Felicitas Kukuck Geboren 02. November 1914 in Hamburg Gestorben 04. Juni 2001 in Hamburg

Über Felicitas Kukuck

Ausgangspunkt des Vokalwerks der Komponistin Felicitas Kukuck war stets das Wort und seine Aussage. Zudem richtete die Hindemith-Schülerin ihre Kompositionen an Ansprüchen der Ausführenden und Zuhörenden aus. Ihr populärstes Werk war ursprünglich ein Kinderlied: Es führt über den Main.

Felicitas Kukuck wurde am 2. November 1914 mit dem Familiennamen Cohnheim in Hamburg geboren. Zwei Jahre später änderten ihre Eltern, der Physiologe und Professor am Eppendorfer Universitätskrankenhaus Dr. Otto Cohnheim (1873–1953) und die Sängerin (Altistin) Eva, geb. Barth (1882–?), den Namen der Familie in Kestner.

Die Zeit des Nationalsozialismus

Von ihrer jüdischen Herkunft erfuhr Felicitas Kukuck erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, als sie aufgrund der sogenannten Nürnberger Rassengesetze von 1935 als ‚Vierteljüdin‘ eingestuft und ihr deshalb ein Studium an der Hochschule für Musikerziehung und Kirchenmusik in Berlin verwehrt wurde. Ihre Mutter war vor der Ehe als Altistin in Oratorien aufgetreten und führte sie frühzeitig an die Musik heran. Sophie Wohlwill war ihre erste Klavierlehrerin, später wurde sie von der Cembalistin Edith Weiss-Mann ausgebildet, außerdem erhielt sie Unterricht in Harmonielehre. So entschied sie sich 1935 für ein Klavierstudium an der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik in Berlin bei Carl-Adolf Martienssen.

1936 legte Felicitas Kukuck die staatliche Privatmusiklehrerprüfung im Fach Klavier ab, erhielt jedoch wegen ihrer Herkunft keine Unterrichtserlaubnis. Sie setzte ihr Studium mit dem Hauptfach Querflöte bei Gustav Scheck und Klavier bei Rudolf Schmidt fort. Als „entscheidende Wende“1 in ihrem Leben bezeichnete sie ihren Eintritt in die Kompositionsklasse von Paul Hindemith 1937. Sowohl für ihre kompositorische Handschrift als auch für ihre künstlerisch-ethischen Vorstellungen fand sie in ihm den geeigneten Lehrmeister und ein lebenslanges Vorbild. Hindemith zu Ehren, der 1938 emigrieren musste, spielte sie bei ihrer künstlerischen Reifeprüfung 1939 seine 2. Klaviersonate, obwohl ihr Lehrer ihr riet, das Stück, das als ‚entartete Kunst‘ galt, nicht zu wählen. Sie bestand die Prüfung dennoch und wurde Ende 1938 als Komponistin in die Reichsmusikkammer aufgenommen: „Außer ihrer nichtarischen Abstammung sind nachteilige Tatsachen nicht bekannt geworden. Gegen den Aufnahmeantrag der K. in die Reichsmusikkammer werden politische Bedenken nicht erhoben, soweit sie bei Veranstaltungen der NSDAP, sowie deren Organisationen nicht auftritt und auch nicht im schöpferischen Sinne tätig wird.“2

Im Juli 1939 heiratete sie ihren ehemaligen Mitschüler Dietrich Kukuck, der in Berlin ein Studium als Elektroingenieur absolvierte. Geschickt und mutig umging er das Verbot von ‚Mischehen‘ der Nürnberger Rassengesetze, indem er beim Standesamt eine nachträglich auf den Namen Kestner ausgestellte Geburtsurkunde für seine Braut vorlegte. Den Namen Cohnheim hätte die Behörde als ‚jüdisch‘ assoziiert, was eine Heirat mit dem als arisch geltenden Dietrich Kukuck unmöglich gemacht hätte. Durch die Heirat war Felicitas Kukuck im Unterschied zu ihren Eltern und ihrem Bruder, die 1939 nach England emigrierten, vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten besser geschützt.

1940 kam in Berlin ihr erster Sohn, Johann, zur Welt. Nach Dietrich Kukucks Diplomabschluss 1941 wurde er zur Marine eingezogen und Felicitas Kukuck musste Kriegsnöte und Bombennächte im Luftschutzkeller mit dem Kleinkind allein durchstehen. Dank großer Risikobereitschaft gelang es ihr zudem, die Jüdin Elisabeth Veilchenfeld, ehemalige Lehrerin an der Talmud-Tora-Schule in Hamburg, bis zum Kriegsende zu verstecken und zu schützen.

