„Wir wollten keine Reformen“

Rita Kronauer sammelt im feministischen Archiv ausZeiten nicht nur Bochumer Frauengeschichte, sie hat diese seit den 1970er Jahren auch aktiv miterlebt und -gestaltet. Im DDF-Interview berichtet sie von Themen und Aktionen autonomer Frauengruppen gegen und um den § 218.

Du bist seit den 1970ern politisch aktiv. In welcher Form hast du dich engagiert und war der § 218 für dich ein Thema?

Ich bin 1974 in die Bochumer Frauengruppe gegangen und dort waren von vornherein auf den Plena auch § 218 und Abtreibung ein Thema. Von dieser Frauengruppe aus, die sich damals noch privat traf, wurden dann auch Gruppen zu verschiedenen Inhalten gebildet. Wir haben dann eine ‚Ärztegruppe‘ gegründet, weil wir Informationen von Frauenärztinnen und -ärzten sammeln wollten, die auch Abtreibungen durchführten. Wir haben eine Kartei angelegt und Informationen in der Frauengruppe gesammelt. Über Flugblätter haben wir ganz viel Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Darin haben wir die Forderung „Abschaffung des § 218“ gestellt und diese auf Wochenmärkten, wohin speziell auch viele Frauen gingen, verteilt. Es ging uns nicht um die Fristenregelung, wir wollten keine Reformen, sondern dass Frauen selbst über ihren Körper bestimmen dürfen ohne Einschränkungen und ohne Einmischung des Staates.

Als wir dann  ab 1975 ein Zentrum hatten, wurde dort auch eine sogenannte Abtreibungsberatung, was für viele heute drastisch klingen mag. Aber es war ganz klar: Es ging um Abtreibung und nicht um pro und contra. Wir haben über gute Ärzte aufgeklärt und ihre Adressen weitergegeben. Wir haben auch Abtreibungsadressen aus Holland herausgegeben, weil wir in Bochum relativ nah an der holländischen Grenze sind. Dort war die Abtreibung innerhalb der ersten drei Monaten möglich. Diese Adressen weiterzugeben, war allerdings illegal. In allen Frauenzentren gab es jedoch diese Art illegaler Beratung. In Frankfurt hat es 1975 dazu geführt, dass das dortige Frauenzentrum polizeilich durchsucht wurde. Auf solche Kriminalisierung folgten dann auch große Protestaktionen. Die größte Aktion war ein Autokorso in eine holländische Abtreibungsklinik. Der hat ein ziemliches Aufsehen erregt. Frauen kamen von Frankfurt am Main mit dem Bus über die Autobahn gefahren – wir haben uns vom Ruhrgebiet aus eingereiht. Transparente an den Autos haben klar gezeigt: Das ist eine politische Demonstration für Selbstbestimmung und freie Abtreibung.

Über Flugblätter informierte die autonome Bochumer Frauengruppe über ihre Arbeit und lud zu Informationsveranstaltungen und Aktionen, wie dem Autokorso am 24. Oktober 1975.
Frauen zu beraten und aufzuklären, war der Gruppe ein wichtiges Anliegen, hier das Flugblatt zu „Informationen über Abtreibung: Methoden und Möglichkeiten“ aus dem Jahr 1975.

Am 25. Februar 1975 erklärte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Fristenlösung für verfassungswidrig. Wie habt ihr dieses Urteil aufgefasst?

Wir haben  uns natürlich gegen dieses Urteil gerichtet, das uns noch nicht einmal die Fristenregelung zugesprochen hat. Innerhalb der Bewegung gegen den § 218 hat sich dies allerdings nochmals ausdifferenziert: Es gab Frauen, die dafür kämpften, dass wir doch mindestens die Fristenregelung kriegen und andere, die nach wie vor die Forderung nach der Abschaffung des § 218 aufrechthielten.

Und es gab noch weitere Positionen: In den 1970er Jahren waren die sogenannten K-Gruppen aktiv – ‚K‘ für kommunistische Gruppen –, in denen natürlich auch Frauen mitgemacht haben. Diese betrachteten den § 218 als ,Klassenparagraf‘, der sich vor allem gegen arme Frauen richtete. Die autonome Frauenbewegung wehrte sich allerdings gegen diese Position: Für sie richtete sich der § 218 in erster Linie gegen alle Frauen. Diese Diskussion nahmen wir dann auch in die 1980er mit.

Auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum § 218 (Fristenlösung) reagiert die Bochumer Frauengruppe noch am selben Tag mit einem Aufruf zur Protestkundgebung, das Motto: „§ 218 muß weg!"

