Über Frieda Wunderlich
Familie, Schule und Studium
Frieda Wunderlich wurde am 8. November 1884 in (Berlin-)Charlottenburg als zweites Kind des jüdischen Kaufmanns David Wunderlich und seiner Frau Rosa, geborene Askenazy, geboren. Ihre Mutter stammte aus einer alten jüdischen Gelehrtenfamilie1, ihr älterer Bruder Georg (geb. 1883) war Rechtsanwalt, ihre jüngere Schwester Eva (geb. 1889) Literaturwissenschaftlerin.
Frieda Wunderlich besuchte bis 1901 eine Höhere Töchterschule und erhielt anschließend im Großhandelsgeschäft ihres Vaters (Spitzen, Weißwaren und Baumwollgewebe) eine kaufmännische Ausbildung. Mit 26 Jahren machte sie nach privater Vorbereitung 1910 das Abitur am Königstädtischen Realgymnasium in Berlin und studierte anschließend sechs Semester in Berlin und zwei Semester an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau Nationalökonomie und Philosophie. 1914 unterbrach sie ihr Studium und arbeitete während des Ersten Weltkriegs als Leiterin einer Kommission des Nationalen Frauendienstes, im Zeugnis von 1919 bescheinigten ihr Gertrud Bäumer und Josephine Levy Rathenau neben volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Kenntnissen ebenso pädagogisches Geschick .2
Parallel wirkte Frieda Wunderlich als Dozentin an der von Alice Salomon gegründeten Sozialen Frauenschule in Berlin, der Charlottenburger Wohlfahrtschule und in „verschiedenen Kursen zur Ausbildung von Arbeitsnachweisbeamten und Fabrikpflegerinnen“3. 1918/19 war sie Referentin bei der Kriegsamtsstelle in den Marken (Brandenburg). Im Oktober 1919 beschloss sie ihr Studium in Freiburg mit einer staatswissenschaftlichen Promotion (summa cum laude) zum Dr. phil. und der Dissertation Hugo Münsterbergs Bedeutung für die Nationalökonomie.
Berufliches, politisches und frauenbewegtes Engagement bis 1933
Nach dem Studium verknüpfte die 36-jährige Frieda Wunderlich ihr berufliches, (partei-)politisches und frauenbewegtes Engagement mit ihren Qualifikationen in Nationalökonomie und Sozialpolitik. Hinzukam ihr pädagogisches und schriftstellerisches Talent.
Die anerkannte Nationalökonomin
Frieda Wunderlich gilt als Pionierin auf dem wissenschaftlichen und praktischen Gebiet der Nationalökonomie. Sie verband kritische Fragen der theoretischen Ökonomie mit Sozialpolitik und Sozialforschung, Schwerpunkte lagen in den Bereichen Sozialversicherung, Fürsorge und Frauenarbeit. Ihre Veröffentlichungen wie Fabrikpflege. Ein Beitrag zur Betriebspolitik (1926) oder Versicherung, Fürsorge und Krisenrisiko (1932) spiegeln dies wider. 1920/21 war sie Referentin im Deutschen Zentralausschuss für die Auslandshilfe, ab 1923 bis 1933 Generalsekretärin des deutschen Zweiges der International Association for Social Progress, Mitglied der Arbeitsgemeinschaft für Wirtschaftsfragen der Juden in Deutschland und der Vereinigung der Nationalökonominnen.
Die einflussreiche Sozial- und Parteipolitikerin
Als Expertin für Sozialpolitik war Frieda Wunderlich „eine der wichtigen Figuren der Weimarer Sozialreform“4. Sie beeinflusste wegweisende sozialreformerische und sozialpolitische Debatten in der Weimarer Republik, mit einem spezifischen Fokus auf Frauenpolitik, und war an zentralen Gesetzesformulierungen im Bereich (Frauen-)Arbeitsschutz beteiligt. So wirkte Frieda Wunderlich von 1924 bis 1925 als Richterin am Obersten Sozialversicherungsgericht in Berlin und war von 1923 bis 1933 Direktorin im Büro für Sozialpolitik in Berlin, das für eine bessere Absicherung und Stellung der Arbeiterklasse in der Gesellschaft kämpfte. Von 1931 bis 1933 war Frieda Wunderlich Generalsekretärin der Gesellschaft für Soziale Reform, bereits 1923 wurde sie Herausgeberin der Berliner Wochenzeitung Soziale Praxis, „der publizistische Mittelpunkt der Sozialreform und das Organ der Gesellschaft für soziale Reform“5. 1928 war sie Delegierte auf der Konferenz für Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik in Paris, 1932 Mitglied der Kommission für Frauenarbeit bei der International Labour Organisation in Genf und nahm an der 2. Internationalen Konferenz für Soziale Arbeit in Frankfurt am Main teil.
