diese gezielte Öffentlichkeitsarbeit erhielt das Ausbildungskonzept von Schwarzerden, verbunden mit einem Zuwachs an Schülerinnen, insbesondere in pädagogisch-akademischen Kreisen Anerkennung.
Schwarzerden im Nationalsozialismus
Trotz des anfänglichen Erfolgs geriet Schwarzerden im Zuge der Weltwirtschaftskrise in ökonomische Bedrängnis. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht gelangten, hofften die Gründerinnen, dass die neue Regierung die Schule finanziell unterstützen würden. Dafür setzte sich Marie Buchhold mit dem NS-Kultus- und Erziehungsministerium in Verbindung. Es gelang ihr, dass das Ministerium die Einrichtung sogenannter Lehrinnen-Fortbildungskurse auf dem Land förderte, was der Schule eine neue Einnahmequelle eröffnete.
Bereits 1934 kam es mit dem Beitritt des Schulpersonals zum Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) zu ersten organisatorischen Verflechtungen mit dem neuen NS-System.8 Schwarzerden wurde gleichgeschaltet und dem Reichsverband Deutscher Turn-, Sport- und Gymnastiklehrer eingegliedert. Damit änderten sich auch die Ausbildungsstrukturen.9 Mit der Idee, Anteil an einer ‚volksdeutschen Erziehungsarbeit‘ zu haben, fand die nationalsozialistische Bio- und Rassenpolitik Eingang in den Lehrkanon. Insbesondere die Fächer Pädagogik, Geschichte, Politik und Staatskunde wurden für die theoretische Vermittlung der NS-Ideologie genutzt.
In diesem Sinne wurden auch Leistungsnachweise und Prüfungsmodalitäten verändert, indem beispielsweise nach den „nationalsozialistischen Erziehungssätzen“, nach „Zusammenhänge[n] über Rasse und Volk“, nach einer „rassischen Zusammensetzung der Juden“ oder nach „Gesetze[n] zum Schutze des Deutschen Blutes und der Deutschen Ehre“ gefragt wurde.10 Es steht zu vermuten, dass auch in den Sport- und Gymnastikübungen nationalsozialistische Körperideale umgesetzt wurden. Für das ursprüngliche Konzept der Schwarzerdener Frauengymnastik bedeute dies eine grundlegende Änderung der Intention.
Ging es in der Weimarer Republik um eine Emanzipation der Frau von patriarchalen Vorstellungen, wurden im NS ideologisch definierte Geschlechterrollen vermittelt. Denn die NS-Sportideologie propagierte Leibungsübungen, die auf vermeintlich weibliche und männliche Wesensmerkmale rekurrierte und Gymnastik durch deren anmutige und graziöse Bewegungen entsprechend als Frauensport deklarierte. Damit verbunden wurde der Gymnastik ein metaphorischer Rassenbegriff eingeschrieben, mit dem Ziel, eine Frauengeneration zu schaffen, die durch die Umsetzung NS-ideologischer Körper und Gesundheitsvorstellungen den ‚Aufstieg‘ des deutschen Volkes ermöglichen sollte. Gymnastik, so wie sie in Schwarzerden praktiziert und gelehrt wurde, sollte demgemäß zur sogenannten nationalen Körpererziehung beitragen.
Diesem Anspruch wurde nicht nur in internen Kreisen der Schule nachgekommen, sondern es galt, diese Vorstellungen auch in die breite Öffentlichkeit zu tragen. So wurde 1937 ein sogenannter Reichsberufswettkampf in Schwarzerden ausgerichtet, an dem die Schülerinnen Schwarzerdens mit dem Thema Gesundheitsführung und Erziehung durch Gymnastik im nationalsozialistischen Staat teilnahmen.11 In diesem Kontext führten die Leiterinnen Schwarzerdens eine umfangreiche Korrespondenz mit dem Deutschen Reichsbund für Leibesübungen.12 1938 wurden Buchhold und Vogler Mitglieder der NS-Volkswohlfahrt und traten der NSDAP bei.13 Insbesondere Buchhold entfaltete eine rege Tätigkeit im NS-Staat: Sie hatte das Amt der damaligen Kulturreferentin inne und erhielt 1939 für ihre Verdienste die Medaille der sogenannten deutschen Volkspflege.
Schwarzerden nach 1945
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs verfügte die US-amerikanische Besatzungsmacht die Schließung aller Schulen, wovon auch Schwarzerden bis 1946 kurzfristig betroffen war. In den folgenden Jahren durchlief die Schule eine Neugestaltung der Ausbildungsstrukturen und -inhalte . Beide Gründerinnen lebten und arbeiteten weiterhin in Schwarzerden. Vogler schaffte es, dass die Schule in den späten 1940er-Jahren wieder ihre Arbeit aufnehmen konnte, indem neue Finanzierungsmöglichkeiten erschlossen wurden. Buchhold war hingegen aufgrund ihrer nationalsozialistischen Verstrickungen nicht mehr aktiv am Schulgeschehen beteiligt.