Wie hast du die Debatten um den § 218 dann in den Folgejahren erlebt?

In den 1980ern war ich nicht in der § 218-Bewegung, auch gab es unsere Abtreibungsberatung nicht mehr. pro familia beriet die Frauen. Diese waren alle sehr unzufrieden mit der geltenden Indikationslösung. Die soziale Indikation wurde jedoch relativ breit ausgelegt, sodass die Frauen auch hier Möglichkeiten über pro familia fanden.

Seit den 1980er Jahren wurden innerhalb der autonomen Frauenbewegung auch Verbindungen und Kritiken (inter)nationaler Bevölkerungspolitiken verstärkt diskutiert. Hier ein Flugblatt zu einem Frauenprojekt gegen Langzeithormone in Namibia, 1990.

Ich habe mich  in dieser Zeit in der Bewegung der Frauen gegen Reproduktions- und Gentechnologien engagiert. Da waren Themen wie Selbstbestimmung über den eigenen Körper, Verhütung und wie Frauen mit ihrer Fruchtbarkeit oder Nichtfruchtbarkeit umgehen wichtig. Wir haben den Blick dabei auch auf Frauen weltweit gerichtet. In der privilegierten Situation, in der wir waren, wollten wir Frauen in weniger privilegierten Situationen und Ländern unterstützen.

Es ging eben unter anderem darum, die vielen medizinischen Experimente mit Verhütungsmitteln, die vorzugsweise auch in Staaten der sogenannten Dritten Welt gemacht wurden, offenzulegen. Da gab es zum Beispiel eine sehr gute Dia-Serie, die von Hamburger Frauen gemacht wurde. Darin zeigten sie konkret an Beispielen, wie Frauen in anderen Ländern dazu benutzt wurden, die Verhütungsmittel auszuprobieren, die dann bei uns angewandt wurden. 

Gab es in diesem Zusammenhang auch internationale Bündnisse oder Bündnisse mit anderen Initiativen?

1983 gründeten wir die Gruppe Frauen gegen Bevölkerungspolitik in Bochum. Die hat sich mit verschiedensten Formen der internationalen Bevölkerungspolitik und dann eben auch der neugeschaffenen Reproduktions- und Gentechnologien der Pränataldiagnostik auseinandergesetzt. Die rassistischen und eugenischen, aber auch sexistischen Aspekte in diesen Bereichen wurden sehr früh von Frauen und auch in der gemischten Behindertenbewegung thematisiert. Das war damit verbunden, dass Frauen mit Behinderung abgehalten wurden, schwanger zu werden beziehungsweise gezwungen wurden abzutreiben. Das war die Fortsetzung von einem Denken, was seinen Höhepunkt in eugenischen Theorien des Nationalsozialismus fand, wo es explizit um Auslöschung von Behinderten ging.

In Marburg gab es eine sehr starke Gruppe von Frauen mit Behinderung, mit denen wir uns trafen und zusammenarbeiteten. Es wurde zum Beispiel auch ein gemeinsamer Aktionstag überlegt, an dem alle eine bestimmte Aktion gemacht haben. Ein anderes Mal gab es eine Aktion in Düsseldorf: die Begehung einer humangenetischen Beratungsstelle1 . Wir sind da durchgegangen und gerollt und haben Flugblätter verteilt. Es haben Rollstuhlfahrerinnen und sogar auch Männer mitgemacht. Oder aus einem Krankenhaus in Hamburg wurden Akten geklaut und dann veröffentlicht. Darin war ganz klar ersichtlich, wer die Ärzte waren, die auch für die Kontinuität eines nationalsozialistischen und für ein bestimmtes eugenisches Gedankengut standen.

Hatten solche Aktionen Folgen für die Aktivist*innen oder die Bewegung?

Ich denke, diese Aktionen führten zu einer Kriminalisierung der Bewegung. Im Dezember 1987 wurden nämlich sehr viele Wohnungen von einzelnen Frauen und auch von Projekten hier im Ruhrgebiet, in Köln und auch in Hamburg durchsucht. Es war das erklärte Ziel, Frauen zu finden, die etwas gegen humangenetische Beratungsstellen unternommen hatten.

