Über Alice Schwarzer
Alice Schwarzer wurde 1942 in Wuppertal geboren. Sie war ein uneheliches Kind und wuchs bei den Großeltern auf. Dort erlebte das Mädchen das Gegenteil der traditionellen Rollenverteilung: „Mein Großvater, dessen kleiner Laden zerbombt war, hat sich um das Kind gekümmert. Der hat mich aufgezogen, der hat mich gewickelt, der hat mich ernährt. Und das war auch gut so, denn meine Großmutter hatte da keine großen Ambitionen. Die interessierte sich erst für mich, dann allerdings leidenschaftlich, als sie mit mir reden konnte. (…) Nie habe ich als Kind den Satz gehört: ‚Ein Mädchen tut sowas nicht!‘“1
Umso krasser fiel dem Mädchen und später der jungen Frau die Ungleichbehandlung der Geschlechter auf. Als Schlüsselerlebnis beschreibt Schwarzer ihre Zeit in der Tanzschule, in der sie begriff, dass sie als Mädchen nicht zum Tanzen auffordern darf, sondern darauf angewiesen ist, von einem Jungen als Tanzpartnerin gewählt zu werden. „Und ich erinnere mich an dieses tiefe Erschrecken. Zum ersten Mal wurde mir klar: Ich bin jetzt davon abhängig, dass ich einem Jungen gefalle.“2
Mit 16 Jahren begann Alice Schwarzer eine Ausbildung zur Bürokauffrau, aber „das ödete mich an“.3 Einige Jahre später „habe ich erkannt, dass der Journalismus mein Beruf ist“4. 1962 ging Schwarzer als Au-pair nach Paris, um Französisch zu lernen. 1966 begann sie ein Volontariat bei den Düsseldorfer Nachrichten, 1969 wurde sie Reporterin bei Pardon, neben konkret eine der Stimmen der APO (Außerparlamentarische Opposition). Bei beiden Medien schrieb sie immer wieder über sogenannte Frauenthemen. So berichtete Schwarzer über alleinerziehende Mütter oder Prostituierte, sie machte eine Rollenreportage in einer Fabrik und prangerte anschließend die sogenannten ‚Leichtlohngruppen‘ an, in die Frauen ausschließlich eingruppiert werden.5 Doch die ‚Frauenfrage‘ als politische Kategorie war für sie noch nicht präsent. „Das war die Zeit, da war man gegen Vietnam, da war man für die Befreiung des letzten Reisbauern in Nicaragua, aber Frauen? Auch bei mir zu Hause in meiner hochpolitisierten Familie wurde zwar über die Entrechteten dieser Erde gesprochen – über alle, und das sehr engagiert. Aber Frauen – ich erinnere mich nicht, dass dieses Wort gefallen wäre.“6
MLF und § 218
1969 ging Alice Schwarzer zurück nach Paris, um als Korrespondentin zu arbeiten. Nebenbei studierte sie an der Universität Vincennes, die auch ohne Abitur besucht werden konnte, Soziologie und Psychologie. In Paris gehörte sie ab Herbst 1970 zu den Pionierinnen des MLF (Mouvement de Libération des Femmes).7 Der MLF startete im April 1971 die Aktion ‚Je me suis fait avorter‘ (Ich habe abgetrieben). 343 Frauen, darunter bekannte wie Simone de Beauvoir, Catherine Deneuve, Jeanne Moreau oder Françoise Sagan, erklärten in dem linksliberalen Wochenmagazin Le Nouvel Observateur, eine Schwangerschaft abgebrochen zu haben – und forderten das Recht dazu für alle Frauen.