Frieda Wunderlich agierte auch als – liberale – Parteipolitikerin. Sie trat in die Deutsche Demokratische Partei (DDP) ein und war von 1925 bis 1933 Stadtverordnete in Berlin und 1927 im Parteiausschuss der DDP. Als Stadtverordnete gehörte sie dem Verwaltungsausschuss des Landesarbeitsamtes Berlin an und war Mitglied der Wohlfahrtsdeputation der Stadt Berlin. Von 1930 bis 1932 saß sie als Abgeordnete im Preußischen Landtag, hier beschäftigte sie sich besonders mit sozialen Fragen und der Arbeitsmarktpolitik. 1932 wurde sie Mitglied der Kommission für Frauenarbeit beim International Labor Affair Office.
Die inspirierende akademische Lehrerin
Frieda Wunderlichs Lebensweg zeigt eine beeindruckende professionelle Lehrtätigkeit auf, Kolleginnen wie Alice Salomon oder Anna von Gierke beschrieben in Referenzschreiben ihre pädagogische Begabung, ihre Begeisterung und ihr organisatorisches Talent.6 Ihre Dozentur in der Sozialen Frauenschule Berlin führte sie 1920 weiter und sie unterrichtete Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Staatsbürgerkunde. Von 1925 bis 1933 war sie Dozentin an der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit in Berlin7 für Wirtschaft, Sozialpolitik, Arbeitsrecht und Arbeitsschutz und in Fortbildungskursen für Fabrikpflegerinnen. Sie lehrte außerdem an der Verwaltungsakademie der Universität Berlin und der Handelshochschule Berlin im Bereich Sozialpolitik und arbeitete von 1927 bis 1933 als nebenamtliche Dozentin an der Deutschen Gesundheitsfürsorgeschule Berlin-Charlottenburg in Fortbildungslehrgängen für Krankenhausfürsorgerinnen.
Im Juli 1930 erhielt Frieda Wunderlich einen Ruf als Professorin für Soziologie und Sozialpolitik an das Staatliche Berufspädagogische Institut in Berlin, das mit der Handelshochschule Berlin verbunden war und Gewerbelehrer*innen ausbildete. Eine ihrer Kolleginnen war Cora Berliner, die ebenfalls 1930 auf eine Professur für Wirtschaftswissenschaften berufen wurde.
Die engagierte Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung
Chancengleichheit für die Geschlechter war für Frieda Wunderlich selbstverständliches Axiom politischen Handelns.8 Sie engagierte sich für die Berufstätigkeit von Frauen und für Frauenarbeit9, besonders für Arbeiterinnenschutz und Wöchnerinnen-/Mutterschutz. Und sie war überzeugt, dass Frauen mit der Ausweitung der öffentlichen Sozialpolitik zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten erhalten würden. Von 1928 bis 1933 war sie Mitglied im Ausschuss für die Arbeiterinnenfrage und im Ausschuss zur Frage der Altersversorgung des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF). Im Deutschen Verband der Sozialbeamtinnen (DVS), der Vereinigung fürsorglich geschulter Frauen, die ins Beamtentum aufgenommen wurden – ein Mitgliedsverein des BDF –, war Frieda Wunderlich von 1921 bis 1933 Mitglied des Hauptvorstandes und ab 1930 Vertreterin des Hauptvorstandes in der Fachgruppe für Fabrikpflege.
Verfolgung, Vertreibung und das Exil in New York
Nach der Machtergreifung Hitlers musste Frieda Wunderlich 1933 als Jüdin und Sozialdemokratin alle Ämter und Lehr- wie Publikationstätigkeiten aufgeben. Sie wurde nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (BBG) in den Ruhestand versetzt und emigrierte 1933 in die USA, nachdem Ausreiseversuche nach Großbritannien fehlschlugen. Referenzen erhielt sie unter anderem von Alice Salomon und Anna von Gierke.