Für uns war klar: Das ist eine Form von staatlicher Repression, aber wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir schauen weiterhin auf diese Themen. Wir wollen internationale Bevölkerungspolitik kritisieren, auch die Frauen aus den betroffenen Ländern. Und wir wollen darüber mehr wissen. Dann haben wir 1988 einen großen Kongress in Frankfurt am Main organisiert. Wir, das sind die Frauen gegen Bevölkerungspolitik Bochum, das Gen-Archiv aus Essen, der Verein Sozialwissenschaftliche Theorie und Praxis für Frauen in Köln, Frauen aus Marburg und Frauen aus Frankfurt. Es kamen über 2.000 Frauen aus verschiedenen Kontinenten zusammen, auch als Referentinnen und natürlich Frauen mit Behinderungen, die Arbeitsgruppen geleitet haben. Es gibt eine Dokumentation, in der das sehr schön nachzulesen ist und in der auch die Diskussionen festgehalten sind.

Auch an den Universitäten organisierten und vernetzten sich autonome Frauen. Viele der damaligen Frauen-Infos und Frauenzeitungen griffen die Thematik einer kritischen Auseinandersetzung mit den Reproduktions- und Gentechnologien auf. Hier die erste Ausgabe der Frauen-Info des Autonomen Frauen- und Lesbenreferats der RUB unter dem neuen Namen "Emanzen Express", Sommersemester 1986.

Gab es noch weitere euch wichtige Themen mit Bezug auf den § 218?

Ein noch ganz wichtiges Thema war der Blick darauf, was hier im eigenen Land passiert. Anfang der 1980er Jahre haben sogenannte Lebensschützer ganz enorm damit begonnen, sich zu organisieren und öffentlich zu werden. Wir haben das verfolgt. Wir sind dann in die Kirchen gegangen, haben die Blättchen dort genommen und uns angeguckt, was die für eine Politik machen oder auch planen. 1984 wurde beispielsweise ein sogenannter Sühnegottesdienst in der größten Kirche Bonns – der damaligen Bundeshauptstadt – angekündigt. Dagegen wollten wir als Bochumer Gruppe etwas unternehmen und haben Transparente gemalt. Noch bevor wir ankamen, fand dort vormittags der Sühnegottesdienst statt. Irgendwie ist es anderen Frauen vorab gelungen, dort einen Kassettenrekorder mit einer Zeitschaltuhr zu installieren, sodass während des Gottesdienstes auf einmal das Lied „Kann denn Liebe Sünde sein“ ertönte.

Als wir dann ankamen, waren natürlich alle bereits in vollem Aufruhr. Kaum hatten wir unsere Transparente entrollt, wurden wir von der Polizei einkassiert und sechs oder sieben Frauen auf die Polizeiwache gefahren. Daraus entstanden dann Prozesse, weil uns vorgeworfen wurde, wir hätten eine öffentliche Versammlung erstürmt, Gewalt ausgeübt und die Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Nach der Verurteilung in erster Instanz sind wir in die zweite gegangen und wurden freigesprochen: Es war zu offensichtlich, dass die Polizei Lügengeschichten erzählt und sich dabei auch in Widersprüche verstrickt hatte. Das war dann nicht mehr zu halten. Darüber gibt es auch eine schöne Dokumentation.

Das feministische Archiv ausZeiten wurde 1995 nach einer mehrjährigen Aufbauarbeit als ein Projekt der autonomen Frauen/Lesbenbewegung gegründet. Der heutige Bestand umfasst umfangreiche Sammlungen, u.a. mit Fokus auf die Ruhrgebietsregion oder die Nachlässe (über-)regionaler feministischer Gruppen. ausZeiten ist Mitglied im i.d.a.-Dachverband.

Stand: 17. Mai 2021
Lizenz (Text)
Verfasst von
Rita Kronauer

geb. 1953, studierte Psychologie in Bochum, arbeitete u.a. im Frauenhaus Dortmund, leitete Selbstverteidigungskurse für Frauen und war bis 2004 als Redakteurin der IHRSINN tätig. Aktuell ist sie Mitarbeiterin bei ausZeiten e.V. – Bildung, Information, Forschung und Kommunikation für Frauen in Bochum.

Empfohlene Zitierweise
Rita Kronauer (2021): „Wir wollten keine Reformen“, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/angebote/dossiers/218-und-die-frauenbewegung/wir-wollten-keine-reformen
Zuletzt besucht am: 26.04.2024
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Rechteangabe
  • Rita Kronauer
  • Digitales Deutsches Frauenarchiv
  • CC BY 4.0

Fußnoten

  • 1Humangenetische Beratungsstellen beraten bei Erbkrankheiten in der Familie. Darüber hinaus waren sie die ersten, die eine pränataldiagnostische Beratung angeboten haben.