Alice Schwarzer exportierte die Idee einen Monat später nach Deutschland, wo Abtreibungen ebenfalls mit Gefängnis bestraft wurden.„Man kann sich nicht vorstellen, wie das früher war. Die Abtreibung war bis dahin ein totales Tabu gewesen. Man redete nicht mit seiner besten Freundin oder seiner Mutter darüber. (…) Die Frauen hatten überhaupt nur folgende Möglichkeiten: Entweder sie gingen auf diesen Küchentisch, wo sie oft genug entweder verblutet sind oder aber für ewig steril waren. (…) Oder sie hatten Geld und fuhren ins Ausland, aber auch das war dramatisch.“8 Wie groß der Unmut der Frauen über den § 218 war, hatten auch die von der Sozialwissenschaftlerin Helge Pross 1966 ebenfalls im Stern veröffentlichten Briefe von Frauen über ihre Erfahrungen mit illegalen Abtreibungen gezeigt.9
Am 6. Juni 1971 bekannten im Stern 374 Frauen: „Wir haben abgetrieben!“ In einem gemeinsamen Appell erklärten sie: „Ich bin gegen den Paragraphen 218 und für Wunschkinder. (...) Wir fordern die ersatzlose Streichung des Paragraphen 218!“10 Als Unterzeichnerinnen hatte Schwarzer auch prominente Frauen wie Senta Berger, Romy Schneider oder Veruschka von Lehndorff gewonnen. Rückblickend erklärt sie: „Diese 373 Frauen – ich bin die 374ste gewesen – die hatten den Mut von Löwinnen. Die wussten nicht: Wird mein Mann sich von mir scheiden lassen, reden meine Nachbarn noch mit mir? Was sagt meine Familie? Riskiere ich meinen Beruf? Davor verneige ich mich bis heute.“11
In der Folge der Stern-Aktion gründeten sich in vielen Städten Aktion § 218-Gruppen, die sich bald überregional zusammenschlossen. Sie sammelten Tausende Selbstbezichtigungen und Zehntausende Solidaritätserklärungen, organisierten Demos, stürmten Ärztekongresse. „Als der Stern erschien, öffneten sich alle Schleusen. Das war ja eine Lawine. Tausende, Zehntausende schlossen sich an. Und mit dem Abtreibungsthema hängt ja alles zusammen: das ganze Frauenleben.“12 Bald gingen die Aktionen weit über den Protest gegen den § 218 hinaus, die Frauenbewegung formierte sich mit großer gesellschaftlicher Schlagkraft.
Wenige Monate nach Erscheinen der Stern-Ausgabe, im September 1971, veröffentlichte Alice Schwarzer ihr erstes Buch Frauen gegen den §218. In Gesprächsprotokollen berichteten darin 18 Frauen quer durch alle sozialen Schichten und Milieus von ihren Erfahrungen mit Abtreibungen.
Das Streitgespräch mit Esther Vilar
Nach der Stern-Kampagne war Alice Schwarzer vor allem als Publizistin tätig. 1973 veröffentlichte sie ihr zweites Buch Frauenarbeit – Frauenbefreiung . Darin knüpfte sie an die Politisierung der Reproduktionsarbeit durch die Achtundschezigerinnen an und analysierte die Rolle der unbezahlten und unterbezahlten Arbeit, die Frauen in Haus und Beruf leisten. „Ich war damals die erste, die in Deutschland die Frage stellte: Wie viele Stunden arbeiten eigentlich Frauen gratis zu Hause? (…) Ich habe lange suchen müssen und dann bei der Gesellschaft für Ernährung die Stundenzahl gefunden. Ich glaube, es waren 52 Milliarden. Das war fast identisch mit der wohlbekannten Stundenzahl der Lohnarbeit. Es ging mir in diesem Buch um ein Thema, das uns noch 50 Jahre später in Atem hält. (…) Nämlich um das Zusammenspiel um das, was man heute Vereinbarkeit von Familie und Beruf nennt. (…) Warum sind Frauen so gebremst im Beruf? Das sind sie heute noch aus denselben Gründen wie damals.“13
1975 sendete der WDR an Weiberfastnacht ein Streitgespräch zwischen Alice Schwarzer und Esther Vilar.14 Diese hatte in ihrem 1971 erschienenen Buch Der dressierte Mann die Behauptung aufgestellt, nicht Frauen würden durch Männer unterdrückt, sondern Männer durch Frauen. Das Streitgespräch erfuhr eine enorme Resonanz von Menschen und Medien. „Ab dem Gespräch mit Esther Vilar war ich die Feministin. (…) Die hatten jetzt eine Figur. Also, aus dieser breiten Bewegung (…) war medial noch niemand so nach vorne getreten. (…) Aber richtig los ging das dann mit dem Kleinen Unterschied.“15
Im August 1975 erschien Schwarzers Buch Der kleine Unterschied und seine großen Folgen. Auch hierfür hatte sie die Form des Gesprächsprotokolls, ergänzt durch Essays, gewählt: 18 Frauen, die sie maximal repräsentativ zusammengestellt hatte, erzählen von und reflektieren über ihre Erfahrungen mit Sexualität und Beziehungen. Schwarzer analysierte die Protokolle sowie die Funktion der ‚Zwangsheterosexualität‘ in einer patriarchalen Gesellschaft. Der Kleine Unterschied wurde zum internationalen Bestseller und in zwölf Sprachen übersetzt.