In New York gehörte Frieda Wunderlich gemeinsam mit zehn Kollegen im Rahmen der New School for Social Research als einzige Frau zur Gründungsgruppe der University in Exile – hier fanden später über 180 emigrierte europäische Wissenschaftler*innen Arbeit –, die die Graduate Faculty der New School for Social Research aufbaute. Frieda Wunderlich erhielt an der Fakultät einen Ruf auf eine Professur für Wirtschaftswissenschaften, Soziologie und Sozialwissenschaften, den sie bis 1954 innehatte. 1939 wurde sie, als erste Frau überhaupt an einer US-amerikanischen Universitätsfakultät, Dekanin der Graduiertenfakultät für Politik- und Sozialwissenschaften. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte blieben die Arbeitswissenschaft, Sozialpolitik und Frauenarbeit, im Exil widmete sie sich auch Fragen der deutschen Wirtschaft, wie ihre Publikationen zeigen, zum Beispiel Geschichte der deutschen Landwirtschaft 1810-1945 (1961) und Farmer and farm labor in the Soviet Zone of Germany (1958). Ihr ungebrochenes politisches Engagement zeigte sich in der Vielzahl von Mitgliedschaften nach 1933, so war Frieda Wunderlich Mitglied der American Association of University Women, der American Academy of Political and Social Science, der American Association for Labor Legislation und beratendes Mitglied des Council for Economic Security.
Frieda Wunderlich starb einundachtzigjährig am 29. Dezember 1965 im Haus ihrer Schwester Eva, bei der sie ihre letzten Lebensjahre verbrachte, in East Orange/ New Jersey. Nach Deutschland ist sie nur vereinzelt zurückgekehrt. Bei einem der Besuche 1954 wurde sie zur Dr. rer. pol. h.c. der Universität Köln ernannt. Seit 1966 wird in ihrem Andenken der Frieda Wunderlich Preis durch die New School for Social Research vergeben.
Zur Bedeutung Frieda Wunderlichs
Prof. Dr. phil., Dr. rer. pol. h.c. Frieda Wunderlich erhielt eine der ersten Professuren für Soziologie, sie gehörte wie Marie Baum, Hilde Oppenheimer oder Cora Berliner zu einer Gruppe von Sozialwissenschaftlerinnen, die als Erste in der Weimarer Republik einflussreiche Verwaltungspositionen besetzten und eine akademische Laufbahn einschlugen. Frieda Wunderlich verband im Spannungsfeld der Weimarer Republik Sozial- und Frauenpolitik auf eine außergewöhnliche Weise und trug zentral zur Förderung und Anerkennung von Frauenberufstätigkeit und Frauenarbeit bei .
Netzwerk von Frieda Wunderlich
Zitate von Frieda Wunderlich
Biografie von Frieda Wunderlich
Fußnoten
- 1 Reinicke, Peter: Wunderlich, Frieda, in: Maier, Hugo (Hg.): Who ist who der Sozialen Arbeit, Freiburg 1998, S. 647‒648, hier S. 647.
- 2 Nationaler Frauendienst: Zeugnis (1919), in: Leo Baeck Institut, Frieda Wunderlich Collection 1919-1969. https://archive.org/details/friedawunderlich01reel01/page/n21/mode/2up.
- 3 Wunderlich, Frieda: Lebenslauf, in: Leo Baeck Institut, Frieda Wunderlich Collection 1919-1969. https://archive.org/details/friedawunderlich01reel01/page/n13/mode/2up.
- 4 Honegger, Claudia / Wobbe, Theresa: Einleitung: Frauen in der kognitiven und institutionellen Tradition der Soziologie, in: Dieselben (Hg.): Frauen in der Soziologie. Neun Porträts, München 1998, S. 7‒27, hier S. 22.
- 5 Wobbe, Theresa: Frieda Wunderlich (1884-1965). Weimarer Sozialreform und die New Yorker Universität im Exil, in: Honegger, Claudia / Wobbe, Theresa (Hg.): Frauen in der Soziologie. Neun Porträts, München 1998, S. 203‒225, hier S. 206.
- 6 Ebenda, S. 212.