Nachkriegszeit

Trotz fehlender Genehmigung hatte Felicitas Kukuck vor und während des Krieges unterrichtet, komponiert und auch bereits drei Spielmusiken für Streichinstrumente veröffentlicht.3 Im Sommer 1945 erhielt sie an der Volkshochschule in Berlin Heiligensee einen Lehrauftrag, zog dann aber im November mit einem Flüchtlingstreck nach Hamburg, wo sie ihren Mann und ihre Eltern wiederfand. 1946 brachte sie die Zwillinge Margret und Irene zur Welt, 1948 ihr viertes und letztes Kind Thomas. Die Familie zog nach Blankenese, wo Felicitas Kukuck bis zu ihrem Tod 2001 lebte.

Werdegang als Komponistin und kompositorisches Schaffen

Felicitas Kukucks Schwerpunkt lag auf der Komposition von Vokalmusik. Ob sie für ihr „Hauptforum in der Kirche“4 schrieb, pädagogische Musik oder Musik für Laien ins Auge fasste, immer waren es Texte – meist deutschsprachige –, die ihre Inspiration in Gang setzten. Von Kindheit an liebte und lebte sie in Geschichten, vertonte sie improvisierend. Die biblischen Geschichten, die sie in den ersten Jahren in der Schule kennengelernt hatte, „waren die schönsten Märchen, die ich kenne […] und immer wieder höre. Ja diese Geschichten durchziehen mein Leben“.5 Zu frei tonaler6 Komposition setzte sie die Texte mit größtmöglicher Verständlichkeit bis hin zum Sprechgesang. Auch weil sie das Singen als ursprünglichste und erste Ausdrucksform des Menschen ansah, als „elementar-körperliches Bedürfnis“ oder „tönenden Atem“7 , stehen textgebundene Formen wie Opern, Oratorien, Singspiele, Motetten, Kantaten und Lieder im Zentrum ihres umfangreichen Gesamtwerks.

Wie ihr Lehrer Paul Hindemith vertrat auch Kukuck die ethische Auffassung, Musik müsse ein breites Publikum adressieren, einfach und verständlich sein – was nicht bedeutete, banal zu sein. Das „planvolle Komponieren“, das sie bei ihm lernte, nämlich „die Bedingungen einer Aufführung (also Anlass, Ort, Können der Ausführenden sowie das Publikum)“ von Anfang an einzubeziehen, war für sie „nie eine Einengung, sondern eine musikalische Herausforderung und untermauert ihre Vorliebe für Musik, die schon im Voraus für den Gebrauch, für die Menschen“8 bestimmt ist. Avantgarde zu sein war nicht ihre Absicht – ‚Gebrauchsmusik‘, wie sie in den 1920er-Jahren zur Überwindung der Krise der Neuen Musik entwickelt und diskutiert wurde, blieb zeitlebens ihr Anliegen. Komponieren bedeutete ihr, „Kontakt zu Menschen und unter Menschen zu sein“.9

Während Sängerinnen und Sänger ihre Chor- und Liedsätze noch heute begeistern und viele ihren Namen aus Schulmusikbüchern kennen, konnte Felicitas Kukuck in der Musikkultur schwer Fuß fassen. Eva Rieger machte in den 1980er-Jahren – neben der noch immer fehlenden Wertschätzung für Frauen als Komponistinnen – gerade diese Hinwendung zur Gebrauchs- und Laienmusik dafür verantwortlich. Zumal beides nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in der BRD kritisch beurteilt und von der Hochkultur abgegrenzt wurde.

Brief von Eva Rieger an Felicitas Kukuck, 09.01.1986

Kompositionsaufträge und Aufführungsmöglichkeiten erhielt Felicitas Kukuck ab 1950 vielfach aus musikpädagogischen und kirchlichen Kreisen. Religiöse Themen lagen ihr von Kindheit an nahe – auch wenn ihre Familie zögert, sie als religiös zu bezeichnen.10 Sie interessierte sich für die Zusammenhänge von Judentum und Christentum, für Christus als „Mitmensch; Nächstenliebe; Not und Hilfe; Frieden; biblische Geschichten als Sinnbilder“11 . Die Kirche schien ihr als Aufführungsort für ihre Werke gut geeignet, bot sie doch in der Nachkriegszeit vielen Menschen Raum für Neuorientierung, Sinnsuche und auch für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. In Zusammenarbeit mit Theologen/Pastoren, Kantoren und Organisten entwickelte Felicitas Kukuck viele ihrer großen Kompositionsprojekte.

