Annemarie Schönherr Geboren am in Zörbig Gestorben am in Potsdam

Über Annemarie Schönherr

Annemarie Schönherr besitzt eine zentrale Bedeutung für das Entstehen einer feministischen Theologie in der DDR, weil sie feministische und theologische Debatten in die DDR importierte, jedoch für ihren eigenen Kontext konkretisierte und aktivistisch umsetzte. Sie war eine Visionärin einer gerechten Weltgesellschaft.

Leben

Annemarie Schönherr war eine deutsche Theologin, evangelische Pfarrerin und feministische Aktivistin. Sie wurde am 14. August 1932 in Zörbig, Landkreis Bitterfeld, Sachsen-Anhalt, als Annemarie Schmidt geboren. Sie verstarb am 21. März 2013 in Potsdam. Die Eltern erzogen die Kinder im atheistischen Umfeld der DDR bewusst kritisch und christlich. Die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges hatten eine große Wirkung auf ihre Entwicklung. Nach dem Abitur nahm sie ein Studium der Evangelischen Theologie in Halle/Saale auf. Ihr Interesse an politischen Zusammenhängen wurde durch die Studierendengemeinde stark bestimmt. Ein Teil ihrer Ausbildung führte sie in das Predigerseminar nach Brandenburg, das Albrecht Schönherr nach dem Modell der antifaschistischen Bekennenden Kirche Dietrich Bonhoeffers in Finkenwalde gestaltet hatte. Die Erfahrungen des Widerstandes der Kirche in einem repressiven Staat waren wichtig für das Selbstverständnis der Kirche in der DDR. Nach dem Studium der Theologie arbeitete sie am Institut für neutestamentliche Forschung der Universität Halle. Sie wurde für zwei Jahre Pfarrerin in der Gemeinde Halle Gesundbrunnen und wirkte kurz als Reisesekretärin der Evangelischen Studierendengemeinden in der DDR.
1963 heiratete sie den verwitweten Theologen Albrecht Schönherr.

Albrecht Schönherr wurde Generalsuperintendent im Sprengel Eberswalde und später Bischof in Berlin-Brandenburg sowie Vorsitzender des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR nach seiner Gründung im Jahr 1969. Entsprechend der damaligen Gesetzeslage im Kirchenrecht für verheiratete Pfarrerinnen musste Annemaries Ordination zur Pfarrerin ruhen. Die Familie musste nach Eberswalde umziehen und in die Berlin-Brandenburgische Landeskirche wechseln. Annemarie Schönherr führte nun den Pfarrhaushalt ihres Mannes und sorgte für drei Kinder.1

Mutmacherin und Vorangeherin: Annemarie Schönherr, MS zur Frauen und Reformationsdekade

Sie erfüllte zahlreiche renommierte Ehrenämter wie die Leitung der Pfarrfrauenarbeit sowohl in der Landeskirche Berlin-Brandenburg als auch in der gesamten DDR von 1965 bis 1988 sowie die Mitgliedschaft im Präsidium des Evangelischen Kirchentages der DDR seit 1969 und dessen Vorsitz von 1990–1999. Nach der friedlichen Revolution in der DDR war sie Mitglied des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentages sowie zwischen 1975 und 1991 Mitglied im Kuratorium der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg. Von 1981 bis 1991 war sie Vorsitzende der Evangelischen Frauenarbeit in der DDR und wirkte in den Jahren 1986 bis 1994 als Mitglied im Koordinierungsausschuss des Ökumenischen Forums Christlicher Frauen Europas.

Kirche und DDR

 

Dokumentation des Annemarie Schönherr Symposiums

In einem Vortrag 2001 mit dem Titel ‚Freiheit in deutsch-deutscher Erinnerung‘ sagte sie, „dass der Zusammenbruch [Deutschlands am Ende des Krieges] auch unsere Befreiung war; dass Deutschland den Krieg zu Recht verloren hatte und dass seine Teilung Folge seiner unermesslichen Schuld war“.2