Die Startauflage der EMMA war sofort vergriffen
Schwarzer hatte bereits seit der Stern-Aktion 1971 feststellen müssen, dass „nicht nur ich, sondern auch andere Kolleginnen immer größere Probleme hatten, in den etablierten Medien über Frauen zu schreiben“16. Deshalb hatte sie sich entschlossen, „eine professionelle Zeitschrift mit Journalistinnen zu machen, die am Kiosk zwischen Brigitte, Stern und Spiegel hängt“17. Das journalistische und politische Programm formulierte Alice Schwarzer 1976 wie folgt: „Es soll eine Zeitschrift werden, die von Frauen gemacht wird und sich an alle Frauen richtet […] Politisch soll das Blatt auf eine ‚Vermenschlichung der Geschlechter‘ zielen.“18 Die Zeitschrift sollte eine Brücke sein „zwischen dem Feminismus drinnen und den Frauen draußen“19.
Am 26. Januar 1977 erschien die erste Ausgabe der von Alice Schwarzer gegründeten Zeitschrift EMMA. Die Startauflage der EMMA von 200.000 Exemplaren war rasch vergriffen, nach einer Woche mussten 100.000 nachgedruckt werden. Dem enormen öffentlichen Interesse standen Verrisse in den Medien einerseits und andererseits Boykottaufrufe durch manche Stimmen der Frauenbewegung entgegen, darunter die Schwarze Botin und die Courage.
Bei vielen zentralen Themen wie Lohn für Hausarbeit, Prostitution oder dem Zugang zum Militär für Frauen vertraten EMMA und Courage konträre Positionen, die sie teilweise auch in ‚Pros & Contras‘ austrugen.20
EMMA stieß mit ihrer Berichterstattung zahlreiche bis dato tabuisierte Themen an. So berichtete sie 1977 über die bislang im globalen Westen weitgehend unbekannte Genitalverstümmelung von Frauen und 1978 über das epidemische Ausmaß des sexuellen Kindesmissbrauchs. 1978 initiierte Alice Schwarzer, gemeinsam mit den Juristinnen Lore-Maria Peschel-Gutzeit und Gisela Wild, mit der Klage gegen den Stern wegen mehrerer sexistischen Titelbilder die erste Sexismus-Klage in Deutschland.21 Die Klage war eine Vorläuferin der knapp zehn Jahre später von EMMA lancierten PorNo-Kampagne.
Alice Schwarzer engagiert sich bis heute als Autorin, Aktivistin und EMMA-Herausgeberin und Chefredakteurin im feministischen Kampf für die Menschenrechte von Frauen und die Gleichberechtigung der Geschlechter. Von ihr erschienen bis 2021 25 Bücher als Autorin, darunter Biografien über Marion Gräfin Dönhoff oder Romy Schneider, sowie 21 als Herausgeberin, darunter politische Anthologien wie Prostitution – ein deutscher Skandal (2013) oder Der Schock (2016), in dem sie eine Bilanz der Silvesternacht in Köln zieht, während der es zu zahlreichen Übergriffen durch vornehmlich junge Männer nordafrikanischer Herkunft gegen Frauen kam. In den zwei Teilen ihrer Autobiografie, Lebenslauf22 und Lebenswerk23, erinnert sie auch an ihre Anfänge als Feministin und die der neuen Frauenbewegung in Deutschland.
Netzwerk von Alice Schwarzer
Zitate von Alice Schwarzer
Biografie von Alice Schwarzer
Fußnoten
- 1 P03-Schwar-A-05, Interview Alice Schwarzer, Transkript, S. 1.