Der Überwindung des „inneren Vakuums“12 der Nachkriegszeit dienten auch die ‚Singtreffen‘ des Norddeutschen Singkreises unter Leitung des Komponisten, Chorleiters und Musikwissenschaftlers Gottfried Wolters (1910–1989). Alte und neue Chormusik sowie insbesondere das Werk Hugo Distlers standen im Zentrum seiner Aufführungen, die ab 1950 auch vom Rundfunk aufgenommen wurden. Nicht Perfektion, sondern „höchste chorische Leistung“ forderte Wolters von seinen Sängerinnen und Sängern.13 Wie Kukuck verstand auch er Gesang als „existentielle Äußerung“ und „spontanen Ausdruck einer menschlichen Grundhaltung, für die Singen und Leben untrennbar miteinander verbunden sind“.14

Brief: Felicitas Kukuck an Eva Rieger, 29.03.1985

Ab 1949 veröffentlichte Wolters als Lektor des Wolfenbütteler Möseler Verlags zahlreiche ihrer Werke oder brachte sie in den 1950er- und 1960er-Jahren mit dem Norddeutschen Singkreis zur Uraufführung . Kukuck schätzte Wolters als „erfahrenen Musikanten“15 , Kollegen und Kritiker. Seinen Verdiensten für die Laienmusikkultur – er gilt als Begründer des „offenen Chorsingens“16 – steht seine Mitwirkung als Komponist, Herausgeber und Chorleiter in der NS-Zeit gegenüber.17 Kukuck hatte jedoch den Eindruck gewonnen, „daß er zu dem Menschenkreis gehört, denen es gelungen ist, in tiefer Betroffenheit seine Mitverantwortung für das, was geschehen ist, anzuerkennen und also ‚Trauerarbeit‘ zu leisten“18 .

1967 gründete Felicitas Kukuck den Kammerchor Blankenese, mit dem sie viele ihrer Werke (ur-)aufführte. Von 1971 bis 1981 unterrichtete sie an der Lola-Rogge-Tanzschule elementare Musiklehre, Improvisation und Musikgeschichte und knüpfte damit an ihre musikpädagogische Arbeit in den 1950er-Jahren an, die sie unter anderem für den Bremer Schulfunk leistete. Die Auseinandersetzungen um kompositorisches Arbeiten, Stilfragen und künstlerische Aussagen ziehen sich durch ihre gesamte Korrespondenz, wie zum Beispiel im Briefwechsel mit den Studenten der Kirchenmusikschule Regensburg, Boris Robischon und Mark Ehlert.

Brief: Felicitas Kukuck an Robischon und Ehlert, 29.12.1993

In den 1980er- und 90er-Jahren engagierte sich die Komponistin in der Friedensbewegung und verband ihre Arbeit auch mit ihren politischen Anliegen und Themen, zum Beispiel durch die Komposition ihrer Kantate Und es wart: Hiroshima oder die Vertonung von Texten jüdischer Dichterinnen und Dichter. 

1989 wurde ihr von der Freien und Hansestadt Hamburg die Biermann-Ratjen-Medaille verliehen. 1995 erhielt sie die Johannes Brahms-Medaille, die ihr von der Hamburger Kultursenatorin Christina Weiss überreicht wurde, die Reden hielten Eva Rieger und Ruth Exter19 . 2016 wurde die Felicitas-Kukuck-Straße in Hamburg-Altona nach ihr benannt .

Johannes Brahm Medaille (rechts) und Medaille Senator Biermann-Ratjen (links) aus dem Bestand des Archiv Frau und Musik

 

Stand: 25. Januar 2022
Lizenz (Text)
Verfasst von
Martina Bick

Musikwissenschaftlerin und Autorin, Mitarbeiterin im Projekt „Musik und Gender im Internet“ (MUGI) der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.

Empfohlene Zitierweise
Martina Bick (2022): Felicitas Kukuck, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/felicitas-kukuck
Zuletzt besucht am: 25.04.2024
Lizenz: CC BY-SA 4.0
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Zitate von Felicitas Kukuck

Biografie von Felicitas Kukuck

02. November 1914

Geburt in Hamburg

1935 - 1939

Musikstudium in Berlin, Komposition bei Paul Hindemith

1939

Heirat mit Dieter Kukuck

1939

Flucht der Eltern, Prof. Dr. Otto Kestner und Eva Kestner geb. Barth, und des Bruders Fritz Kestner vor den Nationalsozialisten nach England

1941 - 1948

Geburt von vier Kindern

1945

Rückkehr nach Hamburg mit einem Flüchtlingstreck

1967

Ehescheidung von Dieter Kukuck; Gründung eines Kammerchors in Hamburg-Blankenese

1980

Engagement in der Friedensbewegung

1986

Uraufführung „Der Mann Mose“ in Hamburg-Blankenese, Kirchenoper von Felicitas Kuckuck