Die Übergriffe der DDR-Behörden auf aktive Kirchenmitglieder und der Aufstand vom 17. Juni 1953 bewirkten, dass viele Menschen die DDR verließen. Annemarie Schönherr sah ihren Platz in der christlichen Auseinandersetzung mit dem DDR-Staat von innen. Sie forderte, dass die Leben der Menschen in der DDR gewürdigt werden müssten – ein Standpunkt, für den sie sich nach eigenem Empfinden nach der Wende verteidigen musste.
Nach dem Bau der innerdeutschen Grenzanlage 1961 mussten die Menschen und die Kirchen sich eigenständig organisieren. Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR wurde 1969 als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft gegründet, aus der später der auch bei Schönherr umstrittene Slogan ‚Kirche im Sozialismus, nicht neben ihm, nicht gegen ihn‘ hervorging. Insgesamt empfand sie die Gemeinden in der DDR als einzige ideologiefreie gesellschaftliche Enklave.3

Reformatorin der kirchlichen Frauenarbeit in der DDR

Schönherr hatte die Rolle der nachrangigen Pfarrfrau erfahren und sorgte dafür, dass Pfarrfrauen eigene inhaltliche Treffen organisieren konnten.4 Fraueninteressen vertrat sie auch auf dem Evangelischen Kirchentag in der DDR und in der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg. Sie erklärte die Bedeutung: „Ihre Veranstaltungen bildeten so etwas wie eine ‚Ersatzöffentlichkeit‘. Wo sonst konnte man frei unterschiedliche Meinungen austauschen oder über offiziell tabuisierte Themen miteinander sprechen.“5 Zu diesen Themen gehörten auch feministische Fragen, Homosexualität und feministische Theologie. Elisabeth Adler machte als Direktorin der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg einige kritische Debatten möglich. Schönherr war Vorbild für zahlreiche Theologinnen und Feministinnen wie Christiane Markert Wizisła, Friederike von Kirchbach, Angelika Engelmann, Carola Ritter, Ulrike Ernst Auga und andere.

Feministische Theologie

Im März 1981 kamen in der Wohnung von Annemarie und Albrecht Schönherr in Berlin Menschen zusammen, die sich für feministische Theologie interessierten und einen entsprechenden Arbeitskreis bildeten, der für zwei Jahre beim Kirchenbund angesiedelt war und sich auf Einladung Ursula Radkes versammelte. 1987 gründete sich der Arbeitskreis Feministische Theologie, dem Frauen und Lesben aus verschiedenen Landeskirchen angehörten.
In ihren Bibelarbeiten übte Schönherr harsche Kritik an einer patriarchalen Welt, Kirche und Theologie. Sie verstand Jesus als einen Verbündeten, der das Patriarchat außer Kraft setze.6 Für sie war die Frauenfrage nie von der Frage nach sozialer Gerechtigkeit für alle Menschen zu trennen.7

Ökumenisches Forum Christlicher Frauen in Europa

Dr. Elisabeth Raiser, Vorsitzende der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, beschreibt eindrücklich das Engagement Schönherrs als langjähriges Mitgliedes im Koordinierungsausschuss und im Ausschuss für Gerechtigkeit und Frieden des Ökumenischen Forums Christlicher Frauen in Europa (ÖFCFE) angesichts der 20 Millionen sowjetischen Kriegstoten im Zweiten Weltkrieg und die berührenden Versöhnungserlebnisse mit russischen Partnerinnen auf ökumenischen Besuchsreisen.8

Im ökumenischen Kontext waren Schönherrs wichtigste Themen Versöhnung und Frieden. Sie hielt dazu einen viel beachteten Hauptvortrag bei der 1. Europäischen Ökumenischen Versammlung in Basel 1989. Im Europäischen Haus sollte eine Ordnung entwickelt werden, die die Frage des Friedens als die höchste Priorität anerkannte. Frauen müssten das Machtstreben der Männer unterbinden, Verantwortung als selbstständig denkende Menschen übernehmen und Einzug in alle gesellschaftlichen, politischen und kirchlichen Schaltstellen halten.9 In zahlreichen Bibelarbeiten und Predigten nahm sie das Thema Versöhnung und Frieden auf.10

Sie verband soziale mit kolonialer und neokolonialer Kritik des Westens und auch der christlichen Kirchen im Missionsprozess. In einer Meditation zu den drei großen Themen des konziliaren Prozesses Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung schrieb sie: „Als europäische Christen und Christinnen sind wir in die ungerechten Strukturen auf unserem Kontinent und in der ganzen Welt unlösbar verstrickt […]. Die Aufspaltung der Welt in reiche Industrienationen und eine arme Zweidrittelwelt hat mit der engen Verquickung von Mission und Kolonialismus zu tun.“11 Dabei war es ein zentrales Anliegen, eine Gender-Perspektive in den konziliaren Prozess einzubringen.