In den 1970er-Jahren erfolgte aufgrund staatlicher Vorgaben eine strukturelle Vereinheitlichung aller Gymnastikschulen der einzelnen westdeutschen Bundesländer, wobei die Schwerpunktsetzung der einzelnen Schulen garantiert blieb. In Schwarzerden war dies das Fach Gesundheitslehre im Sinne einer ganzheitlich orientierten Sichtweise. Es wurden Zusammenhänge zwischen Krankheit, Gesundheit und Lebensbedingungen thematisiert und das Ernährungskonzept der Schule auf Vollwertkost umgestellt.
1979 endete die Phase als Frauenschule, da erstmalig Männer die Ausbildung zum Gymnastiklehrer absolvieren konnten. 1985 und 1996 kam es mit der Einrichtung der Ergo- und Physiotherapieausbildung zu einer weiteren Umstrukturierung des Ausbildungsangebots. Mit der Insolvenz 2018 endet die Geschichte Schwarzerdens. Die Räumlichkeiten der Schule dienen heute einem Mehrgenerationenprojekt.
Der Nachlass der Schule wurde 2022 dem Archiv der deutschen Frauenbewegung (AddF) übereignet. Mit einem Umfang von 30 Regalmetern umfasst er unter anderem Schulakten, Prüfungsunterlagen, Stundenpläne, (hand-)schriftliche Korrespondenzen, Aufsätze, Fotografien und Sachobjekte aus dem Zeitraum der 1910er- bis 2000er-Jahre.
Netzwerk von Gymnastikschule Schwarzerden
Biografie von Gymnastikschule Schwarzerden
Fußnoten
- 1 Vgl. Behrendt, Andrea: Von einer Utopie zur Ausbildungsstätte – Rekonstruktion eines Institutionalisierungsprozesses am Beispiel der Frauensiedlung und Schule Schwarzerden, unver. Diplomarbeit, Bielefeld 2000, S. 42‒45.
- 2 Vgl. Bericht zum Vortrag von Marie Buchhold zu Schwarzerden auf der 33. Generalversammlung des ADF 1925 in Eisenach, AddF, Kassel, Sign.: NL-K-08; 34-1/7; siehe auch Wörner-Heil, Ortrud: Von der Utopie zur Sozialreform. Jugendsiedlung Frankenfeld im Hessischen Ried und Frauensiedlung Schwarze Erde in der Rhön 1915 bis 1933, Darmstadt 1996, S. 467.
- 3 Zur Lebensreformbewegung siehe Kerbs, Diethart / Reulecke, Jürgen: Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1993, Wuppertal 1998.
- 4 Schwarz, Gudrun: „Gemeinschaftsleben ist immer ein Wagnis.“ Frauensiedlung und Gymnastikschule Schwarzerden in der Rhön, in: Bechtel, Beatrix (Hg.): Die ungeschriebene Geschichte, Wien 1984, S. 238–250, hier S. 239–240.
- 5 Chronik der Schule Schwarzerden. Geschichte einer Frauensiedlung in der Rhön 1927–1987, Gersfeld-Bodenhof 1989, S. 32.
- 6 Schmitz, Henriette: Sozialgymnastik. Körperarbeit als soziale Arbeit, Freiburg 2009, S. 214.
- 7 Die Frau in Familie, Haus und Beruf. Amtlicher Katalog der Ausstellung Berlin 18. März bis 23. April 1933, Berlin 1933.
- 8 Vgl. Wörner-Heil, Utopie, S. 510.
- 9 Vgl. Schmitz, Sozialgymnastik, S. 230.
- 10 Protokoll der Prüfung in Unterrichts- und Erziehungslehre 1942, AddF, Kassel, Sign.: NL-K-27; 96-1.
- 11 Kurzbericht über den Reichswettkampf der örtlichen Fachschulstudentenschaft Schule Schwarzerden, in: Gersfelder Kreisblatt, 26.02.1937, AddF, Kassel, Sign.: NL-K-27; 9-1.
- 12 Korrespondenz mit dem Deutschen Reichsbund für Leibesübungen 1938, AddF, Kassel, Sign.: NL-K-27; 47-3.
- 13 Siehe die Essays von Barbara Krautwald zu Marie Buchhold und Michaela Wilhelm zu Elisabeth Vogler.
Ausgewählte Publikationen
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Schwarz, Gudrun: „Gemeinschaftsleben ist immer ein Wagnis.“ Frauensiedlung und Gymnastikschule Schwarzerden in der Rhön, in: Bechtel, Beatrix (Hg.): Die ungeschriebene Geschichte, Wien 1984, S. 238–250.
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Chronik der Schule Schwarzerden. Geschichte einer Frauensiedlung in der Rhön 1927–1987, Gersfeld-Bodenhof 1989.
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Schmitz, Henriette: Sozialgymnastik. Körperarbeit als soziale Arbeit, Freiburg 2009.
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Wörner-Heil, Ortrud: Von der Utopie zur Sozialreform. Jugendsiedlung Frankenfeld im Hessischen Ried und Frauensiedlung Schwarze Erde in der Rhön 1915 bis 1933, Darmstadt 1996.