1989

Teilnahme am Evangelischen Kirchentag in Berlin, Aufführung „Der Mann Mose“

1991

Uraufführung „Ecce Homo“ in Hamburg-Blankenese, Oratorium von Felicitas Kuckuck

Weltfriedenswoche in Hamburg, Uraufführung "Und es ward: Hiroshima. Eine Collage über Anfang und Ende der Schöpfung", Kantate von Felicitas Kuckuck, in der Turmruine St. Nikolai

Anti-Kriegstag, im Monsun-Theater Hamburg Aufführung von
"Und kein Soldat mehr sein" zehn Lieder gegen den Krieg von Felicitas Kuckuck

04. Juni 2001

Tod in Hamburg

Fußnoten

  • 1Kukuck, Felicitas: Autobiographie in Form eines Tagebuchs, Hamburg 1989. https://www.felicitaskukuck.de/Autobiographie_FKukuck.pdf, eingesehen am 25.01.2022, S. 10.
  • 2Sprenger, Cordula: Felicitas Kukuck als Komponistin von Solo- und Chorliedern. Exemplarische Untersuchungen zu zeitgeschichtlichem Umfeld und stilistischen Einflüssen, Marburg 2008, Reichskulturkammer-Akte im Anhang auf CD-ROM.
  • 3Kukuck, Felicitas: Drei „Neue Spielmusiken“, Schott Verlag Mainz 1942.
  • 4Kohlhase, Hans: Hindemiths Einfluß als Lehrer. Zum Schaffen seiner Schülerin Felicitas Kukuck, in: Paul-Hindemith-Institut (Hg.): Hindemith-Jahrbuch 1984/XIII, Frankfurt/M. 1985, S. 156‒183, hier S. 159.
  • 5Kukuck, Autobiographie, S. 3.
  • 6Frei tonal bezeichnet eine Kompositionsweise im Übergang von tonaler Harmonik zur Atonalität.
  • 7Rieger, Eva / Oster, Martina: Felicitas Kuckuck: „Das Land Johann Sebastian Bachs hielt mich fest“, in: Sonntag, Brunhilde / Matthei, Renate(Hg.): Annäherung II – an sieben Komponistinnen, Kassel 1987, S. 35‒40, hier S. 37.
  • 8Sprenger, Felicitas Kukuck, S. 49. Vgl. hierzu auch: Exter, Ruth: Biographie und Musik einer Komponistin im 20. Jahrhundert. Hausarbeit zur ersten Staatsprüfung für das Lehramt an der Grund- und Mittelstufe im Fach Musik an der Musikhochschule Hamburg, unveröffentlichtes Manuskript, Hamburg 1988.
  • 9Sprenger, Felicitas Kukuck, S. 17.
  • 10Ebenda, S. 80, vgl. Interview mit FKs Tochter Margret Johannsen.
  • 11Archiv Frau und Musik Frankfurt, Brief von Felicitas Kukuck an Barbara Holtbernd vom 11.2.1976, zit. nach Sprenger, Felicitas Kukuck, S. 81.
  • 12Raue, Hermann / Luhberger, Klaus: Der Norddeutsche Singkreis: Pionierarbeit und Ausstrahlung, in: Arbeitskreis für Musik in der Jugend (Hg.): Gottfried Wolters. Freundesgabe zu seinem siebzigsten Geburtstag, Wolfenbüttel 1980, S. 59‒64, hier S. 59.
  • 13Ebenda.
  • 14Ebenda, S. 60.
  • 15Kukuck, Felicitas: Gottfried Wolters in der Zusammenarbeit mit Komponisten, in: Arbeitskreis für Musik in der Jugend (Hg.), Gottfried Wolters, S. 43‒46, hier S. 43.
  • 16Neumann, Klaus L.: Art. Wolters, Gottfried, in: Lütteken, Laurenz (Hg.): Musik in Geschichte und Gegenwart, Kassel/Stuttgart/New York 2016.
  • 17Vgl. Klee, Paul: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt/M. 2007, S. 675.
  • 18Kukuck, Felicitas: Gottfried Wolters in der Zusammenarbeit mit Komponisten, in: Arbeitskreis für Musik in der Jugend (Hg.), Gottfried Wolters, S. 43‒46, hier S. 45.
  • 19Vgl. Programmzettel zur „Verleihung der Johannes-Brahms-Medaille an Frau Felicitas Kukuck, Mittwoch, 25. Juni 1994 (sic!), 14 Uhr, Kaisersaal des Rathauses.“ Dieser und Redemanuskripte von Ruth Exter und Eva Rieger befinden sich im Nachlass von Felicitas Kukuck, welcher im Archiv Frau und Musik verwahrt wird.