Feministisch-theologische Basisfakultät

Sie leitete nicht nur in der DDR feministisch-theologische Werkstätten, sondern leitete gemeinsam mit Bärbel Wartenberg-Potter auch die Feministisch-Theologische Basisfakultät beim Kirchentag und in Leipzig 1997. Es sollte ein Ort kreativer feministischer und geschlechtersensitiver Theologie sein und die Lücke füllen, die durch das Versäumnis der meisten Theologischen Fakultäten in Deutschland entstanden war und in denen die Theologie und Geschlechterforschung bis in das 21. Jahrhundert hinein keinen Platz als Fach hat.12

Sozialismus am Ende oder an einer Wende – nach 1989

Sozialismus am Ende oder an einer Wende?, in: Neue Wege. Beiträge zum Christenrum und Sozialismus, 86. Jg.

Deutlich kritisierte Schönherr nicht nur die Fehler des real existierenden Sozialismus, sondern auch die tödlichen Folgen des Kapitalismus, in dem die Schere zwischen Arm und Reich sich verbreitert und auf Kosten der Zweidrittelwelt gelebt würde. Eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft von Solidarität aller mit allen als Alternative stehe noch aus.13

Flüchtlingsproblematik im 21. Jahrhundert

Annemarie Schönherr und Erika Henkys demonstrierten mit dem Jesuiten-Flüchtlingsdienst vor dem Gebäude der Abschiebehaft in Berlin Köpenick, besuchten Gefangene und betreuten migrantische Menschen. Das Schicksal von geflüchteten Menschen hatte sie bereits in der Nachkriegszeit in Zörbig erlebt und die Ungerechtigkeiten, die die Menschen bis in die Gegenwart erleiden, forderten sie zum Handeln auf.14

Annemarie-Schönherr-Preis

In Anerkennung des Wirkens wurde am 29. März 2014 der Annemarie-Schönherr-Preis für gelungene Frauenarbeit in Gemeinden und Kirchenkreisen, dotiert mit 500 Euro, ausgelobt.15

Stand: 12. August 2022
Verfasst von
Prof. Dr. Ulrike E. Auga

arbeitet transdisziplinär in der Geschlechterforschung, der Kultur- und Religionswissenschaft sowie Theologie. Sie wurde in Ostberlin geboren und hatte aus politischen Gründen zunächst Studienverbot. Im Kontext des Widerstandes gegen die DDR Diktatur entstand ihr Interesse an sozialen Bewegungen, Feministischer und Gender Kritik. Sie entwickelte ihre postkolonialen, postsäkularen und queeren Fragestellungen in Südafrika, Mali, Israel und den Palästinensischen Autonomiegebieten weiter. Sie ist Präsidentin der International Association for the Study of Religion and Gender (IARG). Zahlreiche Publikationen und Preise. www.ulrikeauga.com

Empfohlene Zitierweise
Prof. Dr. Ulrike E. Auga (2022): Annemarie Schönherr, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/annemarie-schoenherr
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Zitate von Annemarie Schönherr

Biografie von Annemarie Schönherr

Geburt in Zörbig

1961 - 1963

Pfarrerin in der Gemeinde Halle-Gesundbrunnen

1963

Heirat mit dem evangelischen Pfarrer (und späteren Bischof) Albrecht Schönherr

1965 - 1988

Leitung der Pfarrfrauenarbeit sowohl in der Landeskirche Berlin-Brandenburg als auch in der gesamten DDR

1969 - 1990

Mitgliedschaft im Präsidium des Evangelischen Kirchentages der DDR

1975 - 1991

Mitglied im Kuratorium der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg

1981 - 1991

Vorsitzende der Evangelischen Frauenarbeit in der DDR

1986 - 1994

Mitglied im Koordinierungsausschuss des Ökumenischen Forums Christlicher Frauen Europas