- 2 Ebenda.
- 3 Ebenda.
- 4 Ebenda.
- 5 Schwarzer, Alice: Sollen Prostituierte Steuern zahlen?, in: Westdeutsche Zeitung, 18.2.1967; Schwarzer, Alice: Ich kann ohne dich nicht mehr leben, in: Westdeutsche Zeitung 2.3.1967; Was ist eine Frau wert?, in: Pardon, Juli 1969. Alle Texte in Schwarzer, Alice: Lebenslauf, Köln 2014.
- 6 P03-Schwar-A-05, Schwarzer, Transkript, S. 2.
- 7 Über die Anfänge der Frauenbewegung in Frankreich siehe Schulz, Kristina: Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich 1968-1976, Frankfurt a.M. 2002. Digital zu lesen unter: https://de.scribd.com/document/236438446/Schulz-Provokation.
- 8 P03-Schwar-A-05, Schwarzer, Transkript, S. 5.
- 9 Heinemann, Isabel: Die doppelte Wahrnehmungsstörung. Abtreibende Frauen, die neue Frauenbewegung und der patriarchale Gründungskongress der Bundesrepublik, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, 2021, H. 77, S. 103‒121, hier S. 103 f.; Pross, Helge: Abtreibung. Motive und Bedenken, Stuttgart 1971.
- 10 Appell, Zugriff am 9.9.2022 unter https://frauenmediaturm.de/neue-frauenbewegung/alice-schwarzer-frauen-gegen-218/.
- 11 P03-Schwar-A-05, Schwarzer, Transkript S. 5.
- 12 Ebenda.
- 13 Ebenda, S. 6 f.
- 14 Zugriff am 9.9.2022 auf https://www.goodreads.com/videos/143105-alice-schwarzer-vs-esther-vilar-1975-42min.
- 15 P03-Schwar-A-05, Schwarzer, Transkript, S. 13.
- 16 Ebenda, S. 15.
- 17 Ebenda.
- 18 Schwarzer, Alice: Lebenslauf, Köln 2012, S. 343.
- 19 Ebenda, S. 344.
- 20 Sybille Plogstedt / Alice Schwarzer: Frauen ins Militär? Feministinnen kontrovers, in: EMMA 12/80, Zugriff am 9.9.2022 unter: https://frauenmediaturm.de/neue-frauenbewegung/sybille-plogstedt-alice-schwarzer-frauen-ins-militaer/.
- 21 Klageschrift, Zugriff am 9.9.2022 unter: https://www.emma.de/artikel/die-stern-klage-wir-klagen-264268.
- 22 Schwarzer, Alice: Lebenslauf, Köln 2011.
- 23 Schwarzer, Alice, Lebenswerk, Köln 2020.
Ausgewählte Publikationen
-
Schwarzer, Alice: Frauen gegen den § 218, Frankfurt a. M. 1971.
-
Schwarzer, Alice: Frauenarbeit – Frauenbefreiung, Frankfurt a. M. 1973.
-
Schwarzer, Alice: Der kleine Unterschied und seine großen Folgen, Frankfurt a. M. 1975.
-
Schwarzer, Alice: Simone de Beauvoir heute – Gespräche aus 10 Jahren, Hamburg 1982.
-
Schwarzer, Alice: Lebenslauf, Köln 2011.
-
Schwarzer, Alice: Lebenswerk, Köln 2020.
-
Schwarzer, Alice (Hg.): PorNo, EMMA-Sonderband, Köln 1988.
-
Schwarzer, Alice (Hg.): Krieg. Was Männerwahn anrichtet – und wie Frauen Widerstand leisten, EMMA-Sonderband, Köln 1991.
-
Schwarzer, Alice (Hg.): Die Gotteskrieger – und die falsche Toleranz, Köln 2002.
-
Schwarzer, Alice (Hg.): Prostitution – Ein deutscher Skandal, Köln 2013.
-
Schwarzer, Alice (Hg.): Der Schock – Die Silvesternacht von Köln, Köln 2016.
-
Louis, Chantal / Schwarzer, Alice (Hg.): Transsexualität – Was ist eine Frau? Was ist ein Mann?, Köln 2021.