- 7 Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit: Bericht über die Entwicklung von 1925-1930, Berlin 1931.
- 8 Wunderlich, Frieda: Vortrag im Deutschen Staatsbürgerinnenverband am 25.03.1933, S. 5. Frieda Wunderlich Collection Leo Baeck Institute AR.C. 128832 30, New York, Box III/25.
- 9 Wunderlich, Frieda: Die Frau als Subjekt und Objekt der Sozialpolitik in Deutschland, in: Kölner Sozialpolitische Vierteljahresschrift ¾ (1924), S. 20‒35.
Ausgewählte Publikationen
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Backhaus-Lautenschläger, Christine: Und standen ihre Frau. Das Schicksal deutschsprachiger Emigrantinnen in den USA nach 1933, Pfaffenweiler 1991.
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Frieda Wunderlich Collection Leo Baeck Institute AR.C. 128832 30, New York, Box III/25.
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Hansen, Eckhard/ Tennstedt, Florian (Hg.): Biographisches Lexikon zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1871 bis 1945. Band 2: Sozialpolitiker in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 1919 bis 1945, Kassel 2018, S. 223‒224.
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Honegger, Claudia/ Wobbe, Theresa: Einleitung. Frauen in der kognitiven und institutionellen Tradition der Soziologie, in: Dies. (Hg.): Frauen in der Soziologie. Neun Porträts, München 1998, S. 7‒27.
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Mongiovi, Gary: Wunderlich, Frieda, in: Hagemann, Harald/ Krohn, Claus-Dieter (Hg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933. Band 2, München 1999, S. 761‒762.
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Reinicke, Peter: Wunderlich, Frieda, in: Maier, Hugo (Hg.): Who ist who der Sozialen Arbeit, Freiburg 1998, S. 647‒648.
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Wobbe, Theresa: Frieda Wunderlich (1884-1965). Weimarer Sozialreform und die New Yorker Universität im Exil, in: Honegger, Claudia/ Wobbe, Theresa (Hg.): Frauen in der Soziologie. Neun Porträts, München 1998, S. 203‒225.
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Wunderlich, Frieda: Betriebswissenschaft und Fabrikpflege, Berlin 1925.
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Wunderlich, Frieda: Der Kampf um die Sozialversicherung, in: Schriften des Deutschen Verbandes der Sozialbeamtinnen, 1930, H. 5, S. 3‒25.
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Wunderlich, Frieda: Der Schutzanspruch der Frau an den Staat, in: Die Frau, 1933, H. 6, S. 366‒369.
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Wunderlich, Frieda: Die Arbeitsfürsorge für hilfsbedürftige Personen, Karlsruhe 1927.
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Wunderlich, Frieda: Die Arbeitszeitbestimmungen im Entwurf eines Arbeitsschutzgesetzes, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 58, 1927, S. 375‒399.
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Wunderlich, Frieda: Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit Beendigung des Krieges, in: Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform, Band 11, Jena 1925, H. 75, S. 1‒69.
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Wunderlich, Frieda: Die Frau als Subjekt und Objekt der Sozialpolitik in Deutschland, in: Kölner Sozialpolitische Vierteljahresschrift ¾, 1924, S. 20‒35.
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Wunderlich, Frieda: Fabrikpflege. Ein Beitrag zur Betriebspolitik, Berlin 1926.
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Wunderlich, Frieda: Farm Labor in Germany 1810 – 1945, Princeton 1961.
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Wunderlich, Frieda: Farmer and farm labor in the Soviet Zone of Germany, New York 1958.
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Wunderlich, Frieda: German Labor Courts, Chapel Hill 1946.
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Wunderlich, Frieda: Hugo Münsterbergs Bedeutung für die Nationalökonomie, Jena 1920.
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Wunderlich, Frieda: Produktivität, Jena 1926.
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Wunderlich, Frieda: Sozialpolitik auf dem Internationalen Frauenkongreß in Berlin, in: Soziale Praxis, 1929, H. 10, S. 656‒658.
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Wunderlich, Frieda: Versicherung, Fürsorge und Krisenrisiko, in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hg.): Aufbau und Ausbau der Fürsorge, 1932, H. 18, S. 5‒63.
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Wunderlich, Frieda: Vortrag im Deutschen Staatsbürgerinnenverband am 25.03.1933, S. 5.