1990 - 1999

Vorsitz im Präsidium des Evangelischen Kirchentages

Tod in Potsdam

Fußnoten

  • 1Raiser, Elisabeth: Mutmacherin und Vorangeherin: Annemarie Schönherr, MS zur Frauen und Reformationsdekade, Berlin 2014, S. 1–10, hier S. 1 ff.
  • 2Schönherr, Annemarie: Freiheit in deutsch-deutscher Erinnerung, 15.6.2001 (unveröffentlicht), in: Hopstock, Waltraut: Annemarie Schönherr als Reformatorin in der kirchlichen Frauenarbeit in der DDR, in: Dokumentation des Annemarie Schönherr Symposiums, 29.2.2014, EKBO Berlin, S. 3–6, hier S. 4, Zugriff am 28.2.2018 unter http://www.efid.adminkerygma.de/upload/custom/DokumentationFrauenkonferenz2014.pdf.
  • 3Raiser, Elisabeth: Mutmacherin und Vorangeherin, S. 1–10, hier S. 2 f.
  • 4Hopstock, Waltraut: Annemarie Schönherr als Reformatorin in der kirchlichen Frauenarbeit in der DDR, S. 3–6, hier S. 4.
  • 5Schönherr, Annemarie: Freiheit in deutsch-deutscher Erinnerung, 15.6.2001 unveröffentlicht, in: Ebenda, S. 4.
  • 6Vgl. Langer, Heidemarie et al.: Wir Frauen in Ninive. Gespräche mit Jona, Stuttgart 1984. Darin Annemarie Schönherr: Kein Abschied von Jona, S. 65–71; Raiser, Elisabeth / Schönherr, Annemarie: Sei gegrüßt und lebe. Bibelarbeit zum Buch Rut beim Kirchentag 1993 in München, in: Kirchentagstaschenbuch GTB 1993, S. 53–57; Krusche, Günter, in Zusammenarbeit mit Annemarie Schönherr (Hg.): ... und ich will bei euch wohnen, Berlin/Altenburg 1987.
  • 7Raiser: Mutmacherin und Vorangeherin, S. 6; vgl. auch Auga, Ulrike: ,Stiefschwestern‘. Zum Verhältnis feministisch-theologischer Ansätze in Ost- und Westdeutschland, in: Auga, Ulrike et al. (Hg.): Das Geschlecht der Wissenschaften. Zur Geschichte von Akademikerinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2010, S. 303–326.
  • 8Raiser: Mutmacherin und Vorangeherin, S. 7 ff; vgl. dies.: Nachruf Annemarie Schönherr, Zugriff am 28.2.2018 unter http://oekumeneforum.de/nachruf.html.
  • 9Vgl. Schönherr, Annemarie: Frieden in Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung. Frieden, in: Frieden in Gerechtigkeit. Die offiziellen Dokumente der Europäischen Ökumenischen Versammlung 15.–21. Mai 1989 in Basel, Basel 1989, S. 288–299.
  • 10Vgl. dies: Predigt bei der Schlussversammlung des Kirchentags in Düsseldorf 1985 in: Bonin, Konrad von (Hg.): Deutscher Evangelischer Kirchentag Düsseldorf 1985, Stuttgart 1985, S. 832 ff; dies.: Jakob und Esau - eine lang verdrängte Schuld. Bibelarbeit zu 1. Mose 32 und 33, in: Versöhnung, Aktuelle Aspekte eines biblischen Themas, Berlin/Altenburg 1990, S. 26–40.
  • 11Dies., in: Bulletin des Ökumenischen Forums Christlicher Frauen in Europa (ÖFCFE), Privatdruck 1988, ohne Seiten, in Raiser: Mutmacherin und Vorangeherin, S. 6 f.
  • 12Vgl. Raiser: Annemarie Schönherr, in: Dokumentation des Annemarie Schönherr Symposiums, S. 7–11, hier S. 11, Zugriff am 28.2.2018 unter http://www.efid.adminkerygma.de/upload/custom/DokumentationFrauenkonferenz2014.pdf.
  • 13Vgl. Schönherr, Annemarie: Sozialismus am Ende oder an einer Wende?, in: Neue Wege. Beiträge zum Christenrum und Sozialismus, 86. Jg, 1992, H. 4, S. 122–125.
  • 14Vgl. Hopstock, Waltraut: Annemarie Schönherr als Reformatorin in der kirchlichen Frauenarbeit in der DDR, in: Dokumentation des Annemarie Schönherr Symposiums, 29.2.2014, EKBO Berlin, S. 3–6, hier S. 5 f, Zugriff am 28.2.2018 unter http://www.efid.adminkerygma.de/upload/custom/DokumentationFrauenkonferenz2014.pdf.
  • 15Annemarie-Schönherr-Preis, Zugriff am 28.2.2018 unter http://akd-ekbo.de/frauenarbeit/annemarie-schoenherr-preis/.

Ausgewählte